13. November 2024

Bildung – Haltungsnoten statt Leistungsmessung

„Kreative“, politisch forcierte Lernformen genießen einen großen Vertrauensvorschuss. Dabei ist ihre Wirksamkeit nicht erwiesen. Die Veröffentlichung von Schulleistungsdaten könnte Klarheit schaffen. Rainer Werner über Schein und Sein in der Bildungspolitik.

Rainer Werner, Lehrer: Keine Daten über die Leistungen

Schöne neue Schülerwelt: Lernwerkstatt, Logbuch, Lernbüro, Lerntheke, Förderband – mit solchen erfinderischen Lernmethoden werben die sieben Schulen, die am 10. Mai 2021 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden sind. Er wird alljährlich von der Robert Bosch Stiftung, der Heidehof Stiftung, der ARD und der ZEIT-Verlagsgruppe verliehen. Schirmherr ist der Bundespräsident. Wenn es darum geht, ihre Pädagogik griffig zu beschreiben, sind die preisgekrönten Schulen um Superlative nicht verlegen: Ihre Schulkultur sei demokratisch und vielfältig; ihre Pädagogik achtsam und kooperativ; ihr Anspruch antirassistisch, gewaltpräventiv und nachhaltig.

Nach einer Information jedoch sucht man auf der Website der Schulen allerdings vergeblich: nach den von den Schülern erbrachten Leistungen. Keine der mit dem Schulpreis ausgezeichneten Schulen hat auf ihrer Website die Schulleistungsdaten der vergangenen Jahre veröffentlicht. Nach den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends, der VERA-Vergleichstests und – nur in Hamburg – von KESS und KERMIT sucht man vergeblich. Eltern wüssten sicher auch gerne, wie hoch die Quote der Schüler ist, die die Schule nach der 10. Klasse ohne Abschluss verlassen.

Leistung ist im Bildungsbereich offensichtlich zu einem Unwort geworden, das man tunlichst vermeidet.

Im „Handbuch Gute Schule“, welches die Jury des Deutschen Schulpreises ihrem Urteil zugrunde legt, steht an prominenter Stelle, Leistung sei ein „wichtiges Qualitätsmerkmal guter Schulen“. Ziel eines guten Unterrichts müsse die „Lernwirksamkeit“ sein. Bei ihrer Preisvergabe hat sich die Jury an diese Prämisse offensichtlich nicht gehalten. Sie hat die von den Preisträgerschulen angepriesenen „innovativen Schulkonzepte“ beim Wort genommen, ohne ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Gewürdigt wurden „individuelle Förderung“, das Bemühen um „Bildungsgerechtigkeit“, „selbstorganisiertes Lernen“, die „Stärkung von Teams“ und digitale Fitness. Leistung ist im Bildungsbereich offensichtlich zu einem Unwort geworden, das man tunlichst vermeidet.

Auch Journalisten lassen sich gerne von der polierten Oberfläche einer Schule begeistern.

Haltungsnoten statt Leistungsüberprüfung

In der Presse wurden die prämierten Schulen euphorisch gefeiert und dem Rest der Republik als Vorzeigeschulen empfohlen. Auch Journalisten lassen sich gerne von der polierten Oberfläche einer Schule begeistern. Ideen, die als „kreativ“, und Lernformen, die als „schülerzugewandt“ angepriesen werden, finden immer Zustimmung. Letztlich vergeben Journalisten mit ihrem Lob Haltungsnoten, die über das, was beim Lernen wirklich wichtig ist – den Zuwachs an Wissen und Kompetenz – nichts aussagen. Es wäre so, als würde man beim Fußballspiel künftig auf die Spielresultate verzichten und stattdessen die Performance der Spieler bewerten: „dribbelstarker Spieler im Eins-gegen-Eins“ oder „passsicherer Stratege im Mittelfeld“. Schon Bertolt Brecht wusste, dass man sich bei der Beurteilung einer Institution nicht mit der Betrachtung der Fassade begnügen darf: „Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute.“ (Brecht: „Über Film“)

Um die Leistungsfähigkeit einer Schule ermessen zu können, muss man den Wirkungsgrad des Unterrichts in Erfahrung bringen, der an der Schule stattfindet. Nur so erkennt man, ob die praktizierten Lehr- und Lernmethoden geeignet sind, den Schülern das Wissen zu vermitteln, das sie für einen qualifizierten Schulabschluss benötigen.

