19. April 2024

Die Problemkinder der Generation Z

Sind Schulkinder unkontrollierbar geworden? Weil es an aktuellen OECD-Studien zur Lage der Lehrer mangelt, hat die Brüssler Tageszeitung „Le Soir“ zehn Experten befragt: Nicht nur die Schüler seien schwieriger geworden. Eine entscheidende Rolle spielten die Eltern. Ein Bericht von Charlotte Hutin.

Charlotte Hutin, Le Soir

„Unerträglich“, „egoistisch“, „gewalttätig“: Sobald die Rede auf Kinder und Jugendliche der Gegenwart kommt, fallen die Urteile oft harsch aus. Sie seien schwieriger als ihre Vorgänger, und das schade auch dem schulischen Klima. Aber entsprechen solche Befunde auch den Tatsachen, oder handelt es sich bei ihnen um die Vorurteile von „alten Säcken“? Objektiv lässt sich das nicht beantworten, weil es für den französischen Teil Belgiens zu wenige Daten gibt. Zwar fand im Mai 2022 eine erste Erhebung zum Klima in den Schulen statt, doch deren Ergebnisse wurden noch nicht ausgewertet.

Unter den teilnehmenden Ländern der TALIS-Studie liegt das belgische Schulsystem auf dem vorletzten Platz vor Frankreich.

Für objektive Befunde muss man sich deswegen auf die TALIS-Studie von 2018 beziehen, eine Erhebung in OECD-Ländern, für die Lehrer und Schüler der ersten Sekundarstufe befragt wurden. Eines ihrer Resultate: In der Französischen Gemeinschaft Belgiens ist es um die Disziplin in den Schulklassen schlechter bestellt als in den beiden anderen Landesteilen. Unter den teilnehmenden Ländern der TALIS-Studie liegt das belgische Schulsystem auf dem vorletzten Platz vor Frankreich.

Während sich in den OECD-Ländern die schulische Disziplin zwischen 2009 und 2018 verbessert hat, lässt sich diese Entwicklung im französischen Teil Belgiens nicht konstatieren: Mehr als anderswo berichten Schüler von Lärm und Unruhe in den Klassen. Dabei liegt die Anzahl der Schüler je Klasse weit unter dem Durchschnitt der OECD-Länder.

Ein zweiter, positiverer Befund der TALIS-Studie: In Belgiens französischsprachigen Regionen erleben Schüler seltener Mobbing als Gleichaltrige in anderen OECD-Ländern. Zwischen 2015 und 2018 wurde sogar ein leichter – wenn auch statistisch nicht signifikanter – Rückgang verzeichnet. Allerdings gibt es solche Vergleichsstudien noch nicht so lange, als dass man über langfristige Entwicklungen Bescheid wüsste. Deswegen bleibt einem nichts anderes übrig, als bei Lehrern und Experten nachzufragen.

Widersprüchliche Meinungen

Deren Meinungen gehen weit auseinander. „Ganz sicher erlauben sich Kinder heute mehr als früher, weil sie kein Nein mehr zu hören bekommen“, meint etwa Christine Toumpsin, Leiterin einer Grundschule. Sie erzählt beispielsweise von einem Schüler, der ein Küchenmesser auf den Pausenhof mitnahm, trotz der Aufforderung seiner Lehrerin, das bleibenzulassen. „Als sie ihn bestrafte, standen sofort die Eltern auf der Matte und beschwerten sich, weil wir es gewagt hatten, das Kind zu maßregeln. Heute geben die Eltern automatisch ihren Kindern recht. Sie akzeptieren es nicht, wenn Lehrer sie bestrafen – als ob uns das Spaß machen würde. Aber auch Kinder müssen lernen, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen“.

Joseph Thonon ist Vorsitzender der CGSP Enseignement. Er unterrichtete rund zwanzig Jahre lang Physik.

