Verkürzung von Medienerziehung auf Bildschirmmedien (Tablets)
“Medienerziehung in Kindertageseinrichtungen sei gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig”, heißt es im Antwortschreiben des Jugendamtes und die „Sorgen und Ängste bezogen auf den Medienumgang in Kindertageseinrichtungen verstehen wir und berücksichtigen diese in unserer Arbeit. Wir sehen jedoch eine medienfreie Erziehung nicht mehr als zeitgemäß an und möchten die Kinder und Eltern mit ihren Erfahrungen, Unsicherheiten und Ängsten im Medienumgang nicht alleine lassen.“
Niemand fordert eine medienfreie Erziehung, was sachlich gar nicht möglich wäre, weil jede Form von Erziehung und Unterricht an Primärmedien wie Sprache, Mimik und Gestik und Sekundärmedien (Bücher, Papier und Stifte, Instrumente usw.) gebunden ist.
Bereits dieser Satz zeigt, dass es der IT-Lobby in Zusammenarbeit mit Medienpädagogen gelungen ist, Medienbildung mit dem Einsatz von Bildschirmgeräten gleichzusetzen. Niemand fordert eine medienfreie Erziehung, was sachlich gar nicht möglich wäre, weil jede Form von Erziehung und Unterricht an Primärmedien wie Sprache, Mimik und Gestik und Sekundärmedien (Bücher, Papier und Stifte, Instrumente usw.) gebunden ist. Kritisiert wird die durch Corona noch beschleunigte Frühdigitalisierung von Kindern in Kita und Grundschule. Gefordert wird eine Erziehung ohne digitale Endgeräte.
Gefordert wird eine bildschirmfreie Erziehung in Kita und Grundschule.
Das Ziel ist der altersgerechte Einsatz von Medien, unter Berücksichtigung aller Medien (analogen wie später digitalen), beginnend mit manuellen Materialien (Stift, Papier, Knetmasse, Rhythmusinstrumente …) und dem Erlernen der elementaren Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen, Malen). Dafür braucht man keine digitalen Endgeräte. Gefordert wird eine bildschirmfreie Erziehung in Kita und Grundschule.
Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Frühdigitalisierung gefährdet das Kindeswohl.
Der Grund: Bildschirmmedien reduzieren die Sinneserfahrung auf das Tippen und Wischen auf Glasscheiben und verleiten zu langen Bildschirmzeiten. Das Belohnungssystem wird durch die sofortige Rückmeldung korrumpiert, Lernprozesse werden als Lernkontrollsysteme ausgelagert (externalisiert) statt intrinsisch zu motivieren. Die frühe Gewöhnung an Bildschirmmedien verhindert die altersgemäße sensomotorische und psychische Entwicklung, unterläuft den natürlichen Bewegungsdrang und verhindert damit die körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklungsmöglichkeiten von kleinen Kindern. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Frühdigitalisierung gefährdet das Kindeswohl.
Falsche Behauptungen zur UN Kinderrechtskonvention
Endgeräte isolieren Kinder selbst in Gemeinschaft, korrumpieren das Lern- und Belohnungssystem und nehmen ihnen die Möglichkeit, sich als Teil einer sozialen Gemeinschaft zu erleben und in diese Gemeinschaft hineinzuwachsen. Wenn im Schreiben des Jugendamtes die UN-Kinderrechtskonventionen bemüht wird, sollte man richtig zitieren. In § 17 der Konvention: Zugang zu den Medien; Kinder- und Jugendschutz: steht mit keinem Wort, dass jedes Kind „das Recht auf einen uneingeschränkten und gleichberechtigten Zugang zur digitalen Welt“ haben solle, wie im Schreiben des Jugendamtes behauptet wird, sondern dass die Vertragsstaaten die wichtige Rolle der Massenmedien anerkennen und sicherstellen
„dass das Kind Zugang hat zu Informationen und Material aus einer Vielfalt nationaler und internationaler Quellen, insbesondere derjenigen, welche die Förderung seines sozialen, seelischen und sittlichen Wohlergehens sowie seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel haben.“
Nicht Medientechnik, sondern das Kindeswohl steht im Mittelpunkt. Und weiter:
„Zu diesem Zweck werden die Vertragsstaaten
- a) die Massenmedien ermutigen, Informationen und Material zu verbreiten, die für das Kind von sozialem und kulturellem Nutzen sind und dem Geist des Artikels 29 entsprechen;
- b) die internationale Zusammenarbeit bei der Herstellung, beim Austausch und bei der Verbreitung dieser Informationen und dieses Materials aus einer Vielfalt nationaler und internationaler kultureller Quellen fördern;
- c) die Herstellung und Verbreitung von Kinderbüchern fördern;
- d) die Massenmedien ermutigen, den sprachlichen Bedürfnissen eines Kindes, das einer Minderheit angehört oder Ureinwohner ist, besonders Rechnung zu tragen;
- e) die Erarbeitung geeigneter Richtlinien zum Schutz des Kindes vor Informationen und Material, die sein Wohlergehen beeinträchtigen, fördern, wobei die Artikel 13 und 18 zu berücksichtigen sind.
Quelle: https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention
Soziales, seelisches und sittliches Wohlergehen, körperliche und geistige Gesundheit, Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kinder, Herstellung und Verbreitung von Kinderbüchern, Richtlinien zum Schutz des Kindes vor Informationen und Material, die sein Wohlergehen beeinträchtigen, fördern … All das steht in der UN-Kinderrechtskonvention, aber kein Wort von digitalen Medien. Damit ist das Zitat des Jugendamtes nicht nur falsch, sondern sinnverkehrend.
Da Jugendämter eher selten UN-Kinderrechtskonventionen umschreiben, ergibt eine Recherche, wer stattdessen dahinter steckt: Es ist die private „Stiftung Digitale Chancen“, die sich für „den chancengleichen Zugang aller Menschen zum Internet“ einsetzt und “Medienkompetenz“ fördert. Als Stifter und Zustifter werden Telekommunikationsanbieter wie AOL Deutschland und Telefónica Deutschland genannt sowie die Unternehmensberatung mit IT-Dienstleister und Clouddiensten Accenture. Nicht aufgeführt ist, wer den Text der UN-Kinderrechtskonvention so umformuliert hat, dass die Wirtschaftsinteressen der Stifter und Zustifter bedient werden.
Bundesministerien werden so unfreiwillig zu Multiplikatoren von Partikularinteressen von privaten Stiftungen mit Partnern aus der IT-Wirtsschaft.
Denn auch in §28 „Recht auf Bildung, Schule, Berufsausbildung“, den das Jugendamt Stuttgart bemüht, werden im Originaltext der UN-Kinderrechtskonvention digitale Medien nicht einmal genannt, sondern das Recht auf Grundschule und weiterführende Schulen, angemessene Förderung für alle u.v.m. Berufen müsste das Jugendamt sich eher auf die Sofia-Strategie der UN und Punkt 5: Rechte des Kindes im digitalen Umfeld[1], sollte dann aber die Quelle korrekt nennen und ergänzen, dass hier bereits die IT-Verbände und Lobbyisten mitformuliert haben.
Das heißt: Man muss alle von privaten Stiftung formulierten (und vom Jugendamt ohne Kennzeichnung übernommenen) „digitalen Kinderrechte“ auf ihre Herkunft prüfen, weil sie gerade nicht in der ursprünglichen UN-Konvention stehen und sich fragen, wem diese Umformulierungen nutzen bzw. wem sie Geschäftsfelder öffnen. Irritierend ist, dass diese Stiftung laut Impressum unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend steht. Bundesministerien werden so unfreiwillig zu Multiplikatoren von Partikularinteressen von privaten Stiftungen mit Partnern aus der IT-Wirtsschaft und zumindest unvollständigen Verweisen.
Verantwortungslos wird es, wenn auf die vermeintliche Chancengleichheit rekurriert wird, obwohl alle Studien unisono belegen, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten durch den Einsatz von digitalen Medien am stärksten leiden und die soziale Schere dadurch konsequent weiter aufgeht.
