26. April 2024

Unsere Autorinnen und Autoren empfehlen: Büchertipps zum Jahreswechsel! 2. Teil

Wir veröffentlichen hier den 2. Teil unserer Buchtipps für den Jahreswechsel und wünschen viel Vergnügen und Anregungen.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer: Speziell interessant sind die Auswirkungen auf den Leseunterricht.

Tipp 5: Why Knowlegde Matters

Das Buch, das ich der Leserschaft des Condorcet-Blogs wärmstens empfehlen kann, wurde geschrieben von E.D. Hirsch, einem emeritierten Professor der University of Virginia. Bevor er sich mit Schul- und Lehrplanfragen beschäftigte, schrieb er über englischsprachige Literatur und Hermeneutik – der Theorie der Interpretation von Texten und des Verstehens. Hirsch gründete 1986 die gemeinnützige Core Knowledge Foundation. Diese Organisation stellt Schulen Lehrpläne zur Verfügung, welche auf einem gezielten Wissensaufbau basieren. Das ist besonders im frühen Schulalter wichtig und bildet die Grundlage für das spätere Leben als verantwortliche Bürger. Das Netzwerk der amerikanischen Core Knowledge Schools umfasst heute 770 Schulen in 45 Staaten der USA.

Hirschs Kritik am amerikanischen System gründet auf der empirisch nachgewiesenen Feststellung, dass höhere intellektuelle Fähigkeiten wie Analyse, kritisches Denken und Problemlösung entscheidend von der automatischen Beherrschung wiederholter Aktivitäten auf niedrigerer Ebene abhängen. Das hat Auswirkungen bis in die aktuellen Bildungsdebatte, in der die sogenannten 4 K des Lernens im 21. Jahrhundert gefordert werden: Kommunikation, Kollaboration, kritisches Denken und Kreativität. Bevor die Schüler aber über kritisches Denken verfügen, benötigen sie ein solides Grundwissen. Dieses Grundwissen stellt Hirsch und seine Organisation den Schulen in umfassenden, wissensbasierten Lehrplänen für alle Jahrgangsklassen der Primarschule zur Verfügung.

In seinem 2016 veröffentlichten Buch «Why Knowledge Matters – Rescuing our Children from Failed Educational Theories» (Warum Wissen wichtig ist – Die Rettung unserer Kinder vor gescheiterten Bildungstheorien), umreisst Hirsch drei Hauptprobleme des Bildungswesens:

  1. Die Betonung der Vermittlung von Fähigkeiten und Stategien (z.B. im Lesen) anstelle von Wissen. 2. Individualismus (individuelle Förderung, Binnendifferenzierung) anstelle von gemeinschaftlichem Lernen.
  2. Entwicklungsorientierung, d.h. Kindern das beizubringen, was für ihr Alter «angemessen» ist und sie damit gegenüber Kindern aus bildungsnahen Schichten zu benachteiligen.

Frankreich bildete Einwanderer besser aus als jede andere europäische Nation. Nach dem ideologisch fundierten Umbau liegen die Schulen quasi in Trümmern.

Ein besonders Augenmerk richtet der Autor auf das Schulsystem Frankreichs, das besonders hart von den Reformen getroffen wurde. Wie die Vereinigten Staaten wies Frankreich früher die höchsten durchschnittlichen Schülerleistungen mit der größten Chancengerechtigkeit unter allen großen, vielfältigen Ländern auf. Es bildete Einwanderer besser aus als jede andere europäische Nation. Nach dem ideologisch fundierten Umbau liegen die Schulen quasi in Trümmern: Von allen Ländern der Welt erlitt Frankreich den grössten Einbruch in Bezug auf die Chancengerechtigkeit.

Für die Schweiz speziell interessant sind die Auswirkungen auf den Leseunterricht, die bei uns ja rat- und hilflos zur Kenntnis genommen werden. Im Buch wird klar geschildert, wie fehlendes Grundwissen die Hauptursache des aktuellen Lesedebakels ist.

Ausserdem bezeichnet er sich als ein «politischer Liberaler», der “gezwungen war, ein Bildungskonservativer zu werden.”

