19. April 2024

Toni Brunner, Blochers Kuh und der Menzi Muck von Paul Accola

Seit der Pandemie haben die Vorbehalte gegen die Lösungen des akademisierten Berner Politsystems zugenommen. Der Bildungsgraben wird breiter. Die SVP schickt ihr Spitzenpersonal deshalb regelmässig ins Toggenburg. Christina Neuhaus schreibt zwar über die SVP, packt in ihrem Artikel aber viele interessante Informationen über die Entwicklung unseres Bildungssystems ein, welche es wert sind, im Condorcet-Blog gelesen zu werden.

Christina Neuhaus arbeitet seit 2001 als Redaktorin für die NZZ.

Toni Brunners Held heisst Accola. Paul Accola. In seiner jüngsten Kolumne in den Regionalzeitungen des CH-Media-Verbundes hat der ehemalige SVP-Präsident dem ehemaligen Top-Skirennfahrer aus Davos ein kleines Denkmal gesetzt. Brunners Erzählung beginnt mit der Schilderung der Besitzverhältnisse eines Ferienhauses in seiner Toggenburger Nachbarschaft. Einst gehörte es einem bekannten Zürcher Gastronomen, später dem ehemaligen Skirennfahrer Peter Müller aus Adliswil. Einem, laut Brunner, fast talentfreien, aber willensstarken Phänomen aus dem Flachland.

Accola, der in den neunziger Jahren in fast allen Disziplinen Weltklasse war, hat kein Ferienhaus im Toggenburg. Dafür betreibt der Davoser ein Unternehmen für Baggerarbeiten. In Brunners Erzählung kraxelt Accola mit dem Menzi Muck die Toggenburger Steilhänge hoch, um in Peter Müllers Garten ein Biotop anzulegen. Brunners Ode an das Ski-Ass endet mit den Worten: «Für mich ist er der grosse Paul. An seiner Bescheidenheit könnte sich manch einer eine Scheibe abschneiden. Und er trug nie im Leben eine Krawatte.»

Der Held der SVP heisst Brunner. Toni Brunner. Er ist der Einzige in der Partei, der die Strahlkraft Christoph Blochers besitzt. In seinem Gasthaus im Toggenburg bewirtet er an schönen Tagen Hunderte von fröhlichen Wanderern und abends häufig SVPler aus allen Ecken des Landes. Seine «Sonne», sein «Haus zur Freiheit», ist die informelle Schaltzentrale der Partei. Was Accola für Brunner ist Brunner für die SVP. Ein Held. Nur dass Toni Brunner in seinem früheren Leben als Politiker Krawatte trug.

 

Viele von Brunners Kühen gehören SVP-Grössen, Thomas Aeschis Kuh heisst Nebraska

Toni Brunner ist nicht nur Wirt, er ist der erfolgreichste Züchter von Eringerkühen ausserhalb des Kantons Wallis. In diesem Sommer wurde eine seiner Kühe zur Königin gekürt. Bereits letztes Jahr errang die Kuh Tigresse den Ehrentitel in der zweiten Kategorie.

Tigresse gehört eigentlich Walter Frey, einer der Stützen Blochers seit dem EWR-Abwehrkampf. Nach seinem Rücktritt als Präsident der Stadtzürcher SVP wirkte er als Vizepräsident, Mentor, Gönner und Sponsor der Partei. Viele von Brunners Kühen gehören SVP-Grössen. Thomas Aeschis Kuh heisst Nebraska. Christoph Blocher besitzt ein Kalb mit Namen Syrah.

Walter Frey ist der grösste Automobilhändler Europas. Christoph Blocher (Dr. Christoph Blocher) ist der Chef eines der vermögendsten und erfolgreichsten Polit- und Unternehmer-Clans der Schweiz. Thomas Aeschi, der Chef der SVP-Bundeshausfraktion, besitzt einen Abschluss in Public Government der Harvard Kennedy School in Cambridge. Die Teilhabe an Toni Brunners Kuh-Hotel verbindet sie mit den Paul Accolas der Schweiz. Den krawattenlosen Helden, die mit ihren Menzi Mucks das Land gestalten.

Noch immer weist die SVP-Bundeshausfraktion mit knapp 34 Prozent den tiefsten Anteil an Mitgliedern mit Hochschulabschluss auf.