Joseph Thonon, Präsident der Lehrergewerkschaft CGSP und zwanzig Jahre lang Physiklehrer: „Im Lauf meiner Lehrerkarriere sind Schüler immer schwieriger geworden. Wenn man unseren Mitgliedern Glauben schenkt, scheint mittlerweile eine gewisse Grenze überschritten.“

„Wenn man sich beispielsweise mit dem Thema Gewalt in der Schule befasst, stellt man fest, dass körperliche Gewalt und Jugendkriminalität abnehmen.“

Benoît Galand, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Louvain

Véronique de Thier ist politische Referentin bei Fapeo, der Elternvereinigung des offiziellen Bildungswesens.

Vivian Collard, Lehrerin für Sprachen an einer Sekundarschule in Louvain-la-Neuve, ist entschieden anderer Meinung. „Die Kinder von heute sind nicht schwieriger als die von vor zehn Jahren. Ich habe letztes Jahr eine Klassenreise betreut und dabei die Schüler als gemeinschaftsbewusst und überhaupt nicht als Egozentriker erlebt. Natürlich sind sie anders als früher. Sie interessieren sich beispielsweise häufiger für ethische und gesellschaftliche Probleme. Mich persönlich fasziniert das, aber manche Kollegen tun sich schwer damit.“

Die „Früher war alles besser“-Fraktion stößt auf entschiedene Gegnerschaft. „Dieses Gerede ist unerträglich“, sagt etwa Véronique de Thier von der Elternvereinigung Fapeo. „Die Jugendlichen von heute sind kreativer und fordernder. Sie sollten für uns Erwachsene eine Inspiration sein“. Und Benoît Galand, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Louvain, meint: „Wenn man sich beispielsweise mit dem Thema Gewalt in der Schule befasst, stellt man fest, dass körperliche Gewalt und Jugendkriminalität abnehmen.“

Eine Debatte, so alt wie die Welt

Über Problemjugendliche wird nicht erst in der Gegenwart diskutiert. „In manchen Familien wird das Kind zum Idol gemacht. Es wird angebetet und seinen kleinsten Taten applaudiert, als wäre es König“, konstatierte etwa der Pariser Grundschulinspektor Charles Charrier 1921 in einem Pädagogikhandbuch: „Manche Eltern geben dem Schüler immer recht und dem Lehrer immer unrecht. Sie ahnen nicht, welche schwere seelische Schäden sie ihren Kindern zufügen, indem sie all ihre Launen dulden.“

Jeder hat das Recht, sich auszudrücken und seine Meinung kundzutun. Auch Schüler haben eine viel höhere Kompetenz als früher, Meinungen zu hinterfragen und zu bestreiten.

Im Zentrum solcher Aussagen steht die Rolle von Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. „Die Schule klagt seit jeher, dass sie bei ihren Bemühungen nicht genügend von den Familien unterstützt wird“, meint Marc Romainville, Professor für Pädagogik an der Universität Namur. „Was die Schüler betrifft: Wir leben nun mal in einem Zeitalter des ausgeprägten Individualismus. Jeder hat das Recht, sich auszudrücken und seine Meinung kundzutun. Auch Schüler haben eine viel höhere Kompetenz als früher, Meinungen zu hinterfragen und zu bestreiten. Für Lehrer macht es das anstrengender. Damit sind aber alle Berufe konfrontiert, die mit Menschen zu tun haben. Der Grund dafür sind die Veränderungen bei der Erziehung“.

Mit dem Aufkommen eines Erziehungsstils, der körperliche Züchtigungen zum Tabu erklärt hat und die Erkenntnisse der Kinderpsychologie beherzigt, hat sich elterliches Verhalten verändert. Die Bedürfnisse des Kindes werden stärker berücksichtigt, es wird als gleichberechtigt und vollwertig angesehen. „Diese wertschätzende Erziehung trifft auf ein Schulsystem, das immer noch sehr oft weder wohlwollend noch positiv ist“, sagt die Elternvertreterin Véronique de Thier. „Selbstverständlich haben Eltern das Recht, das System infrage stellen, wenn sie eine Strafe für pädagogisch falsch halten. Wenn von einem Schüler verlangt wird, denselben Satz zehn Seiten lang rauf und runter zu konjugieren, ist es nachvollziehbar, dass Eltern sich dagegen wehren.“

Marine Houssa, Psychologin und Spezialistin für den Umgang mit Impulsivität in Kindergarten- und Grundschule, hält viel von einer sanften Erziehung – aber auch von manchen Einschränkungen. „Manche Eltern picken sich nur die Aspekte heraus, die ihnen passen. Aber seinem Kind Nein zu sagen und ihm Grenzen zu setzen, bedeutet, ihm ein Geschenk zu machen. Es bedeutet, ihm eine solide, klare Grundlage mitzugeben. Es bedeutet, ihm beizubringen, andere zu respektieren – auch die Lehrer. Kinder brauchen nun einmal einen Rahmen, um sich sicher fühlen zu können.“

Zum Wandel des Erziehungsstils kommt ein veränderter Umgang mit gesellschaftlichen Institutionen und Autoritäten. „Das gilt für Politiker und Chefs, aber auch für die Lehrerschaft“, meint der Erziehungswissenschaftler Benoît Galand: „Wir sind von strikt hierarchischen Beziehungen zu gleichberechtigten Verhältnissen übergegangen, in denen Verhandlungen eine wichtige Rolle spielen. Deswegen kann auch Schule nicht mehr so funktionieren wie früher“.

Muss sich die Schule anpassen?

Im Laufe der Generationen hat sich also die Einstellung der Jugendlichen gegenüber der Institution Schule verändert. Muss sich deswegen die Schule an diese „neuen“ Schüler anpassen? Laut Bestimmungen über die Aufgaben der Pflichtschulbildung in Belgien soll diese „die Persönlichkeitsbildung jedes einzelnen Schülers fördern“ und „alle Schüler darauf vorbereiten, mündige Bürger zu werden, die zur Entwicklung einer demokratischen, solidarischen, pluralistischen und für andere Kulturen offenen Gesellschaft beitragen können“ – das verlangt logischerweise, dass die Schule sich den gesellschaftlichen Entwicklungen anpasst.

„Ich persönlich habe überhaupt nichts dagegen, in meinem Unterricht auch über gesellschaftliche Fragen zu diskutieren. Wenn die Schülerinnen und Schüler das Bedürfnis haben, bestimmte Themen anzusprechen, weil es bei ihnen zu Hause kompliziert ist, bin ich dafür offen“, sagt die Sprachlehrerin Vivian Collard. Was den pädagogischen Aspekt angeht, ist Jean-François Guillaume, Professor für Bildungssoziologie an der Universität Liège, davon überzeugt, dass Schüler Sinn erwarten. „Musterschüler tun alles, was man von ihnen verlangt, selbst wenn es keinen Sinn ergibt. Sie tun es einfach. Andere – und keineswegs die Minderheit – haben große Schwierigkeiten mit sinnlosem Lernen. Und davon wird auch das Klima in den Schulen beeinträchtigt.“

Es sind die Kinder der Mittelschichtsfamilien, die ausrasten

Andere Akteure äußern sich nuancierter. „Sobald es ein gesellschaftliches Problem gibt, wird von der Schule verlangt, dass sie sich darum kümmert – das war beim Dschihadismus und der Pandemie der Fall“, sagt Lehrergewerkschafter Joseph Thonon. „Aber muss sich die Schule wirklich die ganze Zeit an die Bedürfnisse der Gesellschaft anpassen? Ich bin mir da nicht so sicher.“

In der Klasse kann es schwierig sein, die richtige Balance zwischen Strenge und Permissivität zu finden. „Das Beharren auf Autorität funktioniert heute nicht mehr“

Schule soll Kompetenzen vermitteln. Doch was bedeutet das für ihre Aufgabe bei der Erziehung mündiger Bürger? Marie Jaspers, Lehrerin für Förderunterricht an der Sekundarstufe: „Ein Kind muss von seinen Eltern erzogen werden. Die Schule ist dazu da, ihm Wissen zu vermitteln, aber nicht, es zu erziehen. Ich finde es schade, dass heute von den Lehrern auch verlangt wird, die Erziehungsdefizite von Eltern zu beheben.“ Die Grundschuldirektorin Christine Toumpsin konstatiert eine Überforderung von Lehrern. „Derzeit müssen die Schulen die Erziehungsdefizite ausgleichen. Aber das ist schwierig, weil es zu wenige Erzieher gibt. In meiner haben wir einen einzigen für 650 Schüler.“

