24. April 2024

Der Esel und der Kluge – über die (un)heimliche Macht minoritärer Sturheit

In den Debatten um die grassierende Woke-Kultur fällt immer wieder auf, welche grosse Macht kleine Minderheiten auf Mehrheiten auszuüben vermögen. Oft geben die vielen den wenigen um des lieben Friedens willen nach. Wie lange kann das gutgehen? Von Eduard Käser, Autor der reformkritischen Broschüre “Einspruch”, durfte man schon mehrere Gastbeiträge lesen.

Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig.

Die liberale Demokratie feiert sich gern als Hort der Meinungsvielfalt. Zumal Minderheiten fänden in diesem politischen Raum Gelegenheit zur Äusserung und Verbreitung ihrer Positionen. Aber diese Offenheit hat ihre Tücke. Wir beobachten ein irritierendes Paradox: In einer «nachgiebigen» Gesellschaft zahlt sich Unnachgiebigkeit aus. In steigender Kadenz erfahren wir, wie Minderheiten ihre Positionen gegenüber einer Mehrheit durchsetzen.

Im Konzert einer weissen Reggae-Band fühlen sich einige wenige Personen «unwohl» angesichts der Rastalocken eines Musikers, und schon wird die Darbietung beendet. Das ganze Cancel-Unwesen beruht vermutlich auf dem Aktivismus einer Handvoll Eiferer in den Social Media, deren Gnadenlosigkeit nur durch ihre Geistlosigkeit übertroffen wird. Dahinter verbirgt sich eine tiefere soziale Dynamik.

Schweizer Redensart

Der streitbare Publizist Nassim Taleb nennt sie in seinem Buch «Skin in the Game» (2018) «verborgene Asymmetrie im alltäglichen Leben». Damit meint er etwas, das in einer Schweizer Redensart sehr schön zum Ausdruck kommt: «Der Gschiider git naa, der Esel bliibt staa» – «der Kluge gibt nach, der Esel bleibt stehen». Ich gebrauche den Begriff «Esel» hier nicht wertend, sondern verstehe unter ihm schlicht Unnachgiebigkeit, die keine Wahlmöglichkeit kennt oder anerkennt. Der Kluge hat immer Wahlmöglichkeiten, und er passt sich den Umständen an. Unnötig zu betonen, dass es sich um «Karikaturen» handelt. In jeder Person erscheint ein individueller Phänotyp aus Esel und Klugem.

Ein demokratischer Betrieb braucht Regeln als gemeinsamen Verhaltensnenner für alle. Und dafür muss jeder Einzelne kleine Kompromisse eingehen.

Asymmetrie bedeutet: Es braucht oft nur eine kleine Anzahl Esel, um ziemlich grosse kollektive Effekte – auch unter Klugen – zu bewirken. Dieses Phänomen ist unabhängig vom Meinungsinhalt, ihm liegt ein eigentümliches Muster kollektiven Verhaltens zugrunde, der sogenannte Skaleneffekt.

Nassim Taleb: Die Unnachgiebigkeit eines einzelnen Esels steuert die Dynamik in grossem Ausmass.

Ich wandle hier ein Beispiel von Taleb leicht ab. Angenommen, in einer Familie gibt es einen unnachgiebigen Veganer. Um die häusliche Harmonie nicht unnötig zu verkomplizieren, stellt die Familie das Menu auf vegan um. Der Vorgang kann sich in grösserem Ausmass wiederholen. Die Familie wird zu einer Party mit Nachbarn eingeladen. Da sie für ihre Esssitte bekannt ist und man sie nicht als «Esel» diskriminieren möchte, bietet der Gastgeber nur veganes Essen an.

