19. April 2024

Reformen haben Bedingungen fürs Lehren und Lernen verschlechtert

Die Primarlehrerin und Erziehungsrätin für die Grünliberale Partei Christine Staehelin fordert von der Bildungspolitik keine Einigkeit, aber ein gemeinsames Umdenken. Eine Antwort auf die Analyse von BaZ-Autor Sebastian Briellmann.

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel und Erziehungsrätin für die Grünliberale Partei: Die Schule ist keine widerspruchsfreie Institution.

Sebastian Briellmann moniert zu Recht die hohen Personalausgaben pro Schüler und Schülerin an der obligatorischen Schule in Basel-Stadt – die höchsten in der Schweiz. Gleichzeitig weist er auf die Ergebnisse der letzten schweizweiten Vergleichstests hin, wo man auf dem letzten Platz landete. Die Effizienz des Basler Bildungssystems scheint im Vergleich also gering zu sein. (Lesen Sie hier die ganze Analyse zur Basler Schulmisere: Note «ungenügend» – Das bürgerliche Versagen in der Bildungspolitik)

Warum dem so ist? Briellmann nennt ein bekanntes Problem: Bloss keinen Widerstand, bloss niemandem auf den Schlips treten. Diese Tatsache habe dazu geführt, dass gut klingende Reformen widerspruchslos umgesetzt worden seien und in der Realität zu einer Verlotterung der Schulen geführt hätten.

Nun kann man sich parteipolitisch gegenseitig die Schuld geben. Zu bedenken gilt es: Einzelne politische Stimmen äusserten sich bereits früher kritisch – was in einer Zeit, da Innovation als Zauberwort jede weitere politische Legitimation überflüssig machte, allerdings nicht goutiert wurde. Die meisten Parteien haben die Reformen befürwortet, ansonsten wären sie kaum zustande gekommen.

Viel interessanter ist die Frage, warum die pädagogisch fundierten Argumente gegen die Reformen, die vor deren Umsetzung vornehmlich aus dem Berufsfeld kamen, nicht ernst genommen wurden. Man war überzeugt, dass die Schüler mit Frühfranzösisch besser Französisch lernen, dass eine integrative Schule allen zugutekommt, dass die Kompetenzorientierung – was auch immer darunter verstanden wird – bessere Leistungen erzielt.

Die widersprüchliche Schule

Aber: Schülerinnen und Schüler lernen mit einem neuen Lehrmittel zu einem früheren Zeitpunkt nicht einfach besser Französisch, nicht alle können in einem integrativen Unterricht am besten lernen – und ein ausufernder kompetenzorientierter Lehrplan bietet nicht wirklich eine handlungsleitende Grundlage für gutes Unterrichten.

Die Reformen haben die Rahmenbedingungen für das Lehren und Lernen verschlechtert statt verbessert – für alle Beteiligten.

Man hat vergessen, dass es keine einseitigen Interventionen gibt, die ohne Nebenwirkungen alles zum Bessern wenden. Die Schule ist keine widerspruchsfreie Institution. Niemand will eine Schule, bei der jeder Input zu einem entsprechenden Output führen würde, denn dann wäre man von einer Gleichmacherei und Abrichtung der Schüler nicht mehr weit entfernt. Mit Bildung hätte das nichts mehr zu tun.

Es gilt beim täglichen Unterrichten, jeweils einen Mittelweg zu finden, und es besteht immer die Möglichkeit des Scheiterns.

.Jede Lehrerin, jeder Lehrer kennt die Widersprüche: Soll ich mich der Sache zuwenden oder der Person? Soll ich mich dem Einzelnen oder der Gruppe widmen? Steht die Organisation im Vordergrund oder die Interaktion? Es gilt beim täglichen Unterrichten, jeweils einen Mittelweg zu finden, und es besteht immer die Möglichkeit des Scheiterns. Lehrpersonen sind aber auf Rahmenbedingungen angewiesen, welche die tägliche Herausforderung nicht zu einer Überforderung werden lassen.

Die Reformen haben die Rahmenbedingungen für das Lehren und Lernen verschlechtert statt verbessert – für alle Beteiligten. Dies, weil man davon ausging, dass Verbesserungen im Bildungsbereich mit bestimmten Interventionen widerspruchsfrei möglich seien. Eine Negation der Tatsache, dass die Schule eine widersprüchliche Institution ist – und dass das gut ist so.

Es ist bedauernswert, dass diese Erkenntnis, so alt wie die Idee der Bildung selbst, nicht ernst genommen wurde. Aber es bedeutet, dass es keine Reform geben kann und soll, die davon ausgeht, dass ein ganz bestimmter Input einen ganz bestimmten Output generiert.