In der Klasse kann es schwierig sein, die richtige Balance zwischen Strenge und Permissivität zu finden. „Das Beharren auf Autorität funktioniert heute nicht mehr“, sagt der Bildungssoziologe Jean-François Guillaume. „Das bedeutet aber nicht, die Dinge einfach laufen lassen zu können. Eine Lehrkraft muss in der Lage sein, die Einhaltung von Normen anzumahnen und Vorfälle der Schulleitung zu melden.“

Erziehung ist Sache der Eltern.

Der Erziehungswissenschaftler Benoît Galand sagt: „Es ist wichtig einzugreifen, sobald es zu den kleinsten Formen von Aggression kommt. Nicht nur körperliche Gewalt, auch Spott und andere Mikro-Aggressionen wirken sich negativ auf das schulische Klima aus. Man muss schnell reagieren, ohne gleich zu Strafen zu greifen. Klassen, in denen es ständig um Wettbewerb, Vergleiche und das Hervorheben einzelner Schülerinnen und Schüler geht, sind am stärksten für Mobbing anfällig. Abgesehen von sehr schweren Fällen plädiere ich dafür, es immer mit dem Dialog zu versuchen.“ Nicht nur mit den Kindern, sondern auch mit den Eltern. „In anderen Bildungssystemen werden Eltern als Partner betrachtet, die ins Schulleben eingebunden sind. Unsere Tradition ist eher auf dem französischen Modell der Trennung von Familie und Schule aufgebaut.“

Ließe sich das Schulklima also durch ein entspannteres Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern verbessern? „Die Familien könnten ein Teil der Antwort sein“, meint Benoît Galand. „Man muss sich dabei bloß über die Rollen im Klaren sein. Es ist völlig normal, dass es zwischen Eltern und Schulen zu Reibungen kommt. Gegenseitiger Respekt entsteht durch offenen Dialog. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, dass es an Ressourcen mangelt, sondern diese Ressourcen zu koordinieren. Die Herausforderung ist es, eine Partnerschaft rund um die Jugendlichen aufzubauen.“

 

Unsere Gesprächspartner:

Christine Toumpsin ist Direktorin des Institut Notre-Dame in Anderlecht (Grundschulen), außerdem Vorsitzende des Collège des directeurs des écoles fondamentales du libre (Kollegium der Direktoren der freien Grundschulen).

Joseph Thonon ist Vorsitzender der CGSP Enseignement. Er unterrichtete rund zwanzig Jahre lang Physik.

Vivian Collard unterrichtet Sprachen für Schüler der 5. und 6. Sekundarstufe am Lycée Martin V in Louvain-la-Neuve.

Véronique de Thier ist politische Referentin bei Fapeo, der Elternvereinigung des offiziellen Bildungswesens.

Benoît Galand ist Professor für Erziehungswissenschaften an der UC Louvain und spezialisiert auf Mobbing in der Schule und Verhaltensschwierigkeiten im Bildungsbereich.

Marc Romainville ist ordentlicher Professor an der U Namur und Leiter der Abteilung für Hochschulpädagogik.

Marine Houssa ist Doktorin der Psychologie und Forschungsbeauftragte an der UC Louvain. Sie ist Gründerin der ASBL Inemo, die sich auf den Umgang mit Emotionen und Impulsivität in Kindergarten- und Grundschulklassen spezialisiert hat.

Etienne Michel leitet das Generalsekretariat für das katholische Bildungswesen (Segec), das die Aufsicht über die Schulen des freien konfessionellen Sektors innehat.

Marie Jaspers ist Doktorin der mathematischen Wissenschaften und ehrenamtliche Arbeitsleiterin an der U Liège. Sie führt ehrenamtlich Fördermaßnahmen für Schüler der Sekundarstufe II in der Region Lüttich durch.

Jean-François Guillaume ist Professor für Bildungssoziologie an der U Liège. Er unterrichtet angehende Lehrer der Sekundarstufe II.

Dieser Artikel ist der WELT entnommen.

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