Den anderen Gästen macht das wenig aus, womöglich finden einzelne sogar Geschmack an dieser Esspräferenz, ohne Esel zu werden. Auf einer Skala höher passt der lokale Einzelhändler sein Angebot der steigenden Nachfrage nach veganen Produkten an. Möglicherweise beeinflusst das auch den Grosshandel. So vermag die Unnachgiebigkeit eines einzelnen Esels die Dynamik in grossem Ausmass zu steuern. Weil er in eine nachgiebige Mehrheit «eingebettet» ist.

Ablösung von der Mitte

Die Nachgiebigkeit in einer Demokratie manifestiert sich im freien Meinungsaustausch. Das heisst, es gibt eine – vermutlich normale – Verteilung der Meinungen. In der Mitte die Mehrheit der gemässigten Meinungen, gegen aussen Abweichungen davon. Darunter tummeln sich natürlich immer auch extreme minoritäre Meinungen. Im Namen der Freiheit können sie die Ausbreitung von Radikalität fördern. Radikal in dem Sinn, dass man nicht nur die anderen Meinungen, sondern auch die Andersmeinenden ablehnt. Das führt zu Spannungen.

Erreicht die Spannung einen bestimmten Wert, steigt die Radikalisierung von Minderheiten sprunghaft an.

Komplexitätsforscher versuchen schon seit einiger Zeit, diese Dynamik mit quantitativen Methoden zu beschreiben. Bei allen Vorbehalten gegenüber solchen Simulationen im sozialen Vakuum ermöglichen sie uns doch, Muster in der Meinungsdynamik zu erkennen. Ein Modell von Mathematikern der University of California in Los Angeles zeigt zum Beispiel, wie Radikalität mit zunehmender Meinungsspannung wachsen kann. Erreicht die Spannung einen bestimmten Wert, steigt die Radikalisierung von Minderheiten sprunghaft an.

Verbunkerung in der eigenen Meinung, Gesinnungsinzest, Gesprächsabbruch und der Schritt zur politischen Aktion.

Erneut ist im Modell eine Asymmetrie erkennbar: Radikalisierung lässt sich, selbst wenn die Situation sich entspannt, schwer rückgängig machen. Der entscheidende Punkt ist die Ablösung von der Mitte. Die Folgen sind nur zu gut bekannt: Verbunkerung in der eigenen Meinung, Gesinnungsinzest, Gesprächsabbruch und der Schritt zur politischen Aktion.

Der Faktor «Extrawurst»

Hinzu kommt ein weiterer Faktor: die «Extrawurst». Ein demokratischer Betrieb braucht Regeln als gemeinsamen Verhaltensnenner für alle. Und dafür muss jeder Einzelne kleine Kompromisse eingehen. Dem flexiblen Klugen macht der Kompromiss wenig aus, der kompromisslose Esel verlangt dagegen eine Regelung, die auf ihn zugeschnitten ist. Die Ausnahme will die Regel sein.

Einzelne Esel und ihr störrisches Verhalten übersehen wir, hingegen entwickeln sie ab einer gewissen Schwellenzahl eine Durchschlagskraft, die wir nicht ignorieren können. Die Asymmetrie, die dadurch entsteht, verschafft sich heute oft im Murren über die unverhältnismässige Rücksicht auf Minderheiten und deren «Extrawürste» Gehör. Behindertengerechte Einstiege im öffentlichen Verkehr sind ja okay, aber muss man gleich ein Gesetz den Bedürfnissen einer Minderheit von Transpersonen anpassen . . .

Hier zeigt sich die Kehrseite der Diversität. In einer heterogenen offenen Gesellschaft wächst die Zahl der Minderheiten proportional zur Zahl der Identitätsmerkmale, die man sich zuschreibt oder zugeschrieben erhält. Aber Identität hat durchaus einen diskriminatorischen Hang. So gibt es ja innerhalb des Feminismus Abgrenzungsbewegungen, die in neue Minoritätenprobleme münden. Die sogenannten «Trans ausschliessenden Radikalfeministinnen», die Terfs («trans exclusionary radical feminists») lehnen Trans-Frauen ab. Man spricht bereits von «Trans-Misogynie». Mehr noch, es gibt die Sexarbeiterinnen ausschliessenden Radikalfeministinnen, die Swerfs («sex worker exclusionary radical feminists»). Was für Untergattungen von -erfs kommen noch?