Besinnung auf Pädagogik statt Digitalisierung als das „neue Normal“
Wir müssen uns alle – Eltern, Lehrkräfte, Schulträger – darauf besinnen, dass Unterrichten und Lernen ein interpersonaler Prozess ist, der auf Beziehung und Vertrauen beruht. Traditionelle wie digitale Medien können – je nach Lebensalter der Menschen, Schulform und fächerspezifischen Anforderungen und beteiligten Personen – hilfreich sein, wenn sie von qualifizierten Lehrkräften als Ergänzung im Präsenzunterricht eingesetzt werden. Medien und Medientechnik sind aber immer nur Mittel zum Zweck, um Lernprozesse zu initiieren. Sie können ab der Sekundarstufe I, in der Oberstufe und in der Erwachsenenbildung in einigen Fächern und Lernszenarien hilfreich sein, sind aber kein Muss. Wir müssen stattdessen lernen zu differenzieren statt alles der „digitalen Transformation“ der Sozialsysteme unterzuordnen. Wir müssen uns lösen von den Heilsversprechen des Digitalen, das nur Konzerninteressen bedient und mit Schulen neue Marktsegmente erschließt. Wir müssen uns lösen aus der Abhängigkeit der IT-Monopole und zurückfinden zu Autonomie und Selbstverantwortung im Einsatz von IT-Systemen.
Wir müssen uns nicht zuletzt besinnen, wer die digitale Transformation der sozialen Systeme (Arbeit, Bildung, Gesundheit) fordert und wem es dient, diese sozialen Systeme algorithmisch zu organisieren und Verhaltensdaten zu sammeln, um uns Menschen durch persuasive (verhaltensändernde) Technologien zu steuern. Digitalität heißt der neue Leitbegriff und bedeutet im Kern: Anpassung und Optimierung des menschlichen Verhaltens an die Logik technischer Systeme. Dabei müsste es umgekehrt sein: Anpassung der technischen Systeme zum Nutzen der Menschen.
Wir müssen uns als Demokraten, Eltern und Pädagogen daher fragen, ob der Umbau von Bildungseinrichtungen mit den Parametern des Messens und Vermessens der empirischen Bildungsforschung und der Fokussierung auf den Einsatz digitaler Endgeräte tatsächlich das Ziel von Schule und Unterricht sein kann oder ob nicht der und die Einzelne als Person und Persönlichkeit (wieder) im Mittelpunkt stehen müssen. Unterrichten und Lernen kann man mit vielen Medien und das Vermessen von Lernleistungen ist nicht das Ziel von Bildungsprozessen. Um es mit Albert Einstein zu sagen: “Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt.” Besinnen wir uns auf die Kernaufgabe von Schule und Unterricht: Persönlichkeitsentwicklung, Mündigkeit, Förderung von Gemeinschaftssinn, Selbstverantwortung, Partizipation an der Demokratie u.v.m.. Dafür brauchen wir vor allem Präsenzunterricht, Bindung und Vertrauen, Dialog und Diskurs – und ab und an auch Medientechnik.
Lorsch, Offenburg, Stuttgart, 18.10.2021
Bündnis für humane Bildung
Peter Hensinger, M.A. Prof. Dr. phil. Ralf Lankau Ingo Leipner, Dipl. Vw.
Bündnissprecher Pressearbeit
Pressekontakt: Ingo Leipner, Tel.: 0162-8192023
[1]https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=090000168066cff8
Wie wohltuend und richtig die Worte von Prof. Landau sind! Kleine Kinder sind oftmals viel öfter mit den neuen Medien in Kontakt als uns lieb sein kann. Bei mir wächst je länger desto mehr die Überzeugung, dass die Bildschirmmedien bis mindestes Ende Mittelstufe wenig bis nichts in den Schulen verloren haben. Je mehr solche Medien bereits in der Kita eingesetzt werden, desto mehr fühlen sich Eltern bestärkt, dass es OK ist, wenn die Kinder häufig hinter dem Bildschirm sitzen.
Ob dieser frühe Einsatz der neuen Medien die Kinder tatsächlich ermuntert und befähigt, später IT-Berufe zu ergreifen, müsste zuerst noch bewiesen werden. Ob Kinder, die schon im Kita-Alter “angefixt” werden, später mehr Verständnis für die neuen Medien entwickeln, ist ebenfalls noch nicht erwiesen. Ich unterstütze die Aussage der Unterzeichner, dass der Einsatz von Bildschirmmedien in so frühem Alter das Kindswohl gefährdet. Tendenziell gehe ich sogar noch weiter: Ich glaube, dass es auch das Kindswohl der Primarschüler gefährdet.