Das Bedürfnis nach qualifizierten Fachpersonen war seit der Einführung der Schulpflicht im 19. Jahrhundert stetig gewachsen. Da Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten nur teilweise dem Unterricht folgen konnten, ertönte bald der Ruf nach Sonderklassen und -schulen. Mit deren Schaffung ging die Forderung nach einer besonderen Ausbildung der Sonderschullehrkräfte einher.
Heilpädagogisches Seminar Zürich
1924 startete das Heilpädagogische Seminar Zürich (HPS) als Fortbildungseinrichtung für Lehrer mit drei Tischen, 19 Stühlen, einer Wandtafel, einem Bleistift und einem Stück Kreide. Mitbegründer und bis 1941 Rektor des HPS war Heinrich Hanselmann (1885-1960). Er eröffnete den ersten Jahreskurs mit acht Studierenden und ebenso vielen Dozenten. Das Sommersemester war der theoretischen und die verbleibenden zwei Drittel des Jahres der praktischen Vorbildung gewidmet. Im Mittelpunkt standen die praktischen Seminarübungen mit wöchentlich 7-12 Übungsstunden. Gleichzeitig wurden die Kandidaten zum Besuch von regulären Vorlesungen während des Sommersemesters an der philosophischen Fakultät der Universität Zürich verpflichtet (Vorlesungen über allgemeine und experimentelle Psychologie und Pädagogik, Geschichte der Pädagogik, Volksschulkunde, Heilpädagogik und Hygiene).
Das HPS wurde von Heinrich Hanselmann und später Paul Moor durch wichtige Einrichtungen, wie das Landerziehungsheim Albisbrunn als praktischem Ausbildungsort und eine Erziehungsberatungsstelle, erweitert. Der Schwerpunkt der Ausbildung lag in der praktischen Umsetzung der theoretischen
Grundlagen. Diese wurden im Laufe der Zeit zunehmend differenzierter und auch spezialisierter. Deshalb wurde 1972 das Studium neu in ein allgemeines Grundstudium und Spezialausbildungen gegliedert, die auch für das ausserschulische heilpädagogische Berufsfeld qualifizierten. Dies waren insbesondere die Psychomotorische Therapie und die Logopädie. Zudem wurde die Abteilung „Allgemeine Fortbildung” geschaffen und im Jahre 1981 erstmals ein „Sonderkurs für Früherzieher” durchgeführt.
Erster Lehrstuhl für Heilpädagogik in Europa
Mit der Eröffnung des ersten europäischen Universitätslehrstuhls für Heilpädagogik an der Universität Zürich wurde die Verbindung des HPS mit der Universität noch enger. Heinrich Hanselmann wurde 1931 zum ersten Professor für Heilpädagogik ernannt. 1937 wurde er erster Präsident der 1937 gegründeten Internationalen Gesellschaft für Heilpädagogik.
Hanselmann und sein Nachfolger Paul Moor (1899-1977) gehören zu den Pionieren der Heilpädagogik in der Schweiz. Moor leitete das HPS von 1949 bis 1961 und übernahm 1951 an der Universität Zürich als ausserordentlicher Professor den Lehrstuhl für Heilpädagogik.
Heilpädagogik als neue humanwissenschaftliche Disziplin
Hanselmann erweiterte die bis dato stark durch die Medizin geprägte Heilpädagogik, definierte sie als Wissenschaft neu und ermöglichte andere Perspektiven und Möglichkeiten. Für Hanselmann war die folgende Differenzierung für die Etablierung der Heilpädagogik als Disziplin essentiell.
«Darum ist Heilpädagogik auch etwas anderes als eine blosse Kompilation von gewissen medizinischen und psychologischen Kenntnissen. Sie ist mehr und anders als eine blosse Addition gewisser psychotherapeutischer Methoden und pädagogischer Massnahmen.» (Hanselmann, 1932, S. 17).
Durch die Beschreibung der Entwicklung des Menschen und des Zusammenhangs zwischen Anlage und Umwelt wird deutlich, welche Themen und Fragestellungen zu Beginn durch Hanselmann vordringlich gestellt und bearbeitet wurden. Im Mittelpunkt stand die Überlegung, die Behinderung nicht nur einem Individuum zuschreibt, sondern auch dessen Umwelt miteinbezieht.
Hanselmann wollte die Heilpädagogik nicht nur zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin machen, sondern er legte auch den Grundstein für ein verändertes Bewusstsein im Umgang mit behinderten Menschen, das sich durch das ganze 20. Jahrhundert zog und bis heute hochaktuell ist.
Erzieher müssen in besonderer Weise vorbereitet werden
Die Institutionalisierung der Heilpädagogik war nicht nur durch die Differenzierung inhaltlicher Aspekte, sondern auch durch die Konzeption der eigenständigen Ausbildung von Heilpädagoginnen und Heilpädagogen gekennzeichnet. 1928 schrieb Hanselmann im Aufsatz «Über heilpädagogische Ausbildung», dass Erzieher und Lehrer auf die Erziehung «des entwicklungsgehemmten Kindes» in besonderer Weise vorbereitet werden müssen. Hanselmann wollte die Heilpädagogik nicht nur zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin machen, sondern er legte auch den Grundstein für ein verändertes Bewusstsein im Umgang mit behinderten Menschen, das sich durch das ganze 20. Jahrhundert zog und bis heute hochaktuell ist.
Kinder werden als soziale Wesen verstanden
Grundlage für die heilpädagogische Arbeit war ein an der europäischen Wissenschaftstradition orientiertes personales Menschenbild. Die Lebensgeschichte des Kindes war Ausgangspunkt der heilpädagogischen Arbeit und der Erziehungs- und Beziehungsaspekt stand im Zentrum. Diese personale Auffassung des Kindes wurde bis in die 1980er-Jahre gelehrt und praktiziert. Heinrich Hanselmann, Paul Moor, Ernst Scheidegger, Emil E. Kobi, um nur einige der bekannten Schweizer Heilpädagogen zu nennen, bildeten die angehenden Heilpädagogen in diesem Sinne aus.