Um die Leistungsfähigkeit einer Schule ermessen zu können, muss man den Wirkungsgrad des Unterrichts in Erfahrung bringen, der an der Schule stattfindet. Nur so erkennt man, ob die praktizierten Lehr- und Lernmethoden geeignet sind, den Schülern das Wissen zu vermitteln, das sie für einen qualifizierten Schulabschluss benötigen. Aufschluss darüber geben die Schulabschlussdaten und die Ergebnisse der bundesweiten Vergleichstests.

Politisch erwünscht – aber unwirksam

Wie sich eine Schulverwaltung jahrelang ungestört der Illusion hingeben kann, ihr Werk sei von Erfolg gekrönt, zeigt das Beispiel Berlin. Im bundesdeutschen Schulvergleich tragen Berlins Schulen seit mehr als zehn Jahren die Rote Laterne. Um die Schulen endlich aus der Dauermisere herauszuführen, hat Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) vor zwei Jahren eine Expertenkommission unter Leitung des Kieler Bildungsforschers Olaf Köller eingesetzt. Im Oktober 2020 hat die Kommission ihre Ergebnisse öffentlich vorgestellt.

Ausbleibende Wirksamkeit

Die Wissenschaftler sprechen von der „ausbleibenden Wirksamkeit“ der in den vergangenen Jahren an Berlins Schulen praktizierten Lernkonzepte. Im Kapitel „Unterrichtsqualität“ wird festgestellt, maßgeblich für die Qualität von Unterricht seien nicht die „Oberflächenstrukturen, z.B. die Frage, ob Stationenlernen oder Klassengespräche den Unterricht bestimmen, sondern die sogenannten Tiefenstrukturen“. Damit ist das gemeint, was die Bildungsforschung „kognitive Aktivierung“ nennt. Die Schüler werden mit einem Lerngegenstand konfrontiert, den sie unter Anleitung des Lehrers geistig erschließen.

Jahrelang haben Berlins Lehrer Lernmethoden angewandt, die zwar politisch erwünscht waren, die aber den Schülern nicht das nötige Wissen vermittelt haben.

Es geht also um intellektuelles Verstehen und um die Speicherung des Gelernten im Gedächtnis. Einer Unterrichtsmethode Unwirksamkeit zu attestieren, ist das härteste Urteil, das in der Pädagogik möglich ist. Man muss es sich vergegenwärtigen: Jahrelang haben Berlins Lehrer Lernmethoden angewandt, die zwar politisch erwünscht waren, die aber den Schülern nicht das nötige Wissen vermittelt haben. Es gehört zu den Eigenarten der „schülerzugewandten“ Pädagogik, dass sie keine Rechenschaft ablegen muss, ob ihre „kreativen“ Methoden überhaupt wirksam sind. Da diese Methoden bei vielen Pädagogen per se als wünschenswert gelten, ist man geneigt, ihnen einen unbegrenzten Vertrauensvorschluss zu gewähren. Die hohe Zahl an Schulabbrechern in Deutschland spricht allerdings eine andere Sprache.

Schulversagen mit steigender Tendenz

50’000 ohne Schulabschluss

Vor der Corona-Pandemie blieben in Deutschland jährlich 50.000 Schüler ohne Schulabschluss. Studiert man den ISQ-Bildungstrend, erfährt man den Grund für dieses Schulversagen. Eine erhebliche Prozentzahl unter den deutschen Schülern liest und rechnet an den weiterführenden Schulen noch auf Grundschulniveau, mehr als die Hälfte erreicht nicht die erwünschten Durchschnittsstandards. Das während des Lockdowns praktizierte Homeschooling hat die Wissenslücken noch einmal vergrößert. Auch hier sind die Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern benachteiligt.

