19. Dezember 2024

Nach dem Shitstorm gegen Condorcet-Autor Alain Pichard: Ich bin kein Impfgegner

Am 24. Januar kritisierte Condorcet-Autor Alain Pichard in der Sonntagszeitung die Forderung der Lehrkräfte, bei den anstehenden Impfungen priorisiert zu werden. Er erntete daraufhin einen Shitstorm. Auch innerhalb des Blogs gab es vereinzelte Kritik. Yasemin Dinekli, Präsidentin des Trägervereins und Mitglied der Redaktion dieses Blogs, stellte daraufhin ihren Kollegen zur Rede.

Yasemin Dinekli, Mittelschullehrerin, Präsidentin des Trägervereins des Condorcet-Blogs
Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Bin kein Impfgegner

Condorcet

Alain, du hast mit deiner Kritik an der Forderung einer Priorisierung der LehrerInnen bei der anstehenden Impfkampagne in der Sonntagszeitung vom 24.1. viel Kritik geerntet. Vor allem deine Aussage von den «jammernden Lehrern» wurde als sehr pauschalisierend empfunden.

Das Wort «Kritik» ist verniedlichend. Es war ein regelrechter «Shitstorm», der sich über mich entlud.

Eine schwarmorientierte LeserInnenschaft?

Du hast dich ja auch nicht gerade zurückhaltend geäussert.

Dazu muss ich Dinge vorausschicken. Die Journalistin bat mich um ein Statement, das ich auch genau in diesen Worten lieferte. Ich ahnte allerdings nicht, dass ich danach so prominent und mit Bild in Szene gesetzt werde. Ich dachte, es handle sich um einen Artikel, in welchem meine Meinung unter vielen anderen zitiert würde.

Ich bin weder ein Corona-Verharmloser noch ein Maskenverweigerer und schon gar kein Impfgegner.

Ein wenig naiv, man kennt dich eben und du polarisierst …

Das kann schon sein. Dennoch möchte ich hier gerne betonen: Ich bin weder ein Corona-Verharmloser noch ein Maskenverweigerer und schon gar kein Impfgegner.

Aber als ehemaliger Gewerkschafter müssen dir doch sichere Arbeitsbedingungen wichtig sein.

Das sind sie doch. Ich habe immer gesagt: Risikopersonen müssen wir schützen. Vulnerable Lehrpersonen können und sollen sich vom Unterricht dispensieren lassen.

Der Tagi hat sich in den vergangenen Monaten mit seiner Berichterstattung eine ängstliche und schwarmorientierte Gemeinde erarbeitet, die auf alle Erregungsvorschläge reagiert.

Wie erklärst du dir die Wut und den Hass, der dir aus diesen Kommentarspalten entgegengeschlagen ist?

Viel Wut und Hass

Es zeigt den gegenwärtigen Zustand der Tamedia-LeserInnen.  Der Tagi hat sich in den vergangenen Monaten mit seiner Berichterstattung eine ängstliche und schwarmorientierte Gemeinde erarbeitet, die auf alle Erregungsvorschläge reagiert.

Machst du es dir jetzt nicht etwas einfach? Du wurdest auch innerhalb unseres Blogs kritisiert.

Das stimmt und ist auch kein Problem. Wir sind ein Diskursblog. Und der an mich gerichtete Vorwurf der Pauschalisierung trifft ja irgendwie auch zu. Aber ich muss betonen, es war ein Zitat, kein Beitrag.

Ein anderer Vorwurf war, dass du dich immer prominent in Szene zu setzen weisst.

Eine Dagmar Rösler, Präsidentin des LCH, kommt fast wöchentlich zur Ehre, sich zu äussern. Bei mir waren es in einem Jahr drei Auftritte. Aber bei den Leserinnen und Lesern der Tamediaprodukte werden alle gegensätzlichen Meinungen beinahe hysterisch kommentiert. Es verträgt nichts.

Frau Rösler repräsentiert immerhin einen Verband.

Genau, die Relationen sind gewahrt! Und damit ist auch der Vorwurf der Pauschalisierung relativiert. Eine Verbandspräsidentin spricht für die Lehrkräfte dieses Landes. Obwohl bei besagter Umfrage nur etwa ein Drittel der Lehrkräfte sich dahingehend geäussert haben sollen, dass sie bei den Impfungen priorisiert behandelt werden wollten.

Warum wehrst du dich gegen die Schulschliessungen?

