7. November 2024

Plädoyer für eine Renaissance der Schule

Sich auf Wesentliches besinnen. Das ist der Auftrag der Volksschule. Ob sie sich heute nicht ins fachliche Vielerlei verliert? Ein kluges Bilder-Buch erinnert an das Kerngeschehen des Unterrichts und an das, was eine humane Bildung sein könnte. Eine Rezension von Carl Bossard.

Carl Bossard: Zunehmende Lücken
Jochen Krautz: Wie kultiviere ich Freiheit bei Zwang?

Links ein präzises Bild, rechts ein konziser Text. Und das immer zu grundlegenden Themen aus dem Unterricht und damit zu pädagogischen Grundfragen. So entstehen 67 eindrückliche «Bilder von Bildung».[i] Es sind impressionistische und gedankliche Bausteine einer humanen Bildung. Geschrieben hat das schmucke Buch der Hochschullehrer Jochen Krautz, Professor für Kunstpädagogik an der Universität Wuppertal.

Bildung lebt von Resonanzen

Wer den Unterricht analysiert, entdeckt ein pädagogisches Dreieck. Genau da hinein zoomt die lesenswerte Publikation. Sie zielt aufs Eigentliche jeder Schule: den Dreiklang zwischen Lehrerin/Ausbildner – Schülerin/Schüler – Unterrichtsinhalt. In diesem Dreieck vollziehen sich die individuellen und sozialen Lern- und Bildungsprozesse. Sie leben von Resonanzen. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht darum vom Resonanzraum.[ii] Das „Wechselspiel mit Mitmenschen und Mitwelt“, wie Krautz verdeutlicht. Hier ereignet sich der Wesenskern von Schule und Unterricht, das Α und Ω des pädagogischen Alltags, die Grundbildung als Basis für alles weitere Lernen.

Vom Aufbau der kulturellen Basiskompetenzen

Private (Übertritts-)Vorbereitungskurse ans Gymnasium boomen.

Es sind die Mikroprozesse des Lernens: Dazu gehören das Aufbauen mit dem Verstehen, das Konsolidieren mit dem Festigen und Üben, sei es von Wissen oder Können, sowie das Anwenden des Gelernten – und das Zusammenspiel dieser Teilprozesse mit all den vielfältigen, filigranen Verknüpfungen im aktivierten Gedächtnis. Diese Lernvorgänge sind für jedes einzelne Kind eminent wichtig.

Doch selbst gute Schüler, intelligente Schülerinnen weisen am Ende der Primarschule zunehmend Lücken in den Grundfertigkeiten auf. Das zeigt die Lehr- und Lernforschung der ETH Zürich. Darum boomen private (Übertritts-)Vorbereitungskurse ans Gymnasium. Oft müssen in den Lernstudios zuerst die Grundlagen erarbeitet werden. Dazu zählen das Einmaleins und schriftliche Rechenoperationen sowie Basics des kohärenten Schreibens und der korrekten Orthographie.

Wieder auf das eigentliche Ziel fokussieren

Doch von diesem Kerngeschehen der Bildung ist heute nur noch selten die Rede. Vieles andere ist wichtiger geworden. Die ökonomisch und politisch motivierten Bildungsreformen der letzten 30 Jahre haben das pädagogische Denken und Handeln aus der Schule verdrängt, konstatiert Krautz. In Vergessenheit geriet, was das eigentliche Ziel und die Aufgabe der Schule mit Blick auf die Person der Kinder und Jugendlichen wäre – dies mit klarem und fokussiertem Blick auf die elementaren Lernziele des Unterrichts.

Die Schule hat sich mancherorts im fachlichen Vielerlei verloren. Was nützen beispielsweise zwei Fremdsprachen im Primarschulunterricht, wenn die Muttersprache dabei zu kurz kommt – und ein Viertel der 15-Jährigen hierzulande nicht imstande ist, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen? Konkret: Wenn junge Menschen nach der obligatorischen Schulzeit das Geschriebene zwar entziffern können, das Gelesene aber nicht im Kontext verstehen und in autonomes Handeln umsetzen können.

Die Wirklichkeit der Schule hat sich an die neuen Paradigmen angepasst», ohne deren pädagogischen Gesamtwert zu diskutieren.

Wenn das Organisatorische das Pädagogische dominiert

Gegen dieses Verdrängen und Vergessen des Kerngeschehens und der Grundfertigkeiten richten sich Krautz’ pädagogische Reflexionen. Es ist eine (Rück-)Besinnung auf die eigentlichen Grundlagen der Schule und die Elementarien des Lehrens und Lernens. Es ist ein Plädoyer «Für die Renaissance der Schule», wie es sich der Autor im Untertitel erhofft. Heute seien wir so weit, dass diese kritischen Punkte teilweise gar nicht mehr verstanden würden, stellt der Autor fest und fügt bei: «Die Wirklichkeit der Schule hat sich an die neuen Paradigmen angepasst», ohne deren pädagogischen Gesamtwert zu diskutieren.

