Selbstorganisierte Lernateliers anstelle des gemeinsamen Klassenunterrichts
Wer die Gelegenheit hat, in ein heutiges Schulzimmer zu schauen, wundert sich vermutlich über die Gestaltung des Klassenzimmers. Die Stühle und Bänke der Schülerinnen und Schüler sind in Form von Nischen angeordnet, die voneinander abgetrennt sind. Im Fachjargon spricht man von Lernateliers. Der gemeinsame Unterricht ist in einem solchen Schulzimmer kaum vorgesehen. «Individualisierung» lautet einer der Kernbegriffe in der heute verordneten Schulpraxis. Der als modern apostrophierte «schüler-», statt «lehrerzentrierte» Unterricht baut auf einer Theorie auf, die den gemeinsamen, geführten Unterricht rundweg als falsch bzw. für die Lernenden mehr oder weniger als Zumutung erscheinen lässt. Gemäss der in reformpädagogischen Kreisen populären Vorstellung des radikalen Konstruktivismus haben wir Menschen keine gemeinsame Welt. Jeder Mensch habe laut dieser Theorie einen eigenen Zugang, ein eigenes Verständnis der Realität. Lehren bzw. der lehrende Unterricht sei demnach gar nicht möglich und komme deshalb einer Art geistiger Vergewaltigung der Schüler gleich. Nach dieser pointierten, kritischen Einleitung lauschten alle gespannt auf die weiteren Ausführungen des Zürcher Erziehungswissenschaftlers.
Die Metamorphose des Lehrers zum Lerncoach und Moderator von Lernprozessen
Mit den Schulreformen der letzten 20–25 Jahre sei eine ausgesprochen individualistisch orientierte Form des Unterrichts entstanden, der den didaktisch-pädagogisch wirkenden Lehrer durch den Lernbegleiter, Moderator von Lernprozessen, Coach – um einige der Neusprech-Bezeichnungen zu nennen – ersetzt habe. Der Lehrer soll auf das eigentliche Unterrichten verzichten. Die Verantwortung für das Weiterkommen im Lernen falle mit den neuen Lernformen des selbstorganisierten Lernens (SOL) vollumfänglich auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler zurück, ein pädagogisch gesehen höchst bedenklicher Umstand, der jeden unsicheren, schwachen Schüler in grösste psychische Nöte versetzen kann. Begünstigt wird diese individualistische Form von Schule durch die Digitalisierung, die heute bereits möglichst früh, also im Kindergarten, gefördert wird.
Was sind die wirklich förderlichen Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen?
In seinem Vortrag fragte Beat Kissling, was die Erkenntnisse der anthropologischen Wissenschaften heute zur Frage zu sagen haben, nämlich wie die optimalen Voraussetzungen für das schulische Lernen grundsätzlich sind. Anhand einer Reihe führender Wissenschaftler aus der evolutionären Anthropologie, aus Entwicklungs- und Lernpsychologie sowie aus der Schulpädagogik und den Erziehungswissenschaften, deren Einsichten der Referent insbesondere anhand von aussagekräftigen Zitaten zu Wort kommen liess, entstand die Einsicht, dass Lernen immer ein vorwiegend sozial basiertes und auch vermitteltes Geschehen ist. Sozusagen vom ersten Atemzug an könne beobachtet und über die gesamte Kindheit hinweg verifiziert werden, dass der Säugling, das Kleinkind, die Kinder im Kindergarten und dann die Schulkinder auf die Lehre ihrer kulturellen Mentoren vertrauen und ihre Anleitung und Orientierung suchen, damit sie selbst auch in die Lage kommen können, als Teil der (Familien-, Kindergarten-, Schul-, Freundschafts-) Gemeinschaften bzw. des sozialen Miteinanders mitzumachen. Die grosse Bedeutung der Lehrpersonen als Bindungs- und Orientierungsperson für jedes einzelne Kind bzw. jeden Jugendlichen, die sich aus diesen Einsichten offensichtlich erschliesst, veranschaulichte Kissling am Beispiel des Literaturnobelpreisträgers, Schriftstellers und Philosophen Albert Camus, der in tiefer Dankbarkeit die ersten Worte nach Erhalt des Preises nebst seiner Mutter an seinen ehemaligen Volksschullehrer richtete, der ihm die Welt eröffnet hatte. Wäre dieser «Erste Mensch» (Titel seiner Biografie) nicht in sein Leben getreten, hätte es diese hochgeschätzte Persönlichkeit nicht gegeben.
Als Coach und Lernbegleiter kann ein Lehrer nicht für sein Fach brennen und dem Schüler vermitteln, dass er grossen Wert darauf legt, dass dieser das Vermittelte lernt, er es ihm zutraut und ihm auch gerne bei der Bewältigung hilft, sofern erforderlich.
Die herausragende Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehung
Schon diese Einsichten lassen die Abschaffung der pädagogisch-didaktisch aktiven Lehrerpersönlichkeit in einem seltsamen Licht erscheinen. Als Coach und Lernbegleiter kann ein Lehrer nicht für sein Fach brennen und dem Schüler vermitteln, dass er grossen Wert darauf legt, dass dieser das Vermittelte lernt, er es ihm zutraut und ihm auch gerne bei der Bewältigung hilft, sofern erforderlich (frei nach Zitat Prof. Dr. Roland Reichenbach, Lehrstuhlinhaber Universität Zürich). Kommt hinzu, wie Kissling weiter aufzeigte, dass die Schüler die Schule als Ort des Zusammenseins und -arbeitens als Gemeinschaft – vorausgesetzt die Stimmung, das Klassenklima ist positiv-konstruktiv – ausserordentlich schätzen. Spätestens seit dem ersten Lockdown vor über einem Jahr sollte dies für jedermann evident geworden sein, als man aus zahlreichen Familien, in Zeitungen und anderen Medien laufend lesen und hören konnte, wie sehr die meisten Schülerinnen und Schüler das soziale Zusammensein in der Schule vermissten.