Ich wehre mich nicht dagegen. Aber ich weise darauf hin, dass die Folgen gerade für die Kinder der unterprivilegierten Schichten gravierend sind. Auf der Ebene Gymnasium oder Berufsschulen ist ein Fernunterricht, wenn er denn auch gut ist, kein Weltuntergang. Aber auf der Primarstufe und auch auf Stufe Sek 1 hat er schwerwiegende Konsequenzen in vielerlei Hinsicht. Das sollte man bei allen Entscheidungen mitberücksichtigen.

Eine Kollegin schrieb in unserem Blog: Lieber mal einige Wochen die Schule schliessen, um dann wieder normal zu unterrichten.

Wenn das so einfach wäre! In unserem Blog haben wir sieben wissenschaftliche Studien dazu zitiert, welche sich mit der Wirkung von Schulschliessungen beschäftigen. Drei sahen grosse Effekte, vier keine. Ich sehe zurzeit keine Evidenz, bin aber aufgeschlossen, wenn man mir diese zeigt. Wie hat es der Fernsehphilosoph Precht einmal gesagt: «Ein Staatsbürger darf motzen, muss aber funktionieren!»

Und was heisst das, funktionieren?

Dass ich mich an Behördenweisungen halte, so lange diese gesetzes- und verfassungskonform sind. Konkret trage ich die Maske im Unterricht und schaue, dass es auch die SchülerInnen machen.

Warum kritisierst du die Forderung der LehrerInnenverbände, dass man die Lehrkräfte bei den Impfungen bevorzugt behandeln soll?

Diese Forderung ist nur noch peinlich

Das war ja auch meine eigentliche Kernaussage in der Sonntagszeitung. Und hier erhielt ich von vielen Lehrkräften sehr viel Zustimmung. 95% aller Impfdosen werden zurzeit in den zehn reichsten Ländern der Welt verabreicht, und da fordert ein Verband in einem der reichsten Länder der Welt auch noch, dass man seinen Berufsstand (100’000 Personen) bevorzugt impfen sollte. Der gleiche Verband, der sich während der Lehrplandebatte für die Kompetenzziele «Solidarität mit der 3. Welt, kritisches Konsumverhalten» eingesetzt hatte. Es ist unglaublich. Was ist mit den VerkäuferInnen, mit den BusfahrerInnen, mit den PolizistInnen? Wenn die Angst regiert, gehen alle hehren Prinzipien der Sonntagspredigten über Bord. In meinem Bekanntenkreis schüttelte man nur den Kopf.

Wie meinst du das mit den hehren Prinzipien, die über Bord gehen?

Ich muss schon etwas schmunzeln, wie plötzlich alle ehemaligen ImpfgegnerInnen mit fliegenden Fahnen zu Impfbeschwörern werden. Oder wie ehemalige Kritiker der Gentechnologie, vor allem auch eigene Parteimitglieder (Alain Pichard ist Mitglied der GLP), die einst die Moratoriumsinitiative unterstützt haben, nun eine Impfung erbetteln, die auf Gentechnologie in Reinkultur beruht.

Es gibt genug Klugscheisser.

Reelle Gefahr: Es gibt genug Klugscheisser

Wie stehst du grundsätzlich zu dieser Pandemie? Für wie gefährlich hältst du sie?

Ich bin zwar Biologielehrer, werde mich aber hüten, dazu etwas zu sagen. Ich weiss es nicht. Und wir hier im Blog äussern uns grundsätzlich nicht zu dieser Frage, weil wir nicht vom Fach sind. Es gibt genug Klugscheisser in den Medien. Wenn ich aber sehe, wie kritische Studien eines Hochkaräters wie Professor Ioannadis (Stanford) einfach totgeschwiegen oder per Ferndiagnose für falsch erklärt werden, wenn ich sehe, wie mit kritischen Stimmen verfahren wird, dann werde ich immer misstrauisch.

Du könntest ja bereits in Pension sein, bist letztes Jahr 65 geworden. Nun hast du noch ein zusätzliches Jahr drangehängt. Eigentlich gehörst du auch zu den Risikopersonen.

Ich empfinde mich nicht so. Und wenn ich sehe, was meine Tochter als Oberärztin in der Intensivabteilung des Insel-Spitals mit ihren PflegerInnen zurzeit leistet, bin ich der Meinung, dass nun auch die Lehrkräfte ihren Teil beitragen sollten. Fünf meiner Arbeitskollegen haben diese Krankheit übrigens bereits überstanden. Dazu 35 in meinem Freundeskreis, auch drei unserer Kinder. Keiner musste hospitalisiert werden, bei den meisten verlief die Krankheit relativ locker. Das fliesst auch in meine persönliche Risikoabwägung.

Aber es kann auch jüngere Menschen schwer treffen.

Das ist zweifelsohne so. Meine Tochter hat mir dies eindrücklich geschildert.

Und, keine Angst?

Nein, aber das ist meine persönliche Haltung.

Keiner meiner nahen Blutsverwandten erreichte das 80ste Lebensjahr.

Mit dieser Aussage nimmst du ja doch noch Stellung. Man kann es als Verharmlosung verstehen.

Mein persönliches Bekenntnis, keine Angst vor dem Corona-Virus zu haben, wurde mir von vielen unbekannten Tamedia-LeserInnen sehr übelgenommen, obwohl ich betont habe, dass der Nichtängstliche gegenüber dem Ängstlichen Rücksicht nehmen muss. Eine Kommentatorin hat mir daraufhin den Virus samt Intubation mit vielen Schläuchen gewünscht. Meine «Nicht-Angst» entspringt keiner Grossmäuligkeit und hat eher mit meiner Biografie zu tun. Mein Vater starb mit 70 Jahren, meine Mutter mit 75, meine nie gekannte Grossmutter bereits mit 36 Jahren, meine Grossväter beide mit 72 Jahren. Keine meiner nahen Blutsverwandten erreicht das 80ste Lebensjahr. Sie starben alle am gleichen Leiden: Krebs im Magen-Darmbereich. Jährlich sterben 16’000 Menschen in unserem Land an Krebs, und dass es in unserer Familie hier eine genetische Veranlagung dafür gibt, habe ich mir schon früh eingestehen müssen. Ausserdem verlor ich zwei meiner besten Freunde an dem HIV-Virus. Beide starben in der Blüte ihres Lebens. Und ich stand während meiner 43-jährigen Berufslaufbahn bei vier meiner Schülerinnen und Schülern am Grabe und erlebte die Beerdigungen von 14 Ex-Schülerinnen und -Schülern: Suizide, Drogen, tödliche Unfälle und natürlich – immer wieder – der Krebs. Das macht demütig gegenüber dem Ende des Lebens.

Lässt du dich impfen?

Natürlich, ich habe mich ab und zu auch gegen die Grippe impfen lassen. Aber jetzt sollen erst einmal alle geimpft werden, die es nötig haben.

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Dr. Gerald Lembke: Digitales Lernen – Risiken und Chancen

Dr. Gerald Lembke, Professor für Digitale Medien und Medienmanagement. Studium der Wirtschaftspädagogik und der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Oldenburg, Niedersachsen. Er ist der Querdenker in seiner Branche. In seinem Buch “Die Lüge der digitalen Bildung” erteilt er der von Politik, Wirtschaft und Medien propagierten digitalen Hype eine klare Absage. “Wir brauchen bessere pädgogische Konzepte statt […]

Karin Stadelmann: “Die Abklärung ist ein Reizbegriff”

Die Fakten: Der Sonderschulbedarf für Kinder steigt seit einiger Zeit stetig an (Ein Beispiel von vielen: Statistik zur Sonderpädagogik Kanton Zürich). Gemeinden investieren Jahr für Jahr mehr Geld in ihre Schulen, während die Wartezeiten für Abklärungen von Kindern Rekordhöhen erreichen und die Diagnose “Verhaltensauffälligkeiten” zunehmen. Warum das wichtig ist: Die Frage, woher der erhöhte Sonderschulbedarf kommt, ist äusserst umstritten. Faktoren wie die Digitalisierung, der integrative Unterricht und moderne Erziehungsmethoden spielen eine bedeutende Rolle. Der “Nebelspalter” hat Karin Stadelmann zu diesem Thema befragt.

2 Kommentare

  1. Nur eine Bagatell-Bemerkung zur Kritik an der Gentechnologie: Ich war immer der Meinung, die Gegner der Gentechnologie seien nur partielle Gegner. Sie sind fundamental gegen die grüne Gentechnologie in der Pflanzenwelt/Landwirtschaft, akzeptieren aber die rote Gentechnologie in der Humanmedizin – allerdings eine nicht sehr konsistente Haltung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert