«Viele [kamen] mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, viele hager, wie ausgezehrte Gerippe, mit Augen voll Angst und Stirnen voll Runzeln der Sorge; […] andere vom Elend erdrückt.»[1] So schildert Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) die Ankunft der kriegsversehrten Kinder in seinem Stanser Waisenhaus. Es war Anfang Dezember 1798 – im ersten Jahr der Helvetischen Republik (1798-1803).
Die Implosion der Alten Eidgenossenschaft
Pestalozzis berührender Beschrieb kam mir bei der Lektüre eines Korrespondentenberichts aus Afghanistan in den Sinn. Die Nachricht aus dem Hindukusch wühlt auf: Millionen von Kindern hungerten; die Lage sei desolat.[2] Besonders erschütternd: das Bild eines unterernährten Kleinkindes, ausgemergelt und spindeldürr. Ähnliches hat wohl Pestalozzi im Nachkriegs-Mikrokosmos von Nidwalden erlebt.
Was war geschehen? Die Französische Revolution von 1789 erscheint vielen wie ein tektonisches Beben, wie ein Vulkanausbruch. Die revolutionäre Lava des politischen Umbruchs wälzt sich über den ganzen Kontinent. Napoleons Armeen haben leichtes Spiel, der Widerstand ist gering. Seine Truppen besetzen auch die Schweiz. Der rebellische Ruf von «Liberté, Egalité, Fraternité» bringt morsch Gewordenes zum jähen Einsturz. Im Frühling 1798 bricht die Alte Eidgenossenschaft zusammen. In Aarau installiert sich die Helvetische Regierung.
Elffache Übermacht
Die neue Zentralbehörde verlangt den Eid auf die Helvetische Einheitsverfassung. Die Nidwaldner lehnen ab und verwerfen sie. Vermittlungsversuche scheitern; Ultimaten werden nicht einmal beantwortet. So kommt es zur angedrohten militärischen Invasion. Am 9. September 1798 erobern und besetzen französische Einheiten unter dem Kommando von General Schauenburg den kleinen Freistaat – gegen einen zwar heroischen, aber letztlich aufreibend aussichtslosen Widerstand.
1’600 Nidwaldner kämpfen gegen eine fremde Übermacht von 17’700 Berufssoldaten. Rund 100 Franzosen und 100 Nidwaldner verlieren in den erbitterten Kämpfen ihr Leben. Weitere 300 Frauen, Männer und Kinder sterben bei den Racheakten der Okkupationsarmee. Über 330 Häuser und gegen 200 Ställe gehen in Flammen auf; fast zehn Kirchen und Kapellen werden zerstört.[3] Die Gegend ist «zum grössten Teil verbrannt und verwüstet», berichtet Schauenburg. Unerhörtes Leid als Folge der Strafexpedition!
Nur ein gebildetes Volk kann mitbestimmen
Die überall greifbare Not trifft vor allem die Kinder, aber nicht nur. Die Leute hausen zum Teil in armseligen Hütten, «die sie zur üssersten noth gegen Wind und Wetter schützen». «Das Elend [der Bevölkerung] ist unbeschreiblich gross und es wachst mit jedem Tag», schildert ein Regierungsbeamter die Lage im Januar 1799. Er fügt bei: Kälte und Frost hätten die wenigen Kartoffelvorräte vernichtet. In der Not würden die Leute nun verdorbene Knollen essen, was sie krank mache.[4]
Im Rahmen des drängenden Wiederaufbaus plant die helvetische Regierung für Stans ein Erziehungs- und Armenhaus – für Kinder ab sechs Jahren. Der Umbau des Bildungswesens gehört zu den zentralen Zielen des neuen Staates. Der Auf- und Ausbau der Schulen hat höchste Priorität. Die Devise: Nur ein gebildetes Volk kann die neue Republik konkretisieren und demokratisch mitbestimmen.
Ein zuversichtliches «Ich gieng gern»
Die Aufgabe ist enorm schwierig. Gesucht wird ein Katholik; doch er lässt sich nicht finden. So fällt die Wahl auf den Protestanten und Sympathisanten der Helvetischen Republik, Johann Heinrich Pestalozzi. Ob er sich der Klippen bewusst ist? Kaum. «Ich gieng gern», konstatiert er voller Zuversicht. Am 7. Dezember 1798 zieht er ins Frauenkloster ein. Doch er trifft auf eine Baustelle; zudem ist das Gebäude «zu dem Zwecke eines Waisenhauses [mit] einer beträchtlichen Anzahl Kinder keineswegs eingerichtet».