Die Erdung ist nötig. Denn ohne Studierte und Arrivierte geht es auch in der SVP nicht mehr. Sogar die ehemalige Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei sieht sich gezwungen, auf die zunehmende Akademisierung der Politik zu reagieren und Figuren wie Roger Köppel nachzuziehen, der seine Lizenziatsarbeit über Carl Schmitt schrieb.

Doch noch immer weist die SVP-Bundeshausfraktion mit knapp 34 Prozent den tiefsten Anteil an Mitgliedern mit Hochschulabschluss auf. Bei der SP und der Mitte haben vier von fünf Parlamentariern einen akademischen Titel; bei den Grünen sind es 70 und bei der FDP 57 Prozent. Die höchste Akademikerdichte hat mit über 87 Prozent die Fraktion der Grünliberalen. Bei der Wählerschaft der sechs Parteien sind die Verhältnisse ähnlich.

Parallel zu diesem Bildungsgraben verläuft der Stadt-Land-Graben. Auf dem Land hat die Mehrheit der Stimmbevölkerung keinen Hochschulabschluss und wählt in der Regel bürgerlich. Die Städte sind seit Jahren in der Hand von links-grünen Akademikern. Im linken Bern haben über 40 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner einen Hochschulabschluss, im ziemlich linken Zürich über 50. Im Schweizer Durchschnitt sind es knapp 30 Prozent.

Der amerikanische Philosoph Michael Sandel beschreibt in seinem Buch «Vom Ende des Gemeinwohls» eine akademische Elite, die ihre Verdienste überschätzt und ihren Way of Life rücksichtslos auf dem Buckel der weniger gut Ausgebildeten austrägt.

SVP-Plakat bei der EWR-Abstimmung.

Die SVP bewirtschaftet diese Gräben gezielt: Bereits bei der EWR-Abstimmung legten 78 Prozent der Akademiker ein Ja ein, aber nur 45 Prozent der Stimmberechtigten mit obligatorischem Schulabschluss. Die Nein-Sager wohnten in der Regel auf dem Land, die Befürworter in der Stadt. Das Nein am 6. Dezember 1992 wurde zu Christoph Blochers grösstem Triumph gegen die «classe politique» und die akademische Elite in der Schweiz. Daran will er nun anknüpfen. Mit Pro Schweiz, der Nachfolgeorganisation der Auns, hat Blocher kürzlich eine Organisation gegründet, die den Kampf gegen die Internationalisierung und Brüssel wieder intensivieren soll.

Auch in der Schweiz wird der Graben zwischen Akademikern und Nichtakademikern grösser

Die Akademisierung und Urbanisierung der Gesellschaft ist keine Schweizer Eigenheit. Der englische Sachbuchautor David Goodhart («The Road to Somewhere») schreibt von einer kognitiven Klasse, die immer mehr Macht und Einfluss gewinne. Der amerikanische Philosoph Michael Sandel beschreibt in seinem Buch «Vom Ende des Gemeinwohls» eine akademische Elite, die ihre Verdienste überschätzt und ihren Way of Life rücksichtslos auf dem Buckel der weniger gut Ausgebildeten austrägt.

Die Wählerinnen und Wähler der SVP weisen sich zwar seltener über einen Hochschulabschluss aus als diejenigen der Grünen, aber sie verdienen im Schnitt deutlich mehr.

In der Schweiz sind die sozialen Unterschiede nicht so gross wie in England oder in den USA. Die Wählerinnen und Wähler der SVP etwa weisen sich zwar seltener über einen Hochschulabschluss aus als diejenigen der Grünen, aber sie verdienen im Schnitt deutlich mehr. Es sind meist keine Arbeiterinnen, sondern erfolgreiche Gewerbetreibende.

Doch auch in der Schweiz wird der Graben zwischen Akademikern und Nichtakademikern grösser. Frauen und Männer mit Hochschulabschluss prägen nicht nur das eidgenössische Parlament, sie dominieren auch die öffentlichen Verwaltungen und die Medien. Die gendergerechte Kunstsprache, die in weiten Teilen des Landes kaum jemanden interessiert, ertönt mittlerweile auch beim öffentlichrechtlichen Radio und Fernsehen. Basler und Berner Biologen erklären Walliser Schafzüchtern, was sie vom Wolf zu halten haben, und die Reform der Berufsbildung liegt in den Händen von Akademikern, die berufsorientiertes Fachwissen durch «Handlungskompetenzen» ersetzen möchten.

Die direkte Demokratie, das Milizsystem und der Föderalismus bremsen den Durchmarsch der städtischen Eliten.