Einer Studie aus den Niederlanden zufolge hat sich während des ersten Lockdowns im Frühsommer 2020 bei dieser Schülergruppe der Lernrückstand um bis zu 60 Prozent vergrößert. Bildungsexperten rechnen für das Jahr 2021 – pandemiebedingt – bei uns mit einer Zahl von bis zu 100.000 Schülern ohne Schulabschluss. Bildungsökonomen haben errechnet, dass sich solche Lernrückstände auf das ganze Leben gesehen in einem niedrigeren Erwerbseinkommen niederschlagen. Es gibt nur wenige Bildungsexperten, die den Verdacht offen äußern, dass die modernen Unterrichtsformen, die auf Selbstständigkeit der Schüler setzen und die Anleitung durch den Lehrer hintanstellen, maßgeblich zum Schulversagen beitragen. Bestätigen ließe sich diese Mutmaßung, wenn die Schulen, die diese Lernmethoden anwenden, ihre Leistungsdaten veröffentlichten. Dass die Kultusminister darauf drängen, kann man kaum erwarten. Schlechte Schülerleistungen würde die Öffentlichkeit als Beleg für schulpolitisches Versagen interpretieren.

Schulinspektion auf Abwegen

Am Beispiel der Berliner Schulinspektion kann man lernen, wie ein Verfahren, das eigentlich der Qualitätsmessung dienen soll, unter der Hand zum politischen Lenkungsinstrument wird. So erhalten Schulen eine Abwertung, wenn sie bei der Gestaltung des Unterrichts die Prinzipien „innere Differenzierung“, „selbstständiges Lernen“ und „kooperatives Lernen“ vernachlässigen. Dabei bleibt unhinterfragt, ob diese Lernmethoden überhaupt wirksam sind. Es gibt wissenschaftliche Befunde, die belegen, dass sie Kindern mit geringem kulturellem Kapital eher schaden. Solche Schüler brauchen traditionelle Lernmethoden mit einer engen Anleitung durch die Lehrkraft. Die Berliner Schulinspektion lässt zudem den wichtigsten Beleg für Schulqualität, die Leistungen der Schüler, völlig außer Acht. Es werden weder die Qualität der Schulabschlüsse noch die Ergebnisse der Vergleichstests (VERA, IGLU) in die Bewertung einbezogen.

Michael Rudolph, Schulleiter: Erfolgreich, aber nicht zeitgemäss.
Foto: Tagesspiegel

Leidtragende dieses Versäumnisses sind Schulen, die sich den Herausforderungen einer schwierigen Schülerschaft stellen, die dabei aber nicht die von der Politik gewünschten Lernmethoden anwenden. So hat der Leiter der Berliner Friedrich-Bergius-Sekundarschule, Michael Rudolph, den Unterricht an seiner Schule strikt an dem Ziel ausgerichtet, jedem Schüler zu einem Schulabschluss zu verhelfen. Sein Erfolgsrezept: klare Regeln und Rituale und wiederholtes Üben des Grundwissens. Selbstbestimmten Unterricht hält er für seine Schülerklientel aus überwiegend bildungsfernen Milieus für wenig hilfreich. Der Erfolg gibt ihm recht. Seine Schüler erzielten deutlich bessere Schulabschlüsse als die Schüler an Sekundarschulen, die die methodischen Vorgaben der Politik befolgen.

Gute Resultate – aber falsche Methode

Die Berliner Schulinspektion zeigte sich ungehalten. Sie attestierte der Friedrich-Bergius-Schule „erheblichen Entwicklungsbedarf“. Der Unterricht sei zu wenig individualisiert und zu stark ausgerichtet auf den Abruf fachlichen Wissens, sozialer Normen und Sekundärtugenden. Was lernt man daraus? In Berlins Schulen zählen nicht die Lernergebnisse, sondern die praktizierten Methoden. Ein Berliner Schüler kann, wenn er den Schulabschluss nicht schafft, wenigstens sagen, er sei mit fortschrittlichen Lernmethoden unterrichtet worden. Michael Rudolph machte seinem Unmut über solche Ungereimtheiten in einem Zeitungsinterview Luft: „Warum ist bei einer Inspektion die erreichte Leistung der Schüler egal? Hier liegt die Erklärung, warum Berlin bei Vergleichsstudien immer auf den letzten Plätzen landet: Leistung ist unwichtig.“ Wie weit sich didaktische Zwänge von der schulischen Wirklichkeit entfernen können, zeigt die ironische Aussage eines inzwischen pensionierten Direktors eines renommierten Berliner Gymnasiums. In einem Brief an die Eltern schrieb er sinngemäß, seine Schule schneide in allen Bereichen blendend ab: bei VERA, beim MSA, beim Abitur, bei Wettbewerben und bei „Jugend forscht“. Leider erzielten die Lehrkräfte diese Erfolge laut Inspektionsbericht mit der „falschen“ Unterrichtsmethode.

Von der Medizin lernen

In der Medizin werden nur solche Medikamente und Heilmethoden angewandt, die ihre Wirksamkeit erwiesen haben. Auf Placebo-Effekte möchten sich Patienten lieber nicht verlassen. Die Schule ist eine der letzten Bereiche unserer Gesellschaft, in der der gute Wille der Akteure und pädagogische Verheißungen im Schulprogramm mehr zählen als wissenschaftliche Evidenz. Es ist an der Zeit, alle modernen Lernmethoden auf den Prüfstand zu stellen und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Im Zeitalter von Transparenz und Offenheit sollte es keiner Schule mehr erlaubt sein, der interessierten Öffentlichkeit ihre Schulleistungsdaten vorzuenthalten.

Rainer Werner

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Wenn der Computer unterrichtet

Seit mehr als 40 Jahren wird über Informationstechnik in Schulen diskutiert. Seit November 2022 kommt als Thema generative künstliche Intelligenz (KI) wie ChatGPT dazu. Dabei sind weder KI-Systeme noch Sprach-Bots neu. Mit Weizenbaums “Eliza” konnte man schon 1966 chatten, Kybernetik als Begriff und Methode für automatisierte Datenverarbeitung publizierte Norbert Wiener 1948. Aber das Silicon Valley braucht ein neues “big thing” (Brühl 2023). In der Schule sind solche Tools eher kontraproduktiv statt lernförderlich. Condorcet-Autor Ralf Lankau spricht in diesem Artikel das eigentliche Kernproblem der schulischen Digitalisierung an: Wollen wir den Unterricht an Algorithmen delegieren?

2 Kommentare

  1. Kommentar zum Artikel von Rainer Werner: Den Ausführungen von Hr. Werner ist (leider) nur zuzustimmen. Ein Detail zur Graphik der ‘Ausbleibenden Wirksamkeit’. Es fehlen hier noch die Medien, die ja heutzutage eine grosse Rolle im Schulunterricht spielen. Dann ergäbe es ein Viereck, wie schon die Didaktiker der Berliner (!) Heimann, Otto, Schulz vor Jahrzehnten dargestellt haben. D.h., es geht immer um einen Ausgleich zwischen den Zielen, Inhalten, Methoden und Medien.
    Eine weitere Überlegung bestände darin, wie man die Kritik von Hr. Werner mit dem Lp 21 der Schweiz in Verbindung bringen könnte. Hier haben wir ja im Grunde einen überbordenden Katalog von mehreren Tausend Zielen, sprich Kompetenzen. Es ging wohl darum, eine gesunde Balance zwischen offenen und geschlossenen Curricula für den Schulunterricht zu finden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert