Seit knapp einem Jahr bin ich pensioniert. Langsam mache ich mich daran, alle meine Plasticmäppchen meiner über 30-jährigen Unterrichtstätigkeit an Volksschule, Gymnasium und Universität zu entsorgen. Übrig bleiben Erinnerungen und eine Wehmut, nicht mehr täglich im Kontakt zu sein mit dem Power der Jugend, der mir so viel gegeben hat. Stellvertretend für alle diese jungen Leute, die ich die Ehre hatte, in Deutsch und Geschichte zu unterrichten, soll ein Text stehen, den ich zum Glück zur Seite gelegt habe: Welch eine poetische Kraft und welche Lebensweisheit steckt doch in diesem Aufsatz! Und ich will nichts weiter dazu sagen. Nicht, wer ihn geschrieben hat. Nicht, in welchen Lebensumständen er entstanden ist. Nicht, was ich für einen Kommentar dazu verfasst habe und schon gar nicht, welche Note ich dem Text gab. Einfach eine Hommage an die Jugend!
Wenn am Morgen die Sonnenstrahlen
der stark leuchtenden Sonne
in mein verträumtes Zimmer eintreffen,
so will ich der heutigen Welt
ein Stück Freude von mir geben.
Doch wenn es der heutigen Welt scheint,
dass mein Ich meint bedeutsamer zu sein,
dann trete ich zurück
und in mir sagts
«Das behalte ich besser für mich»
Wenn am Mittag mir der Appetit
nach frisch Gekochtem grösser wird,
so will ich ihn teilen, meinen Appetit.
Der jetzigen Welt nahebringen,
wie gerne ich während dem Essen
«Ballaire-City-Jazz»
hören und dabei die Füsse tanzen lassen würde.
Doch wenn meine Worte in der jetzigen Welt
keine Aufmerksamkeit erhalten,
dann will ich die Musik sprechen lassen,
aber sie ist nicht laut genug
und in mir sagts
«Das behalte ich besser für mich»
Wenn am Nachmittag das Clafoutis au Chocolat
von mir aufgegessen werden will,
ich den schönen Tag mir verschönern will,
so möcht ich teilen, mein Dessert.
Doch seh ich einen Jungen,
der stiehlt ein Gebäck,
läuft davon und wartet nicht auf mein
«nimm doch mein bezahltes Gebäck»
und die Angestellte nichts davon bemerkt,
dann will ich ihr von der untreuen Tat berichten,
doch Empfindsamkeit versetzt mich in die Sicht des Jungen,
wohl hatte er Hunger und kein Geld bekommen.
In Leere alleingelassen schaue ich dem Jungen nach
und in mir sagts
«Das behalte ich besser für mich»
Wenn nach der Arbeit
die tägliche Feier am Abend erscheint,
so möchte ich geniessen meinen Abendwein.
Doch wenn an der Ampel eine ältere Dame
beim Angebot meiner Hilfe, ihre Tasche zu tragen,
meinen müsse, ich sei ein Dieb, der ihr die Tasche nimmt,
dann will ich mit meinem Mundwerk erklären, wer ich bin,
aber rechtfertigen muss ich mich nicht.
Und in mir sagts
«Das behalte ich besser für mich»
Nicht die Tasche, sondern das Reden über mich.
Wenn am Abend die Sonne stirbt
und das Dunkellicht vordringt,
so meine Seele die Ruhe sucht,
dann dem Sternenhimmel die Blicke zuwerfen will.
Doch seh ich auf der Sternenwiese den ganzen
Kummer, Schmerz und die ganze Last,
verdrängt in benutzten Nadeln und kleinen, leeren Tüten,
dann möcht ich nicht schweigen über aller Probleme.
Doch wenns niemanden gibt, der was unternehmen will
und keinen, der hinschaut,
dann vergeht das Licht in meinem Herzen
und in mir sagts
«Das behalte ich besser für mich»
Wenn in der Nacht mein müd’ gewordnes Herz
Sich wieder in seine Hütte verkriecht,
so fragt es den Sternenhimmel im stillen Augenblick,
ob es das Gute noch gibt.
Doch fällt mein Körper kraftlos,
nicht wie am Morgen voller Energie, wieder in sein Schlafnest,
dann wird mir, wie in jener Nacht, wieder bewusst,
dass es kein Gut, kein Böse gibt.
Es lebt in Schwach und Stark,
doch zu welchem gehört das «Es» ?
Meine Nachtgedanken will ich aussprechen,
in diesem stillen Augenblick,
doch weil jeder für sich lebt,
lass ich mich und meine Gedanken still
und in mir sagts
«Das behalte ich besser für mich»
Wenn ich vom Drang der Entleerung
aus meiner Welt der Träume erwach,
mit noch geschlossenen Augen mich ins Bad fortbeweg
und mit dem Lichtschalter die Dunkelkeit erhell’,
mit den Unterhosen bis zu den Knien runtergezogen
auf dem Klo sitz’,
in meinen Händen Zeitung von gestern halt’,
dann die Meldung seh’,
welche berichtet den Raub der Tasche einer älteren Dame,
den erwischten Täter, der kein Daheim hatte,
den Tod der Obdachlosen wegen Überdosierung,
so will ich reden,
doch erstarren meine müden Augen, mein müder Mund
und in mir sagts
«Das behalte ich besser für mich»
Wenn meine Seele in der Nacht
zurück ins Schlafnest kehren will,
mein Haustelefon am Klingeln ist,
darauf eine unbekannte Nummer steht,
dann nimm ich den Hörer ab,
wobei mir eine Stimme sagt
«Hättest du was gemacht»
Und ich antworten will,
dass reden einfach, jedoch sich selbst teilen schwer ist.
Aber in mir sagts
«Das behalte ich besser für mich.»
Die Redaktion schreibt in ihrer Einführung, dass hier ein Text eines Schülers abgedruckt werde. Ich habe lange mit meinen Mitbewohner*innen darüber diskutiert, ob ich etwas zu Geschlecht, Alter, Lebensumständen, sozialer Schicht oder Migrationshintergrund sagen solle. Und ich habe mich dazu entschieden, bewusst gar nichts dazu zu sagen, nur den Text für sich selbst sprechen zu lassen. Und ich merke nun, dass es beim Lesen der redaktionellen Einleitung etwas mit mir macht, wenn da von einem “Schüler” die Rede ist, dessen Text hier abgedruckt wird. Es entsteht ein inneres Bild, das die Lektüre beeinflusst, ob ich will oder nicht. Tja, die Sprache ist eine vielschichtige Wesenheit…..!
Wunderbar zu lesen, dieser wie ein Gedicht gestaltete Text. Er belegt einen Deutschunterricht, der dem Klang der Sprache folgte, so dass es dem Schreibenden möglich wurde, seine Empfindungen hörbar werden zu lassen. Ich danke für die über 30 Jahre intensiv gestaltete Arbeit und wünsche sie mir mit aller Sehnsucht zurück.