Nur wenn alle Perspektiven und Argumente auf den Tisch kommen, verhindert man, dass wieder jene Stimmung der Alternativlosigkeit der Nullerjahre aufkommt.

Ja, es wurden Fehler gemacht

Da die Schule für eine liberale Demokratie eine äusserst bedeutsame Institution ist, kann es nun nicht darum gehen, dass man vergangene Fehler politisch instrumentalisiert oder sich mit neuen Vorschlägen parteipolitisch profiliert: Nur wenn alle Perspektiven und Argumente auf den Tisch kommen, verhindert man, dass wieder jene Stimmung der Alternativlosigkeit der Nullerjahre aufkommt. Diese führte zu jener Widerspruchslosigkeit, die wir jetzt vielleicht bedauern.

Es geht aber auch nicht darum, sich anschliessend auf irgendwelche kompromissfähigen Programme für die Schule zu einigen, sondern nur darum, gemeinsam festzuhalten, welches denn die grundlegenden Rahmenbedingungen für die öffentlichen Schulen sein müssen, damit sie als Institution weiter bestehen können. Dass man sich dabei an pädagogischen Erkenntnissen und Theorien orientiert und das Berufsfeld einbezieht, was zuvor vernachlässigt wurde, ist bestimmt hilfreich.

Verhindert werden müssen nur widerspruchsfreie Lösungsvorschläge; diese führen, wie wir gesehen haben, in die Irre.

Und es braucht wohl Mut, einzugestehen, dass Fehler gemacht wurden – um bereit zu sein, wirklich nochmals genau hinzuschauen. Aber mutig sein ist eine Tugend und auch ein wünschenswerter Effekt von Bildung. Es braucht auch nicht überall Einigkeit. Verhindert werden müssen nur widerspruchsfreie Lösungsvorschläge; diese führen, wie wir gesehen haben, in die Irre.

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4 Kommentare

  1. Der wirklich grosse Fehler, der gemacht wurde und weiterhin gemacht wird, ist, dass Schule politisch gedacht wird. Schule sollte mit Politik NICHTS zu tun haben, da permanent die Gefahr der Profilierungsneurose besteht, v. a. seitens der involvierten Entscheidungsträger.
    Die Schule ist ein Ort für Kinder und Jugendliche!

  2. Pragmatische Lösungen sind das A und O im Schulalltag. Christine Staehelin deckt das überzeugend auf, indem sie auf die starken Nebenwirkungen mancher Reformen hinweist. Mit Dogmen und grossen Versprechen, wie sie in den Nullerjahren von Politik und Wissenschaft verkündet wurden, haben wir schlechte Erfahrungen gemacht. Die Verantwortlichen können jetzt aber den angerichteten Schaden nicht einfach ignorieren und das Aufräumen an die Lehrpersonen delegieren. Christine Staehelin hat drei grosse Baustellen aufgezählt (gescheiterte Integration, mageres Frühfranzösisch, überladener Lehrplan), wo zu vieles schief gelaufen ist. Es braucht von allen Seiten den Mut, zu den Fehlern zu stehen und korrigierend einzugreifen. Gefordert ist vor allem eine offene Diskussionskultur, die sich viel stärker an der Schulpraxis orientiert. Lehrerinnen und Lehrer können dazu beitragen, indem sie in persönlichen Gesprächen und in den Lehrerorganisationen mutiger auftreten. Sie werden jedoch nur respektvoll wahrgenommen, wenn sie ihre Erfahrungen aus dem Schulalltag klug kommunizieren und nicht beim ersten Windstoss umkippen. Das gilt auch im Dialog mit den Pädagogischen Hochschulen, wo unvoreingenommene Gespräche auf Augenhöhe in den letzten Jahren leider eher die Ausnahme waren.

    1. Indoktrinierte (Politik und Fachhochschulen) geben in der Regel weder gemachte Fehler zu, noch sind sie gesprächsbereit. Vielleicht braucht es einfach mehr Druck seitens des Lehrpersonals. Doch dann sind wir beim Thema “Solidarität” und das ist punkto Lehrerinnen und Lehrer eine andere Baustelle…

  3. Wieder ein eloquenter gescheiter Vortrag , der mehr als einen Schritt rückwärts geht mit entweder-oder Argumenten. Es sollte endlich klar sein, dass Wissensvermittlung, wie Condorcet es aufgezeigt hat, etwas anderes ist als Erziehung, und Bildung, wie sie Comenius versteht, etwas anderes als Wissensvermittlung.

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