Mitte Januar 1799 wird das Waisenhaus offiziell eröffnet – mit 45 Kindern. Noch finden sich überall Schutt und Schmutz. «Der Mauerstaub füllte alle Gänge», schreibt Pestalozzi. Das «vollendete das Unbehagliche des Anfangs.» Und er ergänzt: «Ich musste im Anfang die armen Kinder wegen Mangel an Betten des Nachts zum Theil wieder heimschicken. Diese kamen dann am Morgen mit Ungeziefer beladen zurück.»
Äusserst schwierige Alphabetisierung
Schon bald betreut Pestalozzi über 80 Kinder; einzig eine Haushälterin hilft ihm. Die Aufgabe erfordert fast herkulische Kräfte. Eine pädagogische Grenzsituation! Wie anspruchsvoll sich seine Mission gestaltet, zeigt sich in der Tatsache: «Unter zehn Kindern konnte kaum eins das Abc», klagt er. «Lesen [bleibt] wahrlich ein seltenes Glück.»[5] Und weiter: «Von anderm Schulunterrichte oder wesentlichen Bildungsmitteln der Erziehung war noch weniger die Rede.»
Bei Renovationsarbeiten im ehemaligen Schulzimmer Pestalozzis im Kloster St. Klara gefunden: Der ausgestretene Kinderschuh soll einem Waisenkind gehört haben. (Foto: Urs Haller)
«Der gänzliche Mangel an Schulbildung» der Kinder entmutigt Pestalozzi nicht. Im Gegenteil! „Ich war von Morgen bis Abend so viel als allein in ihrer Mitte. […] Sie waren bey mir, und ich war bei ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank war der meinige.“ Schon bald stellen sich sichtbare Erfolge ein: «Das Lernen war [den Kindern] ganz neu, und sobald einige sahen, dass sie es zu etwas bringen, so ward ihr Eifer unermüdet. Kinder, die in ihrem Leben kein Buch in der Hand gehabt […], kamen in wenigen Wochen, dass sie mit dem grössten Interesse vom frühen Morgen bis an den späten Abend fast unablässig lernten.»
Das jähe Ende von Pestalozzis Traum
Für Pestalozzi erfüllt sich ein Traum: Arme in mitmenschlicher Verantwortung erziehen, dem «Volk im Zwilch» helfen. Darin verdichtet sich die Sehnsucht seiner erzieherischen Existenz. Doch der Traum endet jäh. Helvetische und französische Truppen brauchen die Räume als Kaserne und Militärlazarett. Am 8. Juni 1799 entzieht ihm die Regierung den Auftrag. Enttäuscht schreibt Pestalozzi: «Das waren meine Träume; ich musste Stans verlassen, da ich jetzt so nahe an ihrer Erfüllung zu seyn geglaubt habe.» Ausgelaugt folgt er der Einladung eines Bekannten und zieht sich zur Kur ins Gurnigelbad zurück. In einem langen Brief an einen Freund beschreibt und analysiert er sein kurzes Wirken in Nidwalden. Der «Stanser Brief» gilt als prägnantestes Dokument zu Pestalozzis pädagogischer Haltung und erzieherischem Denken. Zeugnis seiner humanen Energie.
Ein kleiner Nachsatz: Der Blick zurück ins erdrückende Damals macht vielleicht dankbar für heutige Massnahmen – dies in einer Welt, die auch da und dort aus den Fugen zu geraten scheint.
[1] Pestalozzi über seine Anstalt in Stans [kurz: «Stanser Brief» von 1799] (1997). Mit einer Interpretation und neuer Einleitung von Wolfgang Klafki. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, S. 9.; die Zitationen sind dieser Publikation entnommen.
[2] Jonas Roth, In Afghanistan bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an, in: NZZ, 24.12.2021, S. 5.
[3] Vgl. Kurt Messmer, Nidwalden 1798 – Erinnerung ist machbar, in: https://blog.nationalmuseum.ch/2020/09/nidwalden-1798-erinnerung-ist-machbar/ [Status: 30.12.2021]
[4] Marita Haller-Dir (2015), «Die grösste Herzlichkeit für mein Werk fand ich bey den Kapuzinern und Klosterfrauen. Johann Heinrich Pestalozzis Zeit in Stans vom 7.12.1798 bis zum 8.6.1799, in: Der Geschichtsfreund, Bd. 168, S. 260f.
[5] Ulrich Bräker, Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer (sic) des armen Mannes im Tockenburg, in: Bräkers Werke in einem Band. Berlin und Weimar 1966, S. 83ff.