21. November 2024

Diese Integration steht schief in der aktuellen Bildungslandschaft – 20 Überlegungen

Condorcet-Autor Dr. Riccardo Bonfranchi unterstützt die Bestrebungen der Basler Lehrkräfte, vor allem im Interesse der betroffenen Kinder. Er schickte uns dazu 20 Argumente.

Riccardo Bonfranchi, Sonderpädagoge: . Regelschulen haben diese Aufgabe nicht in ihrem Pflichtenheft und sind auch nicht darauf eingerichtet; weder inhaltlich noch personell.

1. Es ist eine einfach zu erklärende Tatsache, dass behinderte Kinder in der Regelschule weniger gut gefördert werden können als in Kleinklassen. Regelschulen haben diese Aufgabe nicht in ihrem Pflichtenheft und sind auch nicht darauf eingerichtet; weder inhaltlich noch personell.

2. Die Abschaffung der Kleinklassen ist ein Verlust für das gesamte Schulsystem. Diverse Gemeinden sind dazu übergegangen, solche Kleinklassen wieder einzuführen. Dies teilweise unter anderen Bezeichnungen.

3. Es kann für ein behindertes Kind kein Vergnügen sein, Tag für Tag zu erleben, dass es im Grunde nicht zur Klassengemeinschaft dazu gehört, weil a) für es immer eine ‘spezielle’ Lehrerin kommt und b) weil es den üblichen Stoff, der vermittelt wird, nicht oder nur ansatzweise versteht.

4. Im sozialen Bereich erreicht das behinderte Kind seine nicht behinderten ‘Mitschüler’ auch nicht. Es versteht deren Sprüche und Witze nicht und umgekehrt. Wenn das behinderte Kind selber etwas zum Besten gibt, verdrehen die anderen Kinder, heimlich oder offen, die Augen. So sind Kinder nun mal.

Diese Bildungslandschaft hat sich in den letzten ca. 5 Jahrzehnten immer weiter aufgefächert, spezialisiert (Fachmittelschulen, Sek. A, B, ev. auch noch C, Lehre mit oder ohne BMS, Höhere Fachschulen, Fachhochschulen, spezielle Klassen, Schulen für Hochbegabte usw. usf.).

5. Diese Integration steht völlig schief in der aktuellen Bildungslandschaft. Diese hat sich in den letzten ca. 5 Jahrzehnten immer weiter aufgefächert, spezialisiert (Fachmittelschulen, Sek. A, B, ev. auch noch C, Lehre mit oder ohne BMS, Höhere Fachschulen, Fachhochschulen, spezielle Klassen, Schulen für Hochbegabte usw. usf.).

Zuerst integriert und dann ausgesondert.

6. Die meisten der im Kindergarten oder Unterstufe ‘integrierten’ behinderten Schüler, werden in der Mittel- bzw. Oberstufe in eine Heilpädagogische Sonderschule umplaziert. Warum ist das so?

7. Die später in eine Heilpädagogische Sonderschule umplazierten Schüler fallen dadurch auf, dass sie im Bereich alltäglicher Verrichtungen (Selbständigkeit, Verrichtungen des alltäglichen Lebens,  etc.), wesentlich weniger gut gefördert sind, als ihre neuen Mitschüler.

8. Weil es an einer Heilpädagogischen Sonderschule i.d.R. Physiotherapeutinnen, Logopädinnen und Ergotherapeutinnen gibt, die spezialisiert auf behinderte Kinder und Angehörige des Teams sind, so ist dies in der Regelschule nicht der Fall und alle diese Therapien müssen gesondert organisiert werden. In der Heilpädagogischen Schule gibt es z. B. Logopädinnen, die sich mit den Problemen z. B. von Essen, Kauen und Schlucken auskennen. Darüber wissen Logopädinnen in der Regelschule meistens wenig. Ihre Problemstellungen sind andere (Stottern etc.).

9. Diese sogenannte schulische Integration ist wesentlich teurer als ursprünglich gedacht und womit vor ca. 20 Jahren Politiker und Verwaltungsbeamte der Bildungs- bzw. Erziehungsdirektionen geködert worden sind.

10. Die soge. Integration von behinderten Kindern führt dazu, dass in vielen Klassen teilweise bis zu 4, 5 oder mehr erwachsene Regellehrerinnen, Heilpädagoginnen, Therapeutinnen, DAZ-Lehrerinnen, Psychomotorik-Therapeutinnen etc. fungieren. Wie da eine persönliche Beziehung zwischen Lehrkraft und SchülerInnen entstehen kann, ist in höchstem Masse fraglich. Von der alltäglichen Unruhe im Klassenzimmer, die dies mit sich bringt, ganz zu schweigen.

11. Es könnte ein Zusammenhang zwischen dieser sogenannten Integrationsbewegung und der in der Gesellschaft akzeptieren Praxis der Pränatalen Diagnostik geben. Dies als gesellschaftlicher Reflex des Letzteren auf das Erste.