Das Organisatorische dominiert vielerorts das Pädagogische.

Prof. Jochen Krautz, Wuppertal: Bildung muss emotional berühren.

Mit anderen Worten: Das Organisatorische dominiert vielerorts das Pädagogische. Wichtig beispielsweise sind der jahrgangsübergreifende, altersdurchmischte Unterricht geworden, das selbstorientierte Lernen, die Gruppenarbeit, die individuellen Arbeitsblätter, die Differenzierung des Lernmaterials.[iii] Zurückgedrängt wurden die Bedeutung der Lehrperson und ihr Unterricht – ein Unterricht, bei dem Lehrpersonen die Aktivitäten und damit den Lernprozess ihrer Schülerinnen und Schuler steuern und strukturieren. Dieser Unterricht erweist sich gemäss dem Lernpsychologen Franz E. Weinert als besonders effizient. Krautz erinnert darum an die Erkenntnis der empirischen Unterrichtsforschung: Kinder und Jugendliche führen und mit ihnen Ziele erreichen, das ist nicht primär ein technisch-organisatorisches Problem, es ist eine menschliche Aufgabe. Gefordert ist die humane Energie von pädagogischer Leadership. Was sich zwischen Menschen abspielt, passiert nicht zuerst von Hirn zu Hirn, sondern von Auge zu Auge, von Ohr zu Ohr, von Sinn zu Sinn. Also körperlich und seelisch. Ich muss emotional berührt sein.

Das ganze Kaleidoskop eines guten Unterrichts

Darum kommen der Klassenunterricht und die Gemeinschaft zur Sprache und ebenso das Vorbild. Da wird das ‘Verstehen lehren’ erhellt oder das ‘Herausfordern’ beleuchtet, da wird an das unerlässliche Üben erinnert und das wertvolle ‘Zeigen und Nachahmen’ wachgerufen, da tauchen der Wert des vitalen Präsent-Seins und das Ideal der Freiheit auf – dies im Kontext mit Kants Kernfrage «Wie kultiviere ich Freiheit bei dem Zwange» (der obligatorischen Schule)? Es ist das ganze Kaleidoskop guten, lernwirksamen Unterrichts – leicht verständlich geschrieben, essayistisch formuliert und auf Elementares verdichtet.

Die «Bilder von Bildung» besinnen sich auf die Grundlagen der Schule. Sie erinnern daran, was Pädagogik eigentlich bedeutet und warum das Wirken in der Schule für viele Lehrerinnen und Lehrer so erfüllend ist. Das zu vergegenwärtigen lohnt sich – gerade in Zeiten des drängenden Lehrermangels.

 

[i] Jochen Krautz (2022): Bilder von Bildung. Für eine Renaissance der Schule. München: Claudius Verlag. 150 S.

[ii] Hartmut Rosa (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt am Main: Suhrkamp,

  1. 402ff.

[iii] Vgl. Alex Hofstetter (2022), Die Antwort auf Heterogenität, in: profil. Das Magazin für das Lehren und Lernen 2/2022, S. 29.

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2 Kommentare

  1. Die staatliche Schule lebt nicht nur fälschlicherweise von Vielerelei, sie produziert inzwischen auch Beliebigkeit und im Zusammenhang mit der Queer-gepushten Frühsexualisierung auch Perversion. So soll eine Zürcher Primarschule kürzlich eine sogenannte “Geschlechter-Austauschwoche” oganisiert haben.
    Es geht schon lange nicht mehr ums Wesentliche. Rechtschreibung und rechnerische Skills wie z. B. Kopfrechnen sind schlicht egal, aber digital.
    Quo vadis?
    Ich sehe keine rosige schulische Zukunft als Ergebnis dieser Entwicklungen.

  2. Es ist sicher verdienstvoll, die Fehlentwicklungen der Bildungsreformitis aufzuzeigen und eine “Renaissance der Schule” zu skizzieren. Wenn sich aber etwas in diese Richtung verändern soll, kommt man nicht umhin, gleichsam die “institutionelle Frage” zu stellen. Welche (politischen) Strukturen, Kräfte, Ideen, Anreize und Akteure haben sich zugunsten all der problematischen Reformen durchgesetzt und weshalb? Wenn nämlich auf dieser Metaebene keine Veränderungen gelingen, wird auch die Schule aus der Sackgasse nicht herauskommen.

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