18. April 2024

Feindbild Lehrer – Die linke Übermacht

Lehrpersonen stehen wieder mal unter Generalverdacht: zu links, zu grün. Was bleibt vom Schreckgespenst der Indoktrinierung an Schweizer Schulen, wenn man genauer hinschaut? Magazin-Kolumnist Philipp Loser meint: «Nicht allzu viel!»

Philipp Loser ist Redaktor des «Tages-Anzeiger» und Kolumnist von «Das Magazin»: Gibt es überhaupt ein klares Lehrerbild? Oder sind es viele verschiedene?

Lehrer! Links und grün und die ganze Zeit in den Ferien.

Lehrerinnen und Lehrer (genauer: «Lehrpersonen» – nirgends sonst hat sich Gendersprache so rasch und konsequent durchgesetzt, auch ein Zeichen für linke Umtriebe, nicht wahr?), Lehrpersonen also, stehen aktuell unter Verdacht. Einmal mehr. Nachdem in der Maturaarbeit von drei Aargauer Jungfreisinnigen herauskam, dass viele ihrer Mitschüler den Unterricht als eher links empfinden, hat das Aargauer Parlament beschlossen, den Befund wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Vor zwei Wochen hat nun auch der Zürcher Kantonsrat entschieden, sich der Studie anzuschliessen.

Kurz: Aus einer Umfrage, deren Methodik stark angezweifelt werden darf (worüber sich die Kantonsschüler übrigens im Klaren sind, wie sie selber in der Arbeit schreiben), ist ein politisches Grossprojekt geworden.

Die Untersuchung ist die Konsequenz eines jahrzehntealten Verdachts der bürgerlichen Mehrheit: Sie vermutet vor allem an den weiterführenden Schulen, den Gymnasien und Universitäten, eine gar nicht mal so diskrete linke Indoktrinierung von Schülerinnen und Schülern, eine linke Übermacht. (So wie sie diese auch in den Medien, den Landeskirchen oder der Verwaltung vermutet. Überall Linke!)

Ist der Verdacht berechtigt?

Das werden wir nach der Untersuchung vielleicht wissen. Vielleicht auch nicht. Neben der Momentaufnahme wäre eine historische Tiefenbohrung wahrscheinlich fast interessanter: Wie hat sich das Bild, das wir von Lehrpersonen haben, verändert? Galten die schon immer als links? Gibt es überhaupt ein klares Lehrerbild? Oder sind es viele verschiedene?

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Lehrer fast schon verachtet.

Pierre Felder, ehem. Leiter der Basler Volksschule: “Den ersten aufgestellten Lehrer habe ich erst 1968 erlebt.”

Zu diesem Schluss gelangt nämlich, wer sich mit Pierre Felder unterhält. Der frühere Leiter der Basler Volksschule ist Autor eines interessanten Geschichtsbuchs über die Volksschule. Er sagt, dass Lehrer zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast schon verachtet wurden. Sie waren keine Autoritätspersonen, sondern schlecht bezahlte Gehilfen der Pfarrer, die in der öffentlichen Bildung bestimmend waren.

Geändert habe sich das in den 1830er-Jahren, als die Freisinnigen die Bildung zur wichtigsten staatlichen Aufgabe erklärten und die ersten Lehrerseminare gründeten. «Diese Lehrer waren radikale Freisinnige vom Land und verstörten die alten Konservativen in den Städten», sagt Felder. Lehrer unter Verdacht – schon damals.

Das änderte sich mit der Gründung des Bundesstaates und der Machtübernahme durch den – bald nicht mehr so fortschrittlichen – Freisinn. Während vieler Jahrzehnte funktionierten die Lehrer (Frauen kamen erst später hinzu) als direkter Arm des Staates in den Schulzimmern – Autoritätsfiguren, streng und bürgerlich. Ueli Mäder, emeritierter Professor für Soziologie (und ein klassischer linker Hochschullehrer) erinnert sich, wie er Ende der Fünfzigerjahre von seiner Kindergärtnerin mit dem Stock geschlagen wurde. Den ersten aufgestellten Lehrer habe er erst 1968 erlebt.

Widerspruch der Schüler war nun kein Tabu mehr.

1968 ist für die Wahrnehmung der Lehrpersonen entscheidend: Dass heute viele Bürgerliche das Gefühl haben, Schweizer Schulzimmer seien linke Biotope, hat viel mit 68 zu tun, dem linken Marsch durch die Institutionen und dem Autoritätsverlust, den die Lehrer in der Folge erlitten – Widerspruch der Schüler war nun kein Tabu mehr. Das Berufsbild veränderte sich, Themen wie Chancengleichheit und Integration wurden wichtiger, plötzlich unterrichteten mehr Frauen und mehr Teilzeitler.

Würde die linke Indoktrinierung an unseren Schulen tatsächlich funktionieren, es gäbe in unseren Parlamenten schon lange keine bürgerlichen Mehrheiten mehr, um die angebliche Indoktrinierung zu untersuchen!

