19. April 2024

Resilienz – mehr als ein zeitgeistiges Modewort

Menschliche Entwicklung vollzieht sich ganz wesentlich im Kontext von Beziehungen. Das bestätigt die Wissenschaft. Und wir alle wissen es. Doch was bedeutet das für Eltern und Schule? Condorcet-Autor Carl Bossard resümiert ein anregendes Referat aus dem Zyklus der Ostschweizer Kinderärzte in St. Gallen.

Carl Bossard: Eine sichere, bindungsartige Beziehung zwischen Kind und Lehrperson verbessert Lernen wie Verhalten solcher Kinder.

Es ist banal und doch so basal: Entwicklung ereignet sich in Beziehungen. Das gilt inbesondere für die frühe und mittlere Kindheit. In diesem Lebenszyklus entwickelt sich das Gehirn; die Abhängigkeit von Beziehungen ist hier am grössten.

Gefährliches soziales Niemandsland

Kinder erleben in dieser Zeit ganz unterschiedliche Beziehungen und Bindungen. Die Erfahrungen mit den primären Bezugspersonen widerspiegeln sich in ihren verinnerlichten Beziehungskonzepten. Wichtig ist die emotionale Konstanz. Viele erfahren sie; manchen fehlt sie schmerzlich. Diese Kinder leben isoliert in einem sozialen Niemandsland, ausgegrenzt und ohne kohärente fürsorgliche Bindung, ohne ein Milieu des Geborgen-Seins: Zu ihren Eltern haben sie eine gestörte Beziehung, weil sie von ihnen beispielsweise vernachlässigt, überbehütet oder gar misshandelt oder getrennt werden. Solche Kinder entwickeln in der Regel unsichere Bindungsmuster. Das hat Folgen.

 

Beziehungsinkonsistenz hat fatale Folgen

Diese unsicheren Bindungsmuster stehen in kausalem Zusammenhang zu einer grossen Bandbreite von psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters wie aggressivem oder depressivem Verhalten. Die Folgen manifestieren sich unter anderem in verminderter Empathie, in geringem Vertrauen sowie im Unvermögen, Wut und Ärger zu regulieren. Sozialer Rückzug, Aufmerksamkeitsdefizite und Lernprobleme sind weitere Symptome.

Diese Kinder leben isoliert in einem sozialen Niemandsland.

Die unsicheren Bindungsmuster im familiären Kontext werden auch auf sekundäre Bezugspersonen wie Kindergärtnerinnen und Lehrer übertragen: Betroffene Kinder zeigen in diesen neuen Beziehungen das gleiche Beziehungsverhalten wie in ihren Primärbeziehungen. Je nach Reaktion und Intervention dieser Personen zementiert sich das bisherige Bindungsmuster der Kinder. Das gefährdet ihre weitere psychosoziale, emotionale und kognitive Entwicklung – mit teilweise massiven Konsequenzen. Diese Folgen – entstanden in gestörten oder sonst wie prekären Beziehungen – lassen sich tiefgreifend nur wieder im Kontext von Beziehungen heilen. Darum kommt Lehrerinnen und Lehrern und ihrer pädagogischen Bindungskraft eine so bedeutsame Funktion zu.

 

Elterlich Beziehung als Motor der individuellen Entwicklung

Professor Henri Julius, international anerkannter Fachmann, lehrt Sonderpädagogik der sozialen und emotionalen Entwicklung an der Universität Rostock.

„Was macht Kinder stark? – Die Resilienz in Schule und Pädiatrie fördern.“ Unter diesem Titel luden die Ostschweizer Kinderärzte darum zu einem Vortrag.[i] Gast war Professor Henri Julius. Der international anerkannte Fachmann lehrt Sonderpädagogik der sozialen und emotionalen Entwicklung an der Universität Rostock; gleichzeitig wirkt er als Direktor des Lehr- und Forschungsinstituts für bindungsgeleitete pädagogische Interventionen in Berlin. Einer seiner akademischen Schwerpunkte liegt in den neurobiologischen Grundlagen von Beziehungen.

Die Qualität der Beziehungen zu primären Bezugsfiguren ist einer der stärksten Prädiktoren für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung.