E.D. Hirsch jr., Memphis Tennesse, USA: Nur ein abgerundeter, wissensspezifischer Lehrplan kann allen Kindern das notwendige Wissen vermitteln und Chancenungleichheit überwinden.

Hirschs Lehrpläne sorgten für heftige Kritik aus dem tonangebenden politisch linken Lager. Howard Gardner von der Harvard Universität, dessen eigene Theorie der multiplen Intelligenzen inzwischen vollkommen diskreditiert ist, betitelt die wissensbasierten Lehrpläne als «im besten Fall oberflächlich und im schlimmsten Fall anti-intellektuell». Demgegenüber sieht Sol Stern vom Manhattan Institute Hirsch als den wichtigsten Schulreformen des letzten halben Jahrhunderts. Hirsch selbst sagte, er habe einen Lehrplan entworfen, der alle Kinder auf eine gemeinsame Basis stellt und ihnen einen gemeinsamen Wissensschatz vermittelt. Das ist seiner Meinung nach der entscheidende Weg zur Sicherung der Bürgerrechte. Ausserdem bezeichnet er sich als ein «politischer Liberaler», der «gezwungen war, ein Bildungskonservativer zu werden». Er sagte auch, dass das «demokratische Ziel einer hohen allgemeinen Lese- und Schreibkompetenz die Schulen dazu zwingen würde, ein hohes Maß an pädagogischem Traditionalismus zu praktizieren. Nur ein abgerundeter, wissensspezifischer Lehrplan kann allen Kindern das notwendige Wissen vermitteln und Chancenungleichheit überwinden.»

Das Buch eröffnet spannende Einblicke ins Schulsystem der USA und lohnt sich für alle, die die Wirksamkeit der momentanen Bildungsdoktrin anzweifeln. Obwohl fokussiert auf die USA, zeigen sich offenkundige Parallelen zu den Entwicklungen in Europa und auch der Schweiz.

Why Knowledge Matters – Rescuing Our Children From Failed Educational Theories, Harvard Education Press, 2016.

 

Claudia Wirz, Journalistin: Eine versöhnliche und geistreiche Lektüre.

Tipp 6: Das Leben ist schön!

Michel de Montaigne oder Von der Kunst, das Leben zu lieben.
In der Pandemie haben nicht nur Krankheitserreger Konjunktur. Auch die Schwermut macht sich breit. Nach 20 Monaten Corona-Regime sind wir alle erschöpft, nicht nur die Pflegekräfte.
In so einem Fall braucht es jemanden, der uns daran erinnert, dass das Leben schön ist. Michel de Montaigne, ein Renaissancemensch im besten Sinn und einer der sympathischsten Denker des Abendlandes, ist so einer. Vor knapp 500 Jahren hat er die literarische Form des «Essai» (wörtlich: des Versuchs) erfunden. Diese Essais zu allen möglichen Themen des menschlichen Alltags sind noch heute aktuell und Balsam für die Seele. Eine schöne Auswahl ist unter dem Titel «Von der Kunst, das Leben zu lieben» in der vielgepriesenen deutschen Übersetzung von Hans Stilett erschienen.
Montaigne hatte selber kein leichtes Leben. Gewiss, er lebte auf einem Schloss. Doch in seiner Zeit wüteten abscheuliche Religionskriege. Die Pest zog übers Land, genauso taten es raffgierige Gaunerbanden. Ein schwerer Reitunfall, der frühe Verlust seines engsten Freundes und etlicher naher Angehöriger und schreckliche Nierenkoliken setzten ihm zu und stürzten ihn wiederholt in tiefe Trauer.
Doch Montaigne wurde kein Misanthrop. Das Dunkle lasse den Sinn für die hellen Seiten des Lebens erst schärfen, meinte er. In dem Büchlein begegnet uns ein heiterer Montaigne, der auf der Sonnenseite des Gebirgsmassiv unterwegs ist, das sich Leben nennt. Es ist ein Montaigne, der eine lockere, manchmal auch erfrischend derbe Sprache führt, der das Lachen, das Lesen, das Tanzen sowie Speis und Trank in fröhlicher Gesellschaft empfiehlt und der die Tiere als Lehrmeister betrachtet. Die Tiere, sagt er, «erweisen sich in den meisten ihrer Werke als uns überlegen». Er ruft auf zur Toleranz und verabscheut jede Grausamkeit – sei es gegen Mensch oder Tier. Ein Stück praktische Philosophie und eine ebenso versöhnliche wie geistreiche Lektüre für die zweiten Corona-Weihnachten.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Nebelspalter
Michel de Montaigne: Von der Kunst, das Leben zu lieben. Übersetzt und ausgewählt von Hans Stilett. Die Andere Bibliothek, 2019 (4. Auflage), 269 S., ca. 20 Fr.
Tipp 7: Nie wieder keine Ahnung
Felix Hoffmann, BL, Sekundarlehrer, Condorcet-Autor: Eine leichtfüssige Tour d’Horizon.