«Epistemische Sturheit»

Verdient der Esel seine Freiheit? Müsste man diese Freiheit nicht von einer «Kompetenz» der Nachgiebigkeit abhängig machen? Die Fragen sind hässlich, weil sie so etwas wie ein intellektuelles Brevet zu verlangen scheinen. Wenn bisher von der sozialen Dynamik die Rede war, so sollte man also den Einzelnen nicht übersehen. Wie gesagt, in uns allen stecken der Kluge und der Esel. Die gegenwärtige Lage begünstigt den Esel, denn er findet für seine Meinung genügend Plattformen und Enklaven im Netz.

Die Demokratie muss die«permanent» Ungehörten, Erfolglosen, Randständigen, Ausgegrenzten einschliessen.

Die Philosophen Steven Nadler und Lawrence Shapiro verfechten in ihrem Buch «When Bad Thinking Happens to Good People» (2019) einen erzieherischen Ansatz. Sie führen den Einfluss von minoritären extremen Meinungen auf ein Denkdefizit zurück: «epistemische Sturheit». Und sie sehen die Therapie in «gutem», das heisst vor allem philosophisch geschultem Denken.

Das klingt nun doch ziemlich nach patronisierendem Gutmeinertum, unter Anleitung des Oberlehrers Sokrates. Ohnehin schiesst die Denkratgeberliteratur üppig ins Kraut. Ob sie von Eseln gelesen wird? Gewiss, man kann viel «schlechtes» Denken in QAnon-, Impfgegner- oder Klimaskeptikerzirkeln entdecken, aber nicht wenige Esel wissen mit argumentativem Besteck hervorragend zu hantieren.

Es braucht kritische Medien

Die Freiheit der Meinungsäusserung schützt abwegige Meinungen. Es handelt sich um ein Ideal. Minderheiten fordern es immer wieder heraus. Eine grosse alte Dame der politischen Philosophie, Judith Shklar, sprach von einem «Liberalismus der permanenten Minderheiten». Das heisst, eine Demokratie kann sich nicht liberal nennen, wenn sie nicht die «permanent» Ungehörten, Erfolglosen, Randständigen, Ausgegrenzten einschliesst.

Es gilt aber, Ansätze von heimlicher Minderheitsdynamik im Blick zu behalten. Das ist gerade auch eine kritische Aufgabe der Medien. Der Esel muss unter den Klugen kenntlich gemacht werden, denn unter seinesgleichen bleibt er unsichtbar. Vielleicht gelangt ein solcher Liberalismus an die Grenze der Liberalität. Das alte Paradox der Intoleranz gegenüber Intoleranz. Jedenfalls verhindern wir so die Ausbreitung der Unnachgiebigkeit – eines hochansteckenden Infekts im politischen Gewebe der Demokratie.

Dieser Beitrag ist zuerst in der NZZ erschienen.

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Ein Kommentar

  1. Es fällt auf, dass den Medien zugeschrieben wird, kritisch zu reagieren. Auch hier glänzt ein Sammelbegriff, der zu keiner Veränderung führt, denn es sind die einzelnen Leute, die sich mit Themen befassen, was davon abhängt, wie eingehend sie sich mit den Themen befassen, wie viel persönliches Wissen sie sich angeeignet haben und welche Schlüsse sie daraus ziehen.
    Gleiches geschieht im Schulbereich, wenn die Schule einmal mehr thematisiert wird und der Schlusssatz lautet, die Verantwortung für das Verhalten ihrer Kinder im Schulbereich liege eben bei den Eltern, wie es heute einmal mehr von Frau Rösler zu hören war.

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