Mathias Binswanger, was ist für Sie Mittelmass?
Das Fehlen von Originalität, Fähigkeiten, aber auch von Interesse. Aber ich ahne, auf was Sie hinauswollen …
Sie haben kürzlich gesagt: «Wir machen aus potenziell guten Handwerkern mittelmässige Akademiker.» Was heisst das konkret?
Wir wollen immer mehr Studenten, die dann einen Bachelor- oder einen Masterabschluss machen. Das klappt de facto aber nur, indem wir das Niveau senken. Wir fördern deshalb nicht Exzellenz, sondern Mittelmass. Lehrpläne und Studienpläne strotzen heute von grossartig formulierten Kompetenzen, doch in Wirklichkeit sind das oft leere Worthülsen.
Die Hochschulen sagen aber: Dank unserer Ausbildung fördern wir die Exzellenz …
Natürlich wird an Hochschulen auch Exzellenz gefördert, aber das gilt nicht für die Mehrheit. Es ist ein Trugschluss, wenn man glaubt, dass Bildung allein für gute Leistungen im späteren Beruf ausreicht. Es braucht auch Talent und Fähigkeiten, die nicht alle haben. Erst wenn Bildung auf Fähigkeit und Motivation trifft, kann daraus auch Exzellenz werden.
An einer Hochschule, so mein Verständnis, sollte die Spitze vertreten sein. Was bedingt, dass Akademiker in der Minderheit sein müssen, da dies ein Qualitätsmerkmal ist. Warum wird derart in die Breite verwässert?
Das beginnt schon mit den Fehlanreizen im Bildungssystem. Der Bund zahlt die Universitäten und Fachhochschulen nach Anzahl der Studenten und Abschlüsse. Also geht es diesen darum, möglichst viele Studenten mit möglichst vielen Abschlüssen zu haben. Das klappt aber nur, wenn man weniger streng als die Konkurrenz ist. So nivelliert sich das Niveau nach unten.
Aber ist es nicht ein hehres Anliegen: möglichst viel Bildung für möglichst alle …
Bildung an sich ist etwas Positives. Nur haben wir heute zu viel in die Bildung hineininterpretiert und glauben, alle Probleme mit Bildung lösen zu können. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die sich mit Bildung gut vermitteln lassen: etwa, wie man eine Präsentation macht. Sobald es aber um analytische Fähigkeiten geht, spielen auch die Fähigkeiten eine entscheidende Rolle. Es gibt heute eine Tendenz, oberflächliche Pseudokompetenz zu vermitteln. Doch kaum fragt man einmal genauer nach, wie man auf bestimmte Resultate kommt oder warum ein bestimmtes Argument gilt, wird das Eis dünn.
Aber was sollen denn Schüler anders tun, als eine Matur zu machen – und danach zu studieren? Es heisst immer: Ohne Hochschulabschluss hat man es auf dem Arbeitsmarkt schwer …
Letztlich befinden wir uns in einem Teufelskreis, den wir selbst geschaffen haben und weiter bewirtschaften. Weil die Anforderungen in vielen Berufen ansteigen, glaubt man, höhere Qualifikationen für ausgeschriebene Stellen verlangen zu müssen. Dies führt dazu, dass sich die Berufschancen für Menschen mit einer Berufslehre verschlechtern. Also streben auch Jugendliche mit guten handwerklichen oder technischen Fähigkeiten eine akademische Ausbildung an. Dadurch verschlechtert sich die Qualität der verbleibenden Lehrlinge, was wiederum dazu führt, dass Unternehmen höhere Bildungsanforderungen bei der Stellenausschreibung setzen.
Das ist doch grotesk. Vertreter aus vielen Ländern strömen seit Jahren in die Schweiz, weil sie sagen: Euer duales System, das ist unsere Idealvorstellung, wir wollen uns mindestens angleichen.
