28. April 2024

Das deutsche Schulsystem gerät an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit

Die Kompetenz von Viertklässlern in Deutsch und Mathematik sackt nach einer neuen Studie deutlich ab. Der Negativtrend zeigt sich in allen Bundesländern, jedoch mit großen Unterschieden. Besonders dramatisch ist der Leistungseinbruch bei Kindern mit Zuwanderungshintergrund. Ein Gastbeitrag von Sabine Menkens in der WELT.

Sabine Menkens, Politik-Redakteurin

Die Corona-Krise, die enorme Zuwanderung im Rahmen der Flüchtlingskrise und die zunehmende soziale Ungleichheit in Deutschland haben das Schulsystem an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Immer mehr Grundschüler erreichen am Ende der vierten Klasse nicht mehr die von der Kultusministerkonferenz festgelegten Mindeststandards in den Fächern Deutsch und Mathematik.

Das ist das Ergebnis des IQB-Bildungstrends für das Jahr 2021, den das Institut für die Qualität im Bildungswesen (IQB) am Montag vorgelegt hat. Der grundlegende Befund wurde zwar bereits im Juli präsentiert, jetzt aber liegen die Detailergebnisse vor.

Der Anteil der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die den Regelstandard erreichen oder übertreffen, hat in beiden Fächern abgenommen.

Und die besagen nichts Gutes: Denn gegenüber den Vergleichsjahren 2011 und 2016 sind die Kompetenzen der Viertklässler in den Fächern Deutsch und Mathematik durch die Bank abgesackt. Der Anteil der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die den Regelstandard erreichen oder übertreffen, hat in beiden Fächern abgenommen. Zugleich hat der Anteil der Schülerinnen und Schüler zugenommen, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen und damit ein hohes Risiko für einen wenig erfolgreichen Bildungsweg tragen.

Erhoben wurden die Daten von 26.844 Schülerinnen und Schülern zwischen April und August 2021, also unmittelbar nach dem Corona-bedingten Lockdown.

Deutschland stürzt ab

Der Kompetenzrückgang in Deutschland insgesamt entspricht seit 2016 einer Lernzeit von etwa einem drittel Schuljahr im Lesen, einem halben Schuljahr im Zuhören, einem viertel Schuljahr im Bereich Orthografie und einem viertel Schuljahr im Fach Mathematik.

Erhoben wurden die Daten von 26.844 Schülerinnen und Schülern zwischen April und August 2021, also unmittelbar nach dem Corona-bedingten Lockdown. Die meisten Schulen hätten sich damals noch im Wechselunterricht befunden, sagte IQB-Chefin Petra Stanat. Zwar sei anhand der Daten keine eindeutige Ursachenzuschreibung für die Trends möglich. „Es spricht jedoch einiges dafür, dass die pandemiebedingten Einschränkungen bei den ungünstigen Entwicklungen eine Rolle gespielt haben“, sagte Stanat.

Nach Angaben der 1464 teilnehmenden Schulen hatten die geprüften Viertklässler durchschnittlich etwa 32 Wochen Fern- oder Wechselunterricht erhalten – drei Viertel des Schuljahres verliefen also nicht regulär. Die Ergebnisse hätten gezeigt, dass die erreichten Kompetenzen „zumeist bedeutsam mit den untersuchten Lernbedingungen zusammenhängen, insbesondere mit der räumlichen und technischen Ausstattung zu Hause“, heißt es in dem Bericht.

Großes Leistungsgefälle zwischen Bundesländern

Insgesamt haben im Fach Lesen im deutschlandweiten Durchschnitt fast 19 Prozent den Mindeststandard verfehlt, im Zuhören gut 18 Prozent und in der Orthografie sogar 30 Prozent. In Mathematik erreichten 22 Prozent der Schüler nicht den Mindeststandard. Optimale Kompetenzen hatten im Fach Deutsch zwischen sechs und acht Prozent der Viertklässler, in Mathematik knapp elf Prozent. Der Rest bewegte sich im Mittelfeld. Im Vergleich zu 2016 verzeichneten alle Bundesländer einen Negativtrend.