Keine Form des Lernens erweist sich als vergleichbar effektiv und nachhaltig für alle Beteiligten als diejenige, die in Form des verantwortlichen Gespräch bzw. Dialogs stattfindet.
Der Wind dreht – zumindest schon mal in den angelsächsischen Ländern
Offensichtlich laufen die schon länger in der Schweiz kaum diskutierten, sondern topdown von Schulfunktionären und pädagogischen Hochschulen mit internationaler Ausrichtung (OECD) implementierten Schulreformen diesen Einsichten vollkommen zuwider. Doch, wie Kissling optimistisch erläuterte, scheint man ausgerechnet in den angelsächsischen Ländern, woher ursprünglich die ganze Kaskade an Reformen in unseren Schulen kam, etwas erwacht zu sein. Eine ganze Reihe schulpädagogischer Experten an verschiedenen universitären Forschungsinstituten (USA, Australien, GB u. a.) haben die enorme Bedeutung und das umfassende Potential des Klassenunterrichts entdeckt, der heute als Lernen im Kollektiv bzw. aktuell sogar als dialogisches Lernen bezeichnet wird. Keine Form des Lernens erweist sich als vergleichbar effektiv und nachhaltig für alle Beteiligten als diejenige, die in Form des verantwortlichen Gespräch bzw. Dialogs stattfindet – so die Kerneinsicht dieser Forschungsbemühungen. Allerdings erfordert dieser unterrichtliche Dialog den Aufbau einer Gesprächskultur, die auf klaren Verbindlichkeiten aufbaut, so z. B. darauf, dass der Unterricht zwar vom Lehrer geführt, aber zugleich Sache der Schüler selbst werden muss. Sie müssen insbesondere lernen, laut zu denken, und mit Engagement und im Bewusstsein ihrer Verantwortung dazu beitragen, das vertiefte gemeinsame Nachdenken zu ermöglichen. Vieles, was im gemeinsamen dialogischen Lernen beschrieben wird, erinnert daran, wie vor einigen Jahrzehnten in der Schweizer Lehrerbildung der fragend-entwickelnde Unterricht den angehenden Lehrerspersonen vermittelt wurde.
Die Schweizer Schule war früher auf Kurs – darauf muss dringend wieder aufgebaut werden
Diese Form des Klassenunterrichts war so gut entwickelt und wurde in der Lehrerbildung geschult, sodass die Schweizer Schulen beispielsweise von Lehrern, Schulleitern und auch Didaktikprofessoren aus England regelmässig besucht und ihr strukturierter gemeinsamer Unterricht regelrecht bewundert wurde. Kissling endete mit dem Grundgedanken: Will man den Gemeinsinn, die Sensibilität für soziale Werte wie Respekt, Rücksichtnahme, Toleranz und Kooperationsbereitschaft fördern, Werte, die konstitutiv für eine demokratische Gesellschaft sind und die im gesellschaftlichen Leben der Schweiz aktuell erstaunlich geschwächt erscheinen, so kommt man nicht darum herum, sich angesichts der heutigen Schulentwicklung mit der Frage zu befassen, wie ein grundlegender Kurswechsel möglichst rasch erwirkt werden kann.
Edwin Rupf, Starke Volksschule SG
Der Artikel fokussiert zu Recht auf die sozial-psychologische Bedeutung des geführten Klassenunterrichts. SOL wird auch von der Kognitionspsychologie bereits seit Langem angezweifelt. Kirschner, Sweller und Clark weisen 2006 darauf hin, dass das selbst organisierte Lernen wegen der Verschiedenheit von beschränkt aufnahmefähigem Arbeitsgedächtnis und Langzeitgedächtnis Lernende überfordert. Lernen kann nur erfolgen, wenn das Langzeitgedächtnis neu strukturiert wird, indem Neues mit Bekanntem verknüpft und fest verankert wird. Die Aufnahme von Neuem lastet das Arbeitsgedächtnis jedoch voll aus, sodass der Transfer ins Langzeitgedächtnis ausbleibt. “Controlled experiments almost uniformly indicate that when dealing with novel information, learners should be explicitly shown what to do and how to do it.” (Kontrollierte Experimente zeigen fast einhellig, dass Lernende, wenn sie sich mit neuer Information befassen, deutlich angeleitet werden sollten, was sie tun müssen und wie sie es tun müssen.) Zusammenfassend halten Kirschner et al. fest, dass die Evidenz aus kontrollierten Studien direkte, starke Führung durch die Lehrperson (“direct, strong instructional guidance) SOL bei der Aufnahme neuen Stoffes überlegen ist.
Paul A. Kirschner, John Sweller, Richard E. Clark: “Why Minimal Guidance During Instruction Does Not Work: An Analysis of the Failure of Constructivist, Discovery, Problem-Based, Experiential, and Inquiry-Based Teaching” in: EDUCATIONAL PSYCHOLOGIST, 41(2), 75–86, 2006.