Ja, es ist schizophren. Einerseits sind wir stolz auf unser duales Bildungssystem. Andererseits haben wir Angst, den Anschluss an das Ausland zu verpassen, und befürchten, dass junge Menschen aus der Schweiz ohne akademische Ausbildung keine Chance haben. Diese Angst ist aber verfehlt. Schauen Sie mal, in welchen Berufen zurzeit ein Fachkräftemangel herrscht: Pflegefachpersonal, Elektromonteure, Verkaufsberater, Software-Entwickler, Schreiner, Köche, Gärtner, Polymechaniker. Da braucht es Praktiker mit ganz speziellen Fähigkeiten. Und die eignet man sich am besten «on the job» über eine Berufslehre an.
«Es zeigt sich, dass vor allem Länder mit hohen Maturitätsquoten eine hohe Jugendarbeitslosigkeit besitzen.»
Heute muss eine angehende Kindergärtnerin allerdings einen «Bachelor of Arts in Preprimary und Primary Education» machen, und ein künftiger Hauswart studiert «Facility Management» …
In gewissen Bereichen nimmt die Akademisierung groteske Züge an. Wer studiert, weiss noch lange nicht, wie man mit kleinen Kindern umgeht. Praxiserfahrung ist da viel wichtiger als das Verfassen einer mit Inhalten aus dem Internet zusammengeschusterten Bachelorarbeit. Und den Dozenten, welche diese Arbeiten betreuen müssen, fehlt die Zeit, sie wirklich zu lesen – weil ihr dafür vorgesehenes Zeitbudget nicht ausreicht. So mühen sich angehende Kindergärtnerinnen in einem Studium ab – statt den Umgang mit Kindern in der Praxis zu erlernen.
Praxiserfahrung ist da viel wichtiger als das Verfassen einer mit Inhalten aus dem Internet zusammengeschusterten Bachelorarbeit. Und den Dozenten, welche diese Arbeiten betreuen müssen, fehlt die Zeit, sie wirklich zu lesen
Diese Fälle sind bekannt. Aber: Sind das Ausnahmen, oder ist das die Regel?
Sie werden immer mehr zur Regel. Und ich erkenne noch einen anderen Nachteil. Nehmen wir das Beispiel des Pflegepersonals: Wie wir seit der Pandemie wissen, ist der Mangel gross. Also versucht man, Abhilfe zu schaffen, indem man bessere Bildungsperspektiven bietet. Doch die Pflegerinnen, die dann einen Bachelor machen, sind danach meist nicht mehr in der Pflege tätig, sondern landen in der Pflegebürokratie. Gleichzeitig bleibt der Mangel an Personal an der Pflegefront bestehen, ohne dass die Löhne wirklich ansteigen.
Mich erinnert dieser Trend immer an südeuropäische Länder mit Maturitätsquoten von 70, 80 Prozent. Wieso eifern wir einem solchen Vorbild nach?
Es zeigt sich, dass vor allem Länder mit hohen Maturitätsquoten eine hohe
Jugendarbeitslosigkeit besitzen. Das liegt auch daran, dass ein grösserer Teil der Maturanden nachher gar kein Hochschulstudium abschliesst und nicht auf eine praktische Tätigkeit vorbereitet ist. Also enden die Jugendlichen häufig in der Arbeitslosigkeit. Auch bei uns besteht die Gefahr einer Entwicklung in diese Richtung. Wir haben die Tendenz, in der Schweiz Dinge zeitlich verzögert umzusetzen, die sich im Ausland nicht bewährt haben.
Das knüpft an eine feurige Debatte in den letzten Wochen an, über den Wert eines universitären Studiums. Im Fokus standen die Geisteswissenschaften. Nach Kritik einer Dozentin brach ein Shitstorm über sie los, weil sie zugespitzte Aussagen gemacht hat. Aber eine inhaltliche Debatte gab es nicht. Fühlten sich da viele ertappt?