In den Schulhäusern geschahen Dinge, die vielen Bürgerlichen suspekt waren. Die Folge waren ein latentes Unbehagen gegenüber Lehrpersonen und zahlreiche Versuche, an der Situation etwas zu ändern – wozu auch die Vorstösse im Aargau und in Zürich zählen.

Es ist Zeit, diese besorgten Politiker zu beruhigen: Würde die linke Indoktrinierung an unseren Schulen tatsächlich funktionieren, es gäbe in unseren Parlamenten schon lange keine bürgerlichen Mehrheiten mehr, um die angebliche Indoktrinierung zu untersuchen!

Dieser Artikel ist zuerst im «Magazin» erschienen:

https://www.bazonline.ch/die-linke-uebermacht-812669092552

 

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Philipp Tingler (NZZ): Alles im Jetzt?

Wir zitieren diese Gedanken aus einem bemerkenswerten Essay des schweizerisch-deutschen Schriftstellers Philipp Tingler. Der vollständige Text (Wird alles neu, oder bleibt alles wie früher?) ist am 21.10.2020 in der NZZ erschienen.

2 Kommentare

  1. Auch wenn der Redaktor des Tagesanzeiger das nicht so sieht, die Maturarbeit ist sehr sorgfältig und differenziert ausgeführt und es lohnt sich die 79 Seiten zu studieren. Die Resultate werden als Meinungsbild verstanden und als möglicher Hinweis auf die tatsächlichen Verhältnisse. Ob es in den Parlamenten eine bürgerliche Mehrheit gibt, ist umstritten. Tatsache ist, dass auch Minderheiten einen enormen Einfluss ausüben können, wenn man nur schon an die Journalisten gerade in der heutigen Zeit denkt. Hier sind exemplarisch ein paar Fragen und Antworten aus der Schülerbefragung an Aargauer Kantonsschulen:

    1) Was ist Deine politische Orientierung? über 50% der Teilnehmer*innen sich als «eher links» bis «links» sehen. Bei «eher rechts» bis «rechts» sind dies nicht einmal 20%.

    2) Wie schätzt Du die politische Einstellung deiner Lehrperson
    ein? dass die Lehrerschaft über alle Fächer hinweg grösstenteils als «eher links» bis «links» gesehen wird.

    3) Welche Inhalte werden im Unterricht vermittelt? der Anteil an «eher linke» im Vergleich zu «eher rechte» klar überrepräsentiert. Wirtschaft und Recht stellt die einzige Ausnahme dar, dort ist das Verhältnis umgekehrt. Der Unterricht wird in dieser Grafik also zu bis zu 40% politisch und nicht objektiv empfunden. Selbst die Schüler*innen, die sich selbst als «eher links» bis «links» einschätzen, sehen den Inhalt im Unterricht als «eher links» an. Wirtschaft und Recht wird noch stärker als «rechts» eingeschätzt.

    4) Ist die Schule ein Ort, an dem man offenkundig seine Meinung vertreten kann? Je rechter die politische Orientierung, desto weniger denken die Befragten, dass die Schule ein Ort ist, wo man offenkundig seine Meinung vertreten kann.

    5) Kommt die Schule ihrem Auftrag der politischen Neutralität nach? Je rechter die politische Orientierung, desto weniger denken die Befragten, dass die Schule ihrem Auftrag der politischen Neutralität nachkommt. Interessant ist auch, dass «linke» Schüler*innen die Schule als besonders neutral sehen, sogar noch mehr als diejenigen, welche politisch uninteressiert sind.

  2. 12.Sept.2022 Feindbild Lehrer
    Ein Artikel, der eine allgemeine Haltung vertreten will, die alles andere als für den Schweizerischen Bundesstaat zutrifft. Was zum allgemeinen Wissen gehört, ist, dass bei der Gründung von 1848 die Hohheit über den Schulunterricht den Kantonen zugesprochen wurde. Was für Basel – Land gilt, ist im Kt. Bern anders, und was für Bern gilt, fehlt im Kt. St.Gallen. In Bern war die Unterstufe den Lehrerinnen zugeteilt und die Lehrpersonen waren geachtete Leute, die auch Ämter innerhalb ihrer Schulgemeinden übernahmen, während sie im St.Galler Rheintal verspottet wurden, ob sie denn schon etwas gegessen hätten. So würde wenigstens ihr Magen arbeiten.
    Zu beachten ist weiter, dass mit dem allgemeinen Lehrer- Lehrerinnen Mangel der 1960er Jahre so ziemlich alles, was unter “Schule” zu verstehen wäre, durcheinander geraten ist, und sich jetzt die EDK einbildet, sie sei die Organisation, die berechtigt sei, den Unterricht zu regeln, so dass man sich fragen muss, ob 125 Jahre EDK ein Jubiläum ist oder eine Katastrophe.
    Was noch immer und seit je die Aufgabe des Unterrichts war und ist, nämlich die Kinder ins Lesen, Schreiben und Rechnen einzuführen und zwar so, ohne in einer Lese-Rechtschreibstörung und Dyskalkulie zu landen, was wesentlich von den Lehrmitteln abhängt.

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