Man mag es eine Posse nennen, andere sehen einen Kniefall eines renommierten Verlags, der entgegen seiner Überzeugungen das Knie vor einer ausser Rand und Band geratenen kompetenzsüchtigen Bildungskaste beugt. Doch alles der Reihe nach.
Wir können uns dies nicht leisten
Vor einigen Monaten erhielt Yasemin Dinekli eine interessante Anfrage des Klett-Verlags. Man plane das Thema «Kompetenzorientierung auch im Gymnasium?» in der Rubrik «Pro & Kontra» im hauseigenen Magazin «Rundgang» aufzunehmen. Für den Pro-Artikel konnte man Prof. Dr. Markus Wilhelm von der PH Luzern gewinnen. Ob sie Zeit und Lust habe, das «Widerwort» zu schreiben. Yasemin Dinekli sagte gerne zu. Ihr Kontra-Beitrag wurde anschliessend ihrem Kontrahenten zugestellt, der darauf seinen Artikel etwas anpasste, was auch ihr wiederum zugestanden wurde. Dann hörte man einige Zeit nichts mehr.
Am 18. August schliesslich meldete sich der Verlag mit einem Rückzugswunsch. Er möchte den Kontra-Teil so nicht in einem PR-Magazin veröffentlichen, da man es sich nicht leisten könne, mit den erwähnten Beispielen aus Deutschland und der Schweiz die Entscheider im Bildungswesen herauszufordern. Man lebe ja von der Abstimmung auf den Lehrplan 21, weshalb die Autorin gebeten wurde, den Beitrag zu überarbeiten, indem sie nur die Folgen für ihren eigenen Unterricht reflektiere.
Selbstredend lehnte Frau Dinekli dieses Ansinnen ab:
«Meine Schlussfolgerung aus dieser Auseinandersetzung ist, dass eine Umformulierung des Beitrags im Sinne des Verlags gerade angesichts der im Artikel formulierten Argumente und auch der besonderen Entwicklungen in anderen Kantonen nicht in Frage kommt.» (22. September 2020)
Sie verlangen die Quadratur des Kreises
Und sie begründete Ihre Absage mit folgenden Worten:
«Ihr Vorschlag, ich könne darlegen, was die Kompetenzorientierung für mein Fach konkret bedeute, habe ich mir ernsthaft durch den Kopf gehen lassen. Er verlangt die Quadratur des Kreises: Wir vermitteln ja im Deutschunterricht in starkem Masse Kompetenzen – das ist seit Beginn meiner Unterrichtstätigkeit vor 28 Jahren noch nie anders gewesen. Meine Argumentation im Kontra-Beitrag läuft darauf hinaus, dass die vorhandene Kombination der inhaltlichen Lehrpläne mit den Kompetenzformulierungen in den Rahmenlehrplänen es den Lehrpersonen freistellt, wie sie diese stofforientiert sinnvoll kombinieren – im Gegensatz zu einem kompetenzorientierten Lehrplan. Für die inhaltlichen Stoffvorgaben besteht dadurch Klarheit und die Kompetenzen orientieren sich an ihnen und nicht umgekehrt. Das funktioniert gut so und es besteht kein Änderungsbedarf. Und wie das Beispiel aus Basel zeigt, kommt man zu genau diesem Konzept zurück.
Herr Müller könnte sich nun in seiner Behauptung bestätigt sehen, dass sich also gar nichts ändern würde. Dass dies mitnichten so ist, lässt sich nur an den gemachten Erfahrungen belegen (- wieso nicht die aus Deutschland? – und weshalb nicht gerade die mit Lehrmitteln aus der Schweiz?). Andere Belege lassen sich deshalb nicht anführen, weil sie sich im Gymnasium der Schweiz (nicht so in Deutschland) noch im rein fiktiven Raum bewegen. Doch im Sekundarbereich wurden die Konsequenzen gerade für die Produktion von Lehrmitteln in der Praxis deutlich sichtbar. Es wäre geradezu fahrlässig, sich nicht an diesen durch eine seriöse Evaluation validierten Erfahrungen zu orientieren.»
Der Verlag antwortete, dass dies unter der Bedingung möglich sei, wenn dabei die Vorgeschichte und der Name Klett und Balmer unerwähnt bliebe.
Daraufhin verzichtete der Verlag ganz auf die Veröffentlichung der beiden Stellungnahmen, wollte aber ausdrücklich den Aufwand der beiden Autoren vergüten. Frau Dinekli – vorsichtig wie sie nun einmal ist – fragte nach, ob im Falle einer Auszahlung des Honorars, sie im Besitze der Autorenrechte bleibe, sprich, sie ihren Beitrag auf dem Condorcet-Blog veröffentlichen könne. Der Verlag antwortete, dass dies unter der Bedingung möglich sei, wenn dabei die Vorgeschichte und der Name Klett und Balmer unerwähnt blieben.
Diesen Gefallen wollte Frau Dinekli dem Verlag allerdings nicht tun. Sie antwortete:
«Ich habe mich entschieden, unter den angeführten Bedingungen meinen Artikel nicht in Rechnung zu stellen und damit meine Meinungshoheit – auch über die Haltung des Verlags – vollständig zu behalten. Den Verlauf bedaure ich insbesondere deshalb, weil sich durch die Rubrik Pro & Kontra im “Rundgang” gerade der erfreuliche Eindruck, der Verlag Klett & Balmer fördere eine differenzierte Auseinandersetzung zwischen Lehrpersonen und ‘Bildungsentscheidern’, ins Gegenteil verkehrt hat.»
Auch Markus Wilhelm, der Verfasser des Pro-Artikels, war über diese Entwicklung alles andere als glücklich und gestattete dem Condorcet-Blog die Veröffentlichung seines Textes.
Somit springt der Condorcet-Blog gemäss seinem Selbstverständnis der Diskursoffenheit in die Bresche und veröffentlicht in der Folge die beiden kontroversen Beiträge. Dabei ist festzuhalten, dass im Gegensatz zur Primar- und Sekundarstufe es am Gymnasium (noch) kein Lehrmittelobligatorium gibt. Das lässt immerhin die Hoffnung zu, dass sich diejