Aus heiterem Himmel prasselten in den letzten Tagen Berichte über einen dramatischen Lehrermangel auf die Öffentlichkeit nieder (siehe auch Nebelspalter). Der Schock ist auch eine Folge davon, dass in den Medien die Bildungspolitik seit vielen Jahren ein Schattendasein fristet und qualitativ sowie quantitativ weit hinter der Tigermücke, dem Benzinpreis, den Affenpocken oder den Weerkapriolen herhinkt. Schon ein flüchtiger Blick in die Zeitungen belegt, dass der Misere an unseren Schulen bedeutend weniger Aufmerksamkeit zuteil wird, als etwa dem Zustand der Schweizer Fussball–Nationalmannschaft.
Die schrillen Weckrufe haben hektische Aktivitäten ausgelöst. Auf Initiative des Schweizerischen Lehrervereins (LCH) werden in verschiedenen Kantonen politische Vorstösse für ein Monitoring zur Sicherstellung von ausreichendem und qualifiziertem Lehrpersonal eingereicht. Im Kanton Basel–Landschaft denkt eine Arbeitsgruppe der Bildungsdirektion über kurz–, mittel– und langfristige Massnahmen zur Behebung des Missstandes nach.
Die Schulen und ihre Lehrkräfte hatten eine Phase permanenter Reformen hinter sich.
Die Fragestellung des Zürcher Instituts für Arbeitsforschung und Organisationsberatung lässt sich nach Aussagen der Wissenschaftler auf die gesamte schweizerische Schullandschaft übertragen und gilt unverändert bis zum heutigen Tag: Zu dieser Zeit, so die damalige Ausgangslage, befand sich das Schulsystem zusehends im Spannungsfeld von innerem Druck und äusserer Kritik. Die Schulen und ihre Lehrkräfte hatten eine Phase permanenter Reformen hinter sich. Die Überlastung der Lehrkräfte war bereits seit längerem ein unüberhörbares Thema. Gleichzeitig erfuhr der Lehrerberuf einen laufenden Imageverlust in der Öffentlichkeit. Die Schule stand zusehends in der öffentlichen Kritik als eine Institution, die ihren Auftrag nicht zufriedenstellend erfüllen kann. 2022 also wie 2001.
Die Ergebnisse der Untersuchung von Arbeitsbedingungen, Belastungen und Ressourcen der Lehrerinnen und Lehrer waren wenig überraschend. Ein paar Gespräche in der Kaffeepause in einem beliebigen Lehrerzimmer hätten die gleichen Erkenntnisse – schneller und preisgünstiger – zu Tage befördert. Sie sind (leider) unverändert auch nach über zwanzig Jahren aktuell.
Interessanterweise spielte die Forderung nach einer besseren Entlöhnung keine prioritäre Rolle; ein klarer Hinweis darauf, dass die Berichterstattung der letzten Wochen in den Medien mit dem Schwerpunkt «Lohn» an den tatsächlichen Sorgen der Lehrerschaft vorbeigeführt hat.
Als besonders belastend wurden folgende Punkte festgestellt:
- ausgeprägte Merkmale emotionaler Erschöpfung
- Verhalten «schwieriger» Schülerinnen und Schüler
- Heterogenität der Klasse
- Administrative Pflichten
- Ausserunterrichtliche Verpflichtungen
- Berufliches Image und Prestige
- Koordination von beruflichen und ausserberuflichen Verpflichtungen
- Zeitdruck bei der Arbeit
- Klassengrösse
- Neuerungen, Veränderungen im Schulsystem
Interessanterweise spielte die Forderung nach einer besseren Entlöhnung keine prioritäre Rolle; ein klarer Hinweis darauf, dass die Berichterstattung der letzten Wochen in den Medien mit dem Schwerpunkt «Lohn» an den tatsächlichen Sorgen der Lehrerschaft vorbeigeführt hat.
Aufblähung der Bildungsbürokratien
Kein einziges der in der Untersuchung von 2001 beschriebenen Probleme wurde seither entschärft. Im Gegenteil: Die Aufblähung der Bildungsbürokratien hat den administrativen Aufwand («Papierkrieg») massiv erhöht, die überstürzt durchgezwängte Einführung der integrativen Schule mit der Abschaffung der Kleinklassen hat die Heterogenität in den Klassen noch zusätzlich verstärkt. Das Image und die Autorität der Lehrkräfte haben weiter gelitten, die Ansprüche der Gesellschaft steigen stetig an. Das eigentliche Kerngeschäft wird immer weiter in den
Hintergrund gedrängt. Bereits 1999 hat die Studie von Hermann J. Forneck, dem ehemaligen Direktor der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, die strukturell bedingten Überzeiten von Lehrpersonen der Volksschule bestätigt: zu wenig Zeit für den Kernauftrag des Unterrichtens, zu viel Aufwand für zusätzliche Aufgaben, oft auch Nebensächliches.
Die fahrlässige Missachtung der Probleme durch die politisch Verantwortlichen über Jahrzehnte hat die Flucht aus dem Schulzimmer gefördert. Denn eigentlich besteht überhaupt kein Lehrermangel. Die Zahl der Studierenden an den Pädagogischen Hochschulen hat sich innert 15 Jahren mehr als verdoppelt. Auch Heilpädagoginnen und Heilpädagogen werden in genügender Zahl ausgebildet. Wir haben also nicht zu wenig Lehrkrätfe, sondern zu viele Lehrer und Lehrerinnen, die zu wenig unterrichten. Von den Zürcher Lehrerinnen und Lehrer unterrichten 80 Prozent in einen Teilzeitpensum. Im Durchschnitt beträgt ihr Arbeitspensum 69 Prozent eines regulären Pensums. Heilpädagogen arbeiten häufig nur wenige Stunden. Es gibt Schulleitungen, die können ihre Ressourcen nicht nutzen, weil die passenden Lehrer nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Mit mehr Geld ist diesen Schwierigkeiten nicht beizukommen.
Die vielen Teilzeitstellen führen nicht nur zu «Lehrermangel», sondern fördern auch die unselige Entwicklung, dass die Kinder bereits in der Primarschule mit mehr als einem halben Dutzend Lehrkräften konfrontiert sind.
Verzettelung, Unruhe, Hektik
Die vielen Teilzeitstellen führen nicht nur zu «Lehrermangel», sondern fördern auch die unselige Entwicklung, dass die Kinder bereits in der Primarschule mit mehr als einem halben Dutzend Lehrkräften konfrontiert sind. Ein sogenannter Klassenlehrer mit den Fächern Turnen
und Französisch ein paar Stunden wöchentlich ist keine Ausnahme mehr. Diese Verzettelung führt zusätzlich auch noch zu Stundenplänen, die in ihrer Unübersichtlichkeit an ein Maislabyrinth erinnern. Das produziert Unruhe und Hektik. Eine Lösung wäre, eine minimale Stundenzahl für die Lehrkräfte festzulegen, Kleinstpensen also zu verbieten. Die Forderung ist nicht populär, in linken Kreisen sowieso nicht, kein Weg aber führt daran vorbei. Es ist einfach nicht zu verantworten, dass die Gesellschaft Jahr für Jahr Tausende Lehrkräfte ausbildet und diese dann ihre Fähigkeiten den Schulen nur in homöopathischen Dosen zur Verfügung stellen. Voraussetzung allerdings ist, dass die Rahmenbedingun- gen der Lehrtätigkeit verbessert werden. Auch eine Entschlackung der Bildungsbürokratie (schlanker Staat nennen das die Bürgerlichen in der Theorie) hätte positive Auswirkungen auf den Schulalltag, insbesondere auf den administrativen Aufwand für die Werktätigen an der «Front». Und nicht zuletzt: Die Wiedereinführung der Kleinklassen ist unerlässlich.
Roland Stark, 42 Jahre lang Lehrer in Kleinklassen in Pratteln und Basel, Heilpädagoge
Ich habe als Sekundarlehrer die letzten dreissig Jahre im Vollpensum unterrichtet, zum Teil in bis zu sieben Fächern gleichzeitig.
Das einzige, was mir wirklich auf den Sack ging, war die z. T. arrogante Führung des Systems Schule durch Nichtkönner und Selbstanmassende. Diese Scheinelite verantwortet auch all die sinnlosen Reformen, denen ich mich, so gut wie es ging, nie wirklich unterzog. Viel wichtiger war mir die bindungsbasierte Pädagogik: Wirklich dazusein für die Schülerinnen und Schüler. Doch diese Aufgabe erledigt heute ja die Digitalisierung…
Ich bin raus!