Wer sich hin und wieder auf den öffentlich rechtlichen Sendern des Deutschen Fernsehens tummelt, dem werden die Namen Jennifer Sieglar und Tim Schreder ein Begriff sein. Erstere ist Moderatorin der Hessenschau; seit 2008 steht Sieglar zudem für die ZDF-Nachrichtensendung logo! vor der Kamera, zusammen mit letzterem. Schreder gehört ausserdem zum Moderatorenteam der ARD-Morgen-sendung Live nach neun.

Nach ihrem gemeinsamen Erstlingswerk Ich versteh die Welt nicht mehr von 2017 legten die beiden Fernsehleute im Sommer 2021 nach mit dem Spiegel-Bestseller Nie wieder keine Ahnung, quasi als logische Fortsetzung ihres Debüts. Dem Titel in Form eines Versprechens wird ihre zweite gemeinsame Publikation durchaus gerecht. Es geht somit nicht um tiefgründige, alle Facetten eines Themas bedienende Analysen bzw. Erklärungen, sondern, wie der Titel eben sagt, darum, eine Ahnung zu bekommen von unterschiedlichen aktuellen Themen. Gegenstand dieser leichtfüssigen Tour d’Horizon sind 13 Stationen:

  • Wählende und Gewählte
  • die Europäische Union
  • Supranationale Kooperationen wie die UN, G7, G20, NATO und andere Bündnisse
  • der Nahostkonflikt und die Krimkrise
  • die wichtigsten Auszeichnungen der Welt
  • Sport
  • Corona sowie andere Pandemien
  • Föderalismus
  • Verschwörungstheorien
  • Klimawandel und Nachhaltigkeit
  • Atomkraft
  • Black Lives Matter
  • Geld

Das Buch ist verständlich und flüssig geschrieben und eignet sich als Lektüre sowie als Nachschlagewerk. Obwohl vereinzelt deutschlandspezifisch ist Nie wieder keine Ahnung ein Muss für all diejenigen mit Interesse an Allgemeinwissen oder dessen Auffrischung.

 

Ein Meilenstein in der Entwicklung der modernen Pädagogik.

Tipp 8: Am Schaltbrett der Erziehung

Dieses 1947 erschiene Buch ist ein Meilenstein in der Entwicklung der modernen Pädagogik. Die darin dargestellten Ideen waren für die österreichische Schulreform im Roten Wien richtungsweisend. Es wird über gruppenpädagogische, einzel- und familientherapeutische Funktionen des Lehrers im Rahmen einer Versuchsschule berichtet. Im Konzept der Versuchsschule spielt die „Klassenbesprechung“ eine wichtige Rolle. Heute kann man sagen, dass damals so ziemlich alles, was sich in der Folgezeit in der Pädagogik und Elternarbeit entwickelte, vorweggenommen beziehungsweise initiiert wurde. Der Leser wird verwundert feststellen, wie viel Verhaltenstherapie als einfacher Erziehungsratschlag, wie viel Gruppentherapie bescheiden als Klassenbesprechung deklariert, wie viel bi- und trifokale Einzeltherapie als ‚Regie‘ bezeichnet wird.“

Peter Aebersold

 

 

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