Lieber Alain
Du beschreibst Leistungstests als eine Möglichkeit, durch den Vergleich Schwachstellen des Unterrichts aufzuzeigen und daraus Lehren für Verbesserungen zu ziehen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn es funktionieren würde. Doch genau hier liegt das Problem.
Die sechs Schulstandorte der früheren Weiterbildungsschule Basel (8./9.Schuljahr) führten ab 2000 Vergleichsarbeiten in Deutsch, Mathematik und Französisch/bzw. Englisch durch. Wir Lehrpersonen brüteten über den Resultaten. An Stellwänden hingen die aufgeschlüsselten Leistungspunkte der einzelnen Klassen und die Vergleichswerte der anderen Standorte.
Feststellung 1:
Schon innerhalb der Klassen gab es grosse Unterschiede, etwa nach der Gauss’schen Kurve. Ausreisser nach oben und nach unten kamen fast in jeder Klasse vor.
Feststellung 2:
Zwei Parallelklassen, vom selben Mathematiklehrer unterrichtet, wiesen im einen Fall überdurchschnittliche Punktzahlen, im andern Fall unterdurchschnittliche auf. Pikanterweise waren es Klassen des Schulleiters!
Feststellung 3:
Tatsächlich erzielten einige Lehrkräfte über die Jahre hinweg durchschnittlich etwas bessere Leistungen als andere.
Kommentar zu 1:
Mit statistischen Durchschnitten zu operieren, bringt wenig zu Tage über die Qualität der Instruktion. Um den Erfolg des Unterrichts zu eruieren, müssten Leistungskurven bei denselben Lernenden über mehrere auseinander liegende Zeitpunkte hinweg erhoben werden. Das ergäbe eine Lernfortschrittskontrolle, die über die Wirksamkeit des Unterrichts, bzw. der Fördermassnahmen Aussagen zuliesse. Man könnte konkret aufzeigen, welche Methoden, Massnahmen und Materialien den Fortschritt bewirkten.
Kommentar zu 2:
Inwiefern kann die Lehrperson von sich selber lernen, wenn sie bei zwei vergleichbaren Gruppen mit demselben Unterricht unterschiedliche Resultate erzielt? Liegt es an der Beziehung Lehrer – Klasse, an der unterschiedlichen sozialen Zusammensetzung der Klassen, an der unterschiedlichen kognitiven Ausstattung der Lernenden? Der Befund gibt nichts her über die Unterrichtsqualität.
Kommentar zu 3:
Eine heikle Aufgabe für Kollegium und Schulleitung. A und E freut es, wenn sie besser sind als B, C und D. Die drei Verlierer können die Erkenntnis, schlechter zu sein, auf verschiedene Arten verarbeiten: A und E machen nur Teaching to the Test oder betrügen. A und E haben bessere Klassen. B war längere Zeit krankheitsabwesend, C war im Militärdienst, D hatte unmögliche Eltern in seiner Klasse, etc.
Man stelle sich vor, die Schulleitung lobe A und E, ziehe B, C und D zur Rechenschaft und überzeuge sie, die Methoden von A oder E zu übernehmen. Ein Horror für das Klima im Kollegium! Was also tun? Das Problem vergesellschaften: ein externes Coaching beiziehen, Lektionen auf Video festhalten und analysieren, ein neues Schulleitbild kreieren, eine Nachhilfestunde mit Hatties «Visible Learning» veranstalten, mit Gruppen- und Plenumsdiskussionen und farbigen Punkten an Whiteboards, etc. All dies ist nicht frei erfunden, sondern hat tatsächlich so stattgefunden! Erfolg? Null, nur ein Riesenleerlauf.
«Mensch, du musst dein Leben ändern.», nennt P. Sloterdijk den verbreiteten Optimierungswahn unserer Zeit, der uns vorgaukelt, wir könnten über unsere Grenzen hinauswachsen.
Letztlich stellt sich die Frage: Kann man aus untalentierten Lehrpersonen talentierte machen? Kann man aus wenig Motivierten Motivierte machen? Kann man aus Leuten, die mit Führungsaufgaben überfordert sind, Autoritätspersonen machen? Kann man fachlich Schwache zurück an die Uni oder die PH schicken, um ihre Lücken zu schliessen? Die Erfahrung zeigt: Nein, leider gibt es den Zauberstab nicht. Die Resultate werden bei der nächsten Vergleichsarbeit wieder ähnlich ausfallen. «Mensch, du musst dein Leben ändern.», nennt P. Sloterdijk den verbreiteten Optimierungswahn unserer Zeit, der uns vorgaukelt, wir könnten über unsere Grenzen hinauswachsen.
Vielmehr wurde die Schulleitung ausgewechselt, ein neues Konzept entwickelt. Gleichzeitig wurde der Teil des Lehrkörpers, der nicht ins Konzept passte, durch solche ersetzt, die willens und fähig waren, im bewussten Stil zu unterrichten.
Natürlich, wirst Du mir entgegnen, gibt es das Narrativ von den wundersamen Verwandlungen von Brennpunktschulen in Vorzeigeschulen.
Allerdings sind solche Erfolge nicht dem Lernen aus Vergleichen geschuldet: Vielmehr wurde die Schulleitung ausgewechselt, ein neues Konzept entwickelt. Gleichzeitig wurde der Teil des Lehrkörpers, der nicht ins Konzept passte, durch solche ersetzt, die willens und fähig waren, im bewussten Stil zu unterrichten. Zahlreich sind die Beispiele, bei denen dies auch nicht funktionierte: Missstimmung im Kollegium, Elternproteste, politische Auseinandersetzungen, Kündigungen, Auswechseln der Schulleitung, etc.
Fazit: Irgendjemand müsste erstens ganz konkret darlegen, inwiefern Vergleichsarbeiten, unabhängig vom Einfluss anderer Faktoren, tatsächlich Unterschiede in der Unterrichtsqualität zulassen und zweitens, welche konkreten Schlüsse aus Vergleichen zur Verbesserung des Unterrichts gezogen werden können.
Das wirklich zählende Kriterium für guten Unterricht ist die authentische Vermittlung des Lernstoffes durch eine fachlich gut ausgebildete und ihr Fach bzw. ihre Fächer liebende Lehrperson. Dazu kommt, dass ebendiese Lehrperson ein bindungsbasiertes pädagogisches Konzept verfolgen sollte und so Verbindung schafft zu ihren Schülerinnen und Schülern.
Doch selbst solchermaßen aufgegleister Unterricht ist nicht gefeit vor Tiefschlägen, denn eine Lehrperson haut ihre Schülerinnen und Schüler nicht aus selbst ausgesuchtem Stein.
Deshalb sind Rankings m. E. schlecht und bewirken viel Ungutes, wogegen Investitionen in die Ausbildung von Lehrpersonen wie oben beschrieben Gold wäre. Wäre…