 

Beziehung sei der Motor der individuellen Entwicklung, so Henri Julius. Das zeigte auch sein Blick in die Evolutionsgeschichte: Der Mensch hat sich in sozialen Gemeinschaften entwickelt. Und mehrmals betonte er in seinem gedanklich anregenden Vortrag: „Die Qualität der Beziehungen zu primären Bezugsfiguren ist einer der stärksten Prädiktoren für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung.“ Kinder, die in fürsorglichen, warmherzigen Beziehungen gross werden, hätten einen breiteren Zugang zu ihren Gefühlen und könnten sie besser regulieren. Und neue Studien, so Julius, zeigten, dass Kinder sogar eine höhere Intelligenz entwickelten, wenn sie im Kontext solch entwicklungsfördernder Beziehungen aufwachsen.[ii] Beziehungen seien darum zentral – auch für das spätere schulische Lernen.

Die Qualität der Beziehungen ist eine der wichtigsten Bedingungen für die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern.

Beziehungsbotschaften auf der pädagogischen Ebene

Pädagogisches Handeln steht darum immer in einem Beziehungskontext, ob man lobt oder schweigt, ob man reagiert oder ignoriert, die Stirne runzelt oder schmunzelt: Lehrerinnen und Lehrer könnten sich in ihrer Rolle „nicht nicht beziehungsmässig verhalten“, unterstrich Julius – dies in Analogie zum Paul Watzlawicks berühmtem Diktum: Man kann nicht nicht kommunizieren. Mit ihrem Verhalten gegenüber dem Bindungsverhalten des Kindes sendeten Lehrpersonen immer auch Beziehungsbotschaften, ob sie es wollen oder nicht.

In pädagogischen Settings sei die Qualität der Beziehungen eine der wichtigsten Bedingungen für die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern; das belege der aktuelle Stand der Forschung, so Julius. Aus bindungstheoretischer Sicht liesse sich diese Qualität präzise bestimmen: „Eine sichere, bindungsartige Beziehung [wirke] allen bisherigen Erkenntnissen zufolge entwicklungsfördernd.“[iii] Wie grundlegend diese Beziehungen im Unterricht sind, zeigt auch John Hatties grosse Analyse: In der guten Lehrer-Schüler-Beziehung liegt einer der stärksten schulischen Wirkfaktoren.

Der Mensch wird erst am Du zum Ich

„Am Du zum Ich“.[iv] Der Gedanke des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber ist für den Sonderpädagogen Henri Julius Leitlinie seiner bindungsgeleiteten Interventionen und eines Care-Programms für sekundäre Bezugspersonen. Gelingende Beziehungen sollen Entwicklungsprobleme, die im Kontext nicht-gelingender Beziehungen entstanden sind, heilen. Kinder sollen am Du des pädagogischen Gegenübers wachsen und stark werden – und so Resilienz erfahren.

Junge Menschen im andern zu sich selbst kommen lassen – eine anspruchsvolle pädagogische Aufgabe. Das Referat hat gezeigt, wie wichtig sie ist, im Besonderen für junge Menschen mit Entwicklungsrisiken im kognitiven, emotionalen und sozialen Bereich. Eine sichere, bindungsartige Beziehung zwischen Kind und Lehrperson verbessert Lernen wie Verhalten solcher Kinder – und zwar signifikant.

[i] Referat im Rahmen der Vortragsreihe „Pädiatrie, Schule & Gesellschaft“ vom 1. September 2021 an der Pädagogischen Fachhochschule St. Gallen.

[ii] Marlen Eisfeld (2014): Bindung und IQ – eine empirische Studie zum Bindungsverhalten von Kindern im Grundschulalter und der Zusammenhang zu ihren kognitiven Fähigkeiten. Rostock Msc.

[iii] Henri Julius (2021): Bindungsgeleitete Interventionen. Das CARE-Programm. Msc. unpubl., S. 10.

[iv] Henri Julius, Kerstin Uvnäs-Moberg & Sveinn Ragnarsson (2020): Am Du zum Ich. Bindungsgeleitete Pädagogik: Das CARE-Programm. Reykjavik: Kerlingarholl.

 

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