Ob im Gesundheitswesen, in der Bildungspolitik oder in den Sozialinstitutionen: Die Reformen gehen seit Jahren in Richtung Akademisierung. Diese wird vorangetrieben von den vielen Hochschulabsolventen, die in Bern Politik für andere Hochschulabsolventen machen. Dass die Entwicklung in der Schweiz nicht so rasant voranschreitet wie in anderen europäischen Ländern, liegt nicht nur an der hervorragenden Berufsbildung, sondern auch am politischen System. Die direkte Demokratie, das Milizsystem und der Föderalismus bremsen den Durchmarsch der städtischen Eliten. Volksinitiativen und Referenden bringen Themen zur Sprache, die im Parlament sonst ignoriert würden.

An der Urne zeigt sich allerdings auch immer öfter, wie stark Stadt und Land, Akademiker und Nichtakademiker auseinanderdriften. Das Scheitern des CO2-Gesetzes und der beiden Trinkwasserinitiativen beispielsweise hatte viel mit den Bauern zu tun. Umfragen zeigten, dass die breit orchestrierte Kampagne des Bauernverbandes gegen die «extremen Agrarinitiativen» Menschen an die Urne brachte, die seit Jahren nicht mehr an einer Abstimmung teilgenommen hatten. Die Bauern schafften es, dass sich ganze Dörfer mit ihnen solidarisierten. Noch ausgeprägter war der Bildungsgraben während der Pandemie. Stimmberechtigte ohne höhere Bildung lehnten das Covid-Zertifikat und andere Restriktionsmassnahmen häufiger ab als solche mit Matura oder Hochschulabschluss.

Seit der Pandemie haben die Vorbehalte gegen die Lösungen, die das Berner Politsystem präsentiert, zugenommen. Behördenvorlagen werden immer häufiger abgelehnt. Gleichzeitig gehen Menschen an die Urne, die sich vor der Pandemie nicht gross für Politik interessierten. Bei stark polarisierenden Vorlagen sind es bis zu 10 Prozent der Wählerinnen und Wähler.

Die SVP wäre nicht die SVP, würde sie aus dem Unbehagen über die Kulturkampfpolitik der städtischen Intelligenz nicht Kapital schlagen wollen.

In einem ausgleichenden politischen System wie der Schweiz ist die Gefahr, dass sich die Gesellschaft in Zufriedene und weniger Zufriedene spaltet, kleiner als in Ländern mit weniger direktdemokratischer Mitsprache. Die populistische Gegenbewegung fällt weniger heftig aus. Doch die SVP wäre nicht die SVP, würde sie aus dem Unbehagen vieler Nichtakademiker über die Kulturkampfpolitik der städtischen Intelligenz nicht Kapital schlagen wollen. Der Kampf gegen die «absurde Gender-Politik», die auf dem Land bis vor kurzem niemanden interessiert hat, hat es deshalb ins neue Parteiprogramm geschafft.

Die SVP weiss um ihren Akademikerüberhang an der Spitze. Deshalb schickt sie ihr Kaderpersonal nicht ins Kongresshaus, sondern zu Toni Brunner. An einen Ort, wo man nur mit dem Auto hinkommt und Kellnerinnen noch Serviertöchter heissen. Man kann über die inszenierte Landliebe der Freys und Aeschis lachen. Doch von allen Bundesratsparteien hat die SVP seit den nationalen Wahlen die wenigsten Stimmen verloren. Ein regelmässiges Bier in der «Sonne» zahlt sich offenbar aus.

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2 Kommentare

  1. Wie üblich bei Christina Neuhaus ein Schuss ins Schwarze, und dies auf journalistisch hohem Niveau mit dem unverwechselbaren leichten Sarkasmus gewürzt. Die Linkslastigkeit der meinungsmachenden Eliten in der staatlichen Verwaltung, in den Medien, im Bildungswesen und in der Kultur zeigt sich regelmässig in Volksabstimmungen, siehe VOX- und VOTO-Analysen. Akademisch Gebildete haben sowohl dem Energiegesetz (Auftakt zur illusionären Energiewende) wie auch dem CO2-Gesetz mit den klar höchsten Ja-Anteilen (rund 80 bzw. 70%) aller Bildungskategorien zugestimmt. Das hat mit einem besseren Verständnis der Sachlage nichts zu tun, sondern mit dem Drang zur Zugehörigkeit zu einer Klasse mit moralisch höheren Werten.

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