Neue Heilpädagogik: Abkehr von Pädagogik und ganzheitlichem Ansatz
Eine folgenschwere Weichenstellung in der Heilpädagogik erfolgte unter anderen im Kanton Zürich mit dem Bildungsratsbeschluss vom 4. September 2006: Man erklärte ein Verfahren für die Arbeit mit Kindern mit «besonderen Bedürfnissen»für verbindlich, das auf dem Hintergrund der «Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)» ausgearbeitet worden war. Damit vollzog sich ein Paradigmenwechsel vom personalen Menschenbild zu einem theoriefreien, auf rein deskripitiv-empirischer Grundlage beruhenden Konzept, das der angloamerikanischen Wissenschaftsauffassung entsprang. Die Heilpädagogik wurde damit von der Pädagogik in den medizinisch-psychiatrischen Fachbereich überführt. Heute sind kinderpsychiatrische oder -psychologische Abklärungsverfahren üblich, aus denen Diagnosen resultieren, wie sie im internationalen psychiatrischen Klassifizierungssystem ICD-10 aufgeführt sind, das in der Heilpädagogik im ICF seine Entsprechung hat.
Mit der Kinderversion des ICF werden die Beobachtungen durch einheitliche Kriterien und eine einheitliche Sprache erfasst und in den Rastern der vorgegebenen Bereiche auflistet.
Mit der Kinderversion des ICF werden die Beobachtungen durch einheitliche Kriterien und eine einheitliche Sprache erfasst und in den Rastern der vorgegebenen Bereiche auflistet. Daraus werden Förderziele abgeleitet und Förderpläne erstellt, nach denen Eltern, Lehrer und Therapeuten arbeiten. Auch wenn stets von Ressourcenorientiertheit gesprochen wird, richtet sich der Scheinwerfer im Grunde genommen auf die Defizite und das Unvermögen der Kinder und schränkt den pädagogischen Spielraum auf blosse Verhaltenskonditionierung (Behaviorismus) ein. Die heutige heilpädagogische Ausbildung und Praxis folgt diesen Richtlinien.
Zwischen 2005 und 2006 wurden die Studiengänge der Fachhochschulen an die „Erklärung von Bologna“ angepasst.
Ausbildung und Praxis folgen internationalem psychiatrischem Klassifizierungssystem
Das Heilpädagogische Seminar Zürich wurde 2001 zur Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH). Schweizweit wurden die pädagogisch-praktisch orientierten Seminare abgeschafft und durch akademisch orientierte Fachhochschulen ersetzt. Zwischen 2005 und 2006 wurden die Studiengänge der Fachhochschulen an die „Erklärung von Bologna“ angepasst (Bachelor- und Masterstudium). Die Ausbildung folgt den oben beschriebenen Grundlagen.
Seit etwa 2010 beunruhigen Meldungen, dass immer mehr Kinder psychologisch abgeklärt werden müssen und therapeutische Massnahmen erhalten. Viele Kinder werden schon im frühen Alter mit schweren psychiatrischen Diagnosen belastet. Es folgen vielerlei Therapien, die oft über Jahre andauern. Die Regelklassen sind oft stark belastet durch Kinder, die dem Unterricht kaum folgen können. Die Frage nach dem Warum ist selten zu hören, wäre aber einschneidend bei einer allfälligen Wiedereinführung von Kleinklassen. Denn es stellt sich die Frage, ob die heutigen Heilpädagogen in den Pädagogischen Fachhochschulen unter diesen Prämissen das entsprechende praktische Rüstzeug und (heil-)pädagogische Fachwissen vermittelt bekommen, um eine Kleinklasse mit Sonderschülern erfolgreich führen zu können. Ohne jene Zeit glorifizieren zu wollen, bedeutete erfolgreich für viele Kinder und Jugendliche, die eine Kleinklasse besuchten, dass sie eine Lehre machen konnten und eine Perspektive für ihr Leben erhielten.
Quellen:
Hanselmann, H. (1928). Über heilpädagogische Ausbildung. In: Zeitschrift für Kinderforschung, 2, 113-124.
Hanselmann, H. (1932). Was ist Heilpädagogik? In: Arbeiten aus dem heilpädagogischen Seminar, 1, 1-18.
Paul Moor. Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern/Stuttgart 1969 (Neuauflage 1993),
Schriber, Susanne (1994): Das Heilpädagogische Seminar Zürich – Eine Institutionsgeschichte. Dissertation. Zürich: Zentralstelle der Studentenschaft.
Einen so guten Artikel über die Entwicklung dder Heilpädagogik habe ich noch nie gelesen. Ob die heutigen Ausbildung angehenden Heilpädagoginnen und -pädagogen wirklich das Rüstzeug an die Hand gibt, das sie brauchen um Kindern mit Schwierigkeiten angemessen zu helfen, frage ich mich schon lange. Diagnostizieren, benennen, schubladisieren – damit ist keinem Kind geholfen. Dagegen kann der personale Ansatz, wo eine ganzheitliche Erfassung der Persönlichkeit des KIndes angestrebt wird, dem Kind gerecht werden. Es stellt sich die Frage, wie man diesen Ansatz wieder in Aus- und Weiterbildung der Heilpädagoginnen und -pädagogen etablieren kann zum Wohl der Kinder, aber auch, um eine befriedigende erfüllende Berufsausübung der Pädagoginnen und Pädagogen zu ermöglichen.