Nein, eine inhaltliche Debatte hat nicht wirklich stattgefunden, da sich die Dozentin zum Teil sehr ungeschickt geäussert hat. Eine generelle Kritik an Studenten von Geisteswissenschaften ist verfehlt. Es ist auch nicht wirklich klar, was Kosten und Nutzen eines bestimmten Studiums sind. Werden der Allgemeinheit Kosten aufgebürdet, wenn Akademiker nach einem Studium der Geisteswissenschaften Teilzeit oder gar nicht arbeiten? Oder geben Teilzeit-Akademiker wichtige Bildung an ihre Kinder weiter, weil sie mehr Zeit für diese haben? Und sparen wir dadurch Kosten für Fremdbetreuung? Das muss man ganzheitlich anschauen.
Wie lautet Ihr inhaltliches Fazit?
Es gibt deutlich mehr Studenten in Geisteswissenschaften als etwa in technischen Studiengängen. Die Anforderungen sind weniger streng. Ein angehender Ingenieur muss ziemlich viel leisten, und das Studium ist hart. Es gibt viel Mathematik und Physik: Fächer, die bei einer Mehrheit wenig Begeisterung hervorrufen. Diese Studiengänge werden dann nur von einer Minderheit absolviert, die auch die entsprechenden Fähigkeiten und das Interesse hat.
«Eltern mit akademischer Ausbildung schämen sich geradezu, wenn es den eigenen Kindern ‹nur› für eine Lehre reicht.»
Könnte dieser Überhang auch daran liegen, dass viele nach der Matur gar nicht genau wissen, was sie machen sollen? Da bietet sich natürlich zu Recht eher ein Geschichtsstudium an als eines der Nanowissenschaften …
Natürlich, und damit sind wir wieder beim Problem, dass wir immer mehr Jugendliche ans Gymnasium schicken.
Besonders bei Akademikern …
So ist es. Eltern mit akademischer Ausbildung schämen sich geradezu, wenn es den eigenen Kindern «nur» für eine Lehre reicht. Das ist eine Statusfrage. Dahinter verbirgt sich oft auch Unkenntnis über unser heutiges Bildungssystem. Die Entstehung der Fachhochschulen hat die späteren Berufsmöglichkeiten mit einer Lehre stark erweitert. Wer heute nach einer Lehre studieren will, dem stehen über die Berufsmatura und ein Fachhochschulstudium alle Wege offen.
Als mittelmässiger Absolvent eines Wirtschaftsstudiums habe ich mehr Respekt vor einem Handwerker, der danach ein eigenes Geschäft eröffnet. Warum haben wir die Hochachtung vor dem KMU-Unternehmertum verloren? Wir sprechen ja immer noch davon, dass KMU die tragenden Säulen der Schweiz sind.
Wo immer möglich, betont die Politik die Wichtigkeit der KMU für die Schweizer Wirtschaft. Doch im heutigen Bildungsalltag spielen diese oft nur eine untergeordnete Rolle. Wir kreieren einen Hype um Start-ups und Spin-offs von Universitäten – und vergessen dabei, dass gerade die «normalen» KMU in der Schweiz entscheidend zur Innovationsfähigkeit unseres Landes beitragen.
In Wirklichkeit haben die ganzen Reformen vor allem zum Aufbau von Potemkinschen Dörfern und zum Ausbau einer Bildungsbürokratie beigetragen.
Diese ganzen Diskrepanzen, über die wir sprechen: Gründen diese auf politischem Versagen? Die Politik ist es, die die zahlreichen Reformen durchgeboxt hat.
Ja, wie es ein früherer Rektor der Universität St. Gallen einmal formuliert hat: Man muss nicht begründen, wieso man eine Reform macht, sondern, wieso man keine macht. Politiker schwärmen vom Lehrplan 21 oder von der KV-Reform. Man hat das Gefühl, dass man mit Reformen Probleme löst. In Wirklichkeit haben die ganzen Reformen vor allem zum Aufbau von Potemkinschen Dörfern und zum Ausbau einer Bildungsbürokratie beigetragen.
Erzählen Sie.
Wenn ich etwa die im Lehrplan 21 formulierten Kompetenzen für die 7. bis 9. Klasse zum Thema «Märkte und Handel verstehen – über Geld nachdenken» anschaue, dann muss ich sagen: Da wäre ich froh, wenn unsere Studenten an der Fachhochschule diese Kompetenzen hätten. Als Kompetenzen formulierte Lernziele animieren dazu, grossartige Worthülsen zu basteln, um damit neue Bildungsfiktionen zu errichten.
Wenn die Maturitätsquote immer weiter steigt, dann werden Aufnahmeprüfungen und Tests unumgänglich – für Maturanden und für Lehrlinge.
Das ist ein genereller Trend. Auch im KV, der beliebtesten Ausbildung der Schweiz, lösen Kompetenzen die Schulfächer ab. Künftig wird Small Talk unterrichtet anstatt Rechnungswesen. Wo soll das enden?
Ich will nicht dramatisieren, im internationalen Vergleich ist das Schweizer Bildungssystem immer noch gut. Aber wir tragen diesem System zu wenig Sorge und werten es klammheimlich selbst immer mehr ab.
Aber es ist doch schon so, dass davon nicht auszugehen ist: Es ist von Bildungsgerechtigkeit die Rede, in Basel-Stadt auch von der Migration …
Das ist so. Unter dem Deckmantel «Bildung für alle» werden die Universitäten immer mehr zu überfüllten Masseninstitutionen. Dies führt dann dazu, dass ein Studium an einer Durchschnittsuniversität nicht mehr viel gilt. Es kommt zur Bildung von Eliteuniversitäten.
Wie in den USA?
Genau. Es entsteht dann ein noch viel elitäreres Bildungssystem, bei dem nur noch das Studium an einer Eliteuniversität wirklich zählt.
Die Politik will aber nicht reagieren. Aufnahmeprüfungen für den Übertritt ins Gymi oder ein Numerus clausus bei den meisten Studiengängen: Das ist verpönt.
Solange wir ein bestimmtes Bildungsniveau mit einer Matura garantieren können, brauchen wir das gar nicht. Doch wenn die Maturitätsquote immer weiter steigt, dann werden weitere Prüfungen und Tests sowohl für Maturanden als auch für Lehrlinge unumgänglich. Wir beobachten schon heute, dass Unternehmen ihre Lehrlinge gern aus ländlichen Regionen rekrutieren, wo die Zahl der Gymnasiasten geringer und die Durchschnittsqualität der Lehrlinge besser ist.
Sebastian Briellmann ist Autor der Basler Zeitung. Dieses Interview ist zuerst in der Basler Zeitung erschienen
Der Aufbau von Potemkinschen Dörfern in der KV-Reform wurde von deutschen und österreichischen Akademikerinnen entworfen und ausgestaltet. Von Linguistinnen oder Hochbautechnikerinnen, die weder den Alltag eines Lehrbetriebs noch die Lernenden von nahem kennen. Und ja, es fliesst sehr, sehr viel Geld in diesen Bildungsreformen. Es ist sehr lukrativ, sich mit den richtigen Partnern zu verbünden.
Herr Binswanger lässt ausser acht, dass auch die Personenfreizügigkeit mit ein Treiber dafür ist, dass immer mehr die Matura machen wollen, und zwar in zweierlei Hinsicht: einerseits durch die zugewanderten Eltern, häufig Akademiker, die das duale Bildungssystem nicht verstehen und ihre Kinder unbedingt ans Gymi bringen wollen, und anderseits durch den Umstand, dass wegen der Personenfreizügigkeit ein Abitur oder ein Baccalaureate einer Matura gleichgesetzt wird. Letztes führt dazu, dass oft mittelmässige Arbeitstätige denjenigen als Chef vorgesetzt werden, die hierzulande „nur“ eine Lehre gemacht haben. Die Reaktion lässt halt nicht auf sich warten.