27. April 2024

Digital-Apostel in Vogel-Strauß-Manier oder: Sprechverbote über den Einsatz von Digitaltechnik und Datenschutz in Schulen sind keine Lösung

Sprechverbote über den Einsatz von Digitaltechnik und Datenschutz in Schulen sind keine Lösung, merkt Medienwissenschaftler Ralf Lankau zum Blog-Eintrag über Digital-Washing und postdigitale Schulen von Philippe Wampfler (18. Oktober 2020) an. In seiner Replik widerspricht er Wampflers Forderungen, die Schulen ohne lange Diskussionen zu praktischen Laboren der Digitalität umzugestalten.

In seinem Blog-Beitrag „Labore der Digitalität: Von Digital Washing zu postdigitalen Schulen“ übernimmt der Kantonsschullehrer und Deutschdidaktiker Philippe Wampfler einen Begriff des deutschen Realschullehrers Dejan Mihajlovic, Vorstand im Projekt “D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt” (https://d-64.org/), um den Schweizer Schulen und der Lehrerschaft pauschal eine Verhinderungstaktik bei der Digitalisierung von Schule und Unterricht zu unterstellen. Wie beim Green Washing, bei dem Unternehmen über Umweltschutz nur redeten, um nichts tun zu müssen, würde auch an den Schweizer Schulen über Digitalisierung nur geredet.

„Mehr noch: Gespräche über »Digitalisierung« sind eigentlich ein Vorwand, um die Veränderung nicht angehen zu müssen.“ (Wampfler, 2020)

Es kommt nun mal auf etwas anderes an: Persönlichkeit und Beziehung.

Dejan Mihajlovic: Schweizer Schulen setzen auf Verhinderungstaktik

In solchen Verhinderungsgesprächen werde erörtert, dass der Einsatz von Digitaltechnik aufwendig und problematisch sei, dass es unterschiedliche Positionen dazu gebe, dass der Nutzen weder nachgewiesen noch absehbar sei und Schulen doch heute schon gute Arbeit leisteten. Die Haltung „Lasst uns also erstmal weitermachen wie bisher“ unterstellt Wampfler den Kolleginnen und Kollegen pauschal. Ist das die Realität an Schweizer Schulen? Wohl kaum. Julia Heier, seit zehn Jahren Lehrerin an einem Schweizer Gymnasium schrieb in einem Gastbeitrag der FAZ, Schweizer Schulen seien technisch gut ausgestattet, aber nach der Covid-19-Erfahrung neidisch auf das asynchrone und analoge Unterrichten, da „die technische Verfügbarkeit eines eigenen multifunktionalen Kommunikationstools sowie eines stets verfügbaren Systemadministrators, nach dem sich gerade viele Eltern sowie nicht zwangsvirtualisierte Lehrende sehnen, nicht ausschlaggebend für nachhaltiges Lernen“ sei. (Heier, 2020) Es kommt nun mal auf etwas anderes an: Persönlichkeit und Beziehung.

Carl Bossard: Die “Ewigmorgigen”

Und egal, welche Technik auf den Markt kommt, werden sich Vertreter in den Kollegien finden, die deren Einsatz umgehend im Unterricht fordern (Pias, 2013). Der Schweizer Pädagogikprofessor Carl Bossard, nennt solche Technikfetischisten die „ewig Morgigen“. Wenn dann etwas nicht funktioniert, kommt sogleich ein „es funktioniert noch nicht, weil …: die Lehrer/innen die Technik noch nicht richtig einsetzen würden, die Schüler/innen den Umgang erst lernen müssten, die Systeme noch nicht richtig konfiguriert seien, die Programme erst noch optimiert werden müssten etc.pp. Antipädagogisch und technikdeterministisch wird es, wenn daraus ein Diskursverbot über den Einsatz von Medientechnik im Unterricht abgeleitet wird:

Digitale Medien sollten in Lernumgebungen ganz selbstverständlich eingesetzt werden. Ohne Diskussionen, ohne zögerliches Abwägen, ohne Euphorie. Nüchtern, pragmatisch – aber auch selbstverständlich.“ (Wampfler, 2020)

Wir arbeiten nicht digital, sondern zum Teil mit digitalen Werkzeugen. Wir kommunizieren nicht digital, sondern nutzen zum Teil eine digitale Infrastruktur. Wir leben nicht digital, sondern immer noch (zum Glück) als Menschen in realen Gemeinschaften.