 

 

 

 

Dennoch sind die Leistungsunterschiede zum Teil erheblich. Bayern etwa ist es erneut besonders gut gelungen, die Regel- und Mindeststandards zu sichern. Auch in Sachsen fallen die Ergebnisse signifikant günstiger aus als im Durchschnitt. In Bremen und Berlin wurden die Regelstandards hingegen in allen Kompetenzbereichen seltener erreicht und die Mindeststandards häufiger verfehlt als dies deutschlandweit der Fall ist. Auch in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen fielen die Ergebnisse signifikant ungünstiger aus, heißt es in dem Bericht. Für Mecklenburg-Vorpommern liegen wegen früher Sommerferien keine belastbaren Ergebnisse vor.

Die Förderung von Deutsch sowie mathematischen Vorläuferfähigkeiten müsse bereits in der Kita erfolgen.

Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz und schleswig-holsteinische Bildungsministerin: Nicht alle auf Corona schieben.

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien (CDU) nannte die Ergebnisse „ernüchternd“. „Wir waren zwar bis 2016 in einzelnen Ländern auf einem guten Weg, die Bildungschancen der Viertklässlerinnen und Viertklässler zu verbessern. Jetzt aber sind wir deutlich zurückgefallen“, sagte Prien. Grund dafür seien nicht nur die Corona-bedingten Lerneinbußen, sondern auch Versäumnisse bei der frühkindlichen Förderung. „Wir investieren in Deutschland zu wenig in den Elementarbereich“, sagte Prien.

Dazu brauche es systematische und frühe Sprachstandserhebungen. Die Förderung von Deutsch sowie mathematischen Vorläuferfähigkeiten müsse bereits in der Kita erfolgen. Durch die starken Flüchtlingsbewegungen habe sich die Zusammensetzung der Schülerschaft seit 2016 deutlich verändert, sagte Prien. „Das hat Auswirkungen auf die Heterogenität und die damit verbundenen Herausforderungen für Lehrkräfte.“

Leistung von Kindern mit Migrationshintergrund lässt stärker nach

Wie massiv die Migration in den Schulen angekommen ist, zeigt ein Blick in die Zahlen. Demnach hat sich der Anteil der Viertklässler, die in zugewanderten Familien aufwachsen, seit dem Jahr 2011 um annähernd 14 Prozentpunkte erhöht und lag 2021 bei etwa durchschnittlich 38 Prozent, bei einer Bandbreite von zwölf Prozent in Sachsen und 58 Prozent in Bremen.

Insgesamt fielen die Kompetenzeinbußen für Kinder mit Zuwanderungshintergrund überwiegend größer aus, sodass selbst bei insgesamt sinkendem Kompetenzniveau die Leistungskluft weiter aufgehe, schreiben die Bildungsforscher. Und ein weiterer allseits bekannter, aber nicht minder unbefriedigender Befund hält sich hartnäckig: der Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozioökonomischem Status.

Der Deutsche Lehrerverband bezeichnete die Studie als „Beleg für einen ungebremsten dramatischen Bildungsabsturz“.

Die IQB-Forscher nannten die Ergebnisse „besorgniserregend“. „Es dürfte weitgehende Einigkeit darüber bestehen, dass solche Zahlen nicht hinnehmbar sind“, schreiben sie. Bei Mindeststandards handele es sich um Anforderungen, die von allen Schülern erreicht werden sollten. „Hierfür haben alle Akteursgruppen im Bildungssystem gemeinsam Sorge zu tragen.“ Prien verwies darauf, dass die Kultusministerkonferenz bereits vor zwei Jahren eine Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) eingesetzt habe, die im Dezember ein Gutachten zur Grundschule vorlegen wolle.

Schuld sei die „jahrelange verfehlte Schulpolitik“.

Der Deutsche Lehrerverband bezeichnete die Studie als „Beleg für einen ungebremsten dramatischen Bildungsabsturz“. Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger warnte davor, den Leistungsabfall vorrangig auf Corona zu schieben. Schuld sei die „jahrelange verfehlte Schulpolitik“, die sich in Nebenkriegsschauplätzen verzettelt habe, „anstatt den Schwerpunkt des Unterrichts an der Grundschule auf den umfassenden Erwerb der zivilisatorischen Grundkompetenzen Lesen, Rechnen und Schreiben zu legen“.

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