12. Schwerst- mehrfach behinderte Kinder und verhaltensauffällige Kinder werden i.d.R. nicht integriert. Sie gehen alle in eine Heilpädagogische Sonderschule. Das gleiche gilt für verhaltensauffällige Kinder. Hier fördert die soge. Integration eindeutig eine Separation.

13. Die wahre Integration bzw. Durchmischung findet deshalb in der Heilpädagogischen Sonderschule und nicht in der Regelschule statt. Dies ist aber kein befriedigender Zustand für eine HPS, weil sie diese Heterogenität auch überfordert. In einer einzigen Klasse in der Heilpäd. Sonderschule können z. B. lernbehinderte, geistig behinderte, schwerst- mehrfach behinderte und nicht kognitiv beeinträchtigte, aber verhaltensauffällige Kinder sein.

14. Diese soge. Integrationsbewegung nützt vor allem den Eltern, die es lieber haben, wenn die Schuladresse ihres behinderten Kindes diejenige einer Regelschule ist. Dies so lange, bis sie mitbekommen, dass ihr Kind kaum Fortschritte macht. Sie nützt vor allem auch all den Menschen, die sich als Gut-Menschen wohlfühlen (wollen).

15. Sinnvoller und dies im Sinne der behinderten Kinder wäre es, wenn Klassen aus Heilpädagogischen Sonderschulen und Regelschulen gemeinsame, zeitlich befristete Projekte (Lager, Zoo-Besuche, Theateraufführungen, Teil-Integrationen usw.) durchführen würden. In denen würde der intellektuelle Aspekt keine Rolle spielen.

16. Im Erwachsenenbereich von Werkstätten und Wohneinrichtungen für Behinderte findet keine Diskussion bzgl. Integration in einen Regelbereich statt. Die Regelschule bzw. einige Exponenten von ihr, werkeln hier auf Kosten der behinderten Kinder an einer utopischen Inselidee, die letztendlich nur sie selber befriedigen kann. So lange bis wieder etwas Realität und Vernunft einkehrt.

17. Im Bereich der Kinder und Jugendlichen mit einer Sinnesbehinderung (gehörlos, sehbehindert, blind) findet diese soge. Integrations-Diskussion kaum statt. Es ist auffällig, dass diese soge. Integrationsbewegung fast nur die Kinder ‘erfasst’ hat, die über intellektuelle Schwächen verfügen. Also ob Schule nicht in erster Linie ein Ort ist, in der die Intellektualität (Bildung) gefördert wird.

18. Im Bereich der Kinder, die wirklich hochbegabt sind, werden separate Klassen oder sogar Schulen errichtet, weil man bei ihnen von besonderen Lern-Lehr-Bedürfnissen ausgeht. Frage: Ist das bei z. B. Kindern mit einer geistigen Behinderung nicht auch genauso der Fall?

19. Die soge. Integration wird der Persönlichkeit und den persönlichen Bedürfnissen von behinderten Kindern nicht gerecht. Sie werden als Mittel zum Zweck einer (Schein-)Normalität missbraucht. Deshalb kann man davon sprechen, dass diese soge. Integrationsbewegung die Würde dieser Kinder und Jugendlichen verletzt.

20. Fazit: . Es gibt eine unendliche Vielfalt menschlicher Daseinsformen und alle sind gleichwertig. Aber nicht alle können, müssen oder sollen gleichwertig behandelt, sprich: gefördert werden. Die heutige Integrations- bzw. Inklusions»bewegung» trivialisiert und bagatellisiert damit die jeweilige Behinderung des Individuums. Sie muss als eine Form der Würdeverletzung dieser Personen angesehen werden.

Dr. Riccardo Bonfranchi

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Der aktuelle Newsletter – diesmal von unserer Gastautorin Dr. Marianne Wüthrich verfasst – entlässt uns mit vielen Denkaufgaben in die Sommerpause.

Ein Kommentar

  1. Eltern gewinnen Gerichtsfall gegen die Regierung wegen mangelhafter Schulausbildung (THE NEW ZEALAND HERALD vom 11.5.2002)

    Neuseeland hat seit 1988 eine Unzahl verschiedenster neoliberaler NPM-Reformen durchgeführt, die mit rigorosen Sparmassnahmen verbunden waren. Bis 1997 erhielten Kinder zusätzliche Hilfe in normalen Grundschulen und andere lernten in speziellen Einrichtungen. Dann änderte die Regierung ihre Politik, um alle Kinder in die normale Schule einzugliedern und schnitt die bisherige Unterstützung für viele Kinder und ihre Eltern ab. Ein Drittel der Sonderschulen des Landes wurde geschlossen, so dass die Kinder schlechter gestellt waren und die Eltern sich “wütend, ohnmächtig und verraten” fühlten, wie es in einem Bericht an die neue Labour-Regierung fünf Jahre später hiess. Doch 14 der Eltern beschlossen, die Rechtmässigkeit der Entscheidung anzufechten. Letzten Monat wurden sie von Gericht in ihrem Anliegen bestärkt, der entschied, dass die Regierung aufgrund der Verfassung verpflichtet sei, jedem Kind eine angemessene Bildung zukommen zu lassen.

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