Philippe Wampfler, Lehrer in der Kantonsschule Enge und Experte für Lernen mit Neuen Medien: Umsetzen, nüchtern, pragmatisch
Photo: Florian Bachmann

Es gehört es zu den elementaren Aufgaben jeder und jedes Lehrenden zu entscheiden, welche Medien und/oder Medientechnik er oder sie für ihren/seinen Unterricht einsetzt. Das ergibt sich bereits didaktisch und sachlogisch aus dem Wechselspiel von Bildungsauftrag und -ziel, dem Alter und sozialen Konstellation der Schüler/innengruppe, den Fachinhalten und nicht zuletzt der Lehrpersönlichkeit. Zumindest in Deutschland haben Lehrkräfte deshalb die grundgesetzlich abgesicherte Methodenfreiheit und entscheiden selbst über den Einsatz von Medien im Unterricht. Hier verkehrt Wampfler das notwendige pädagogische Primat des Medieneinsatzes in ein Technisches.

„Weil Menschen heute digital arbeiten, digital kommunizieren, digital leben: Deswegen sollten auch Schülerinnen und Schüler digital lernen.“ (ebenda)

Er verkennt vor allem, dass bereits seine Ausgangsprämissen falsch sind. Wir arbeiten nicht digital, sondern zum Teil mit digitalen Werkzeugen. Wir kommunizieren nicht digital, sondern nutzen zum Teil eine digitale Infrastruktur. Wir leben nicht digital, sondern immer noch (zum Glück) als Menschen in realen Gemeinschaften. Denn etwas zu digitalisieren heißt, eine beliebige Information (einen Text, ein Bild oder auch menschliches Verhalten) technisch aufzuzeichnen und so zu transformieren, dass daraus maschinenlesbare Daten werden, die von Datenverarbeitungssystemen nach bestimmten Handlungsvorschriften (d.h. Algorithmen) verarbeitet werden. Menschen sind keine Datenverarbeitungsmaschinen. Das heißt: Nicht einmal auf der semantischen Ebene ist im Beitrag durchdrungen, was digitalisieren bedeutet.

Nebenbei: Der Begriff Postdigitalismus hieße, die derzeitigen Formen und Strukturen der Digitalisierung grundsätzlich zu überdenken und neu zu strukturieren und gerade nicht, sie unreflektiert zu nutzen. Aber Begriffslogik gehört nicht zu den Stärken von Digitalisten.

 

Bossard, Carl (2020): Von den ewig Morgigen. Der Angst vor dem Fertigen mit dem permanenten Umbau steht der Mut zu pädagogischen Konstanten gegenüber. Bildung oszilliert zwischen diesen beiden Polen. Ein Zwischenruf., https://bildung-wissen.eu/kommentare/9518.html

Heier, Julia (2020): Digitale Schule in der Schweiz : Nur kein Neid, in: FAZ vom 30.5.2020, S. 9,
https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/wie-die-digitalisierung-der-schulen-in-der-schweiz-laeuft-16788887.html?premium=0x6b8dcd61d68d90aca68d814c84425e44&GEPC=s5

Wampfler, Philippe (2020): Labore der Digitalität: Von Digital Washing zu postdigitalen Schulen https://condorcet.ch/2020/10/labore-der-digitalitaet-von-digital-washing-zu-postdigitalen-schulen/

Pias, Claus (2013): Automatisierung der Lehre. Eine kurze Geschichte der Unterrichtsmaschinen, in FAZ vom 10.12.2013; https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/automatisierung-der-lehre-eine-kurze-geschichte-der-unterrichtsmaschinen-12692010.html (20.10.2020)

 

Prof. Dr. Ralf Lankau ist Grafiker, Philologe und Kunstpädagoge, hat eine Professur für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg und ist Redaktionsleiter der Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW).

Verwandte Artikel

Weniger Bildungspathos, bitte!

Die Unterrichtssprache verändert sich. Das ist nichts Neues; neu hingegen ist das sprachliche Imponiergehabe im Bildungswesen. So wird die schulische Integration per se als Menschenrecht deklariert. Ein Plädoyer für mehr Bescheidenheit von Carl Bossard.

Lehrende und lernende Gehirne. Abgesang auf die Neuropädagogik, Teil 3

Sie lesen hier den dritten und letzten Teil des Beitrags von Condorcet-Autor Professor Walter Herzog zur Neurodidatik. Er stellt fest, dass ein naturalistischer Reduktionismus nach dem Motto «Geist ist, was das Gehirn tut» sich im pädagogischen Diskurs breitzumachen droht. Der Beitrag wird mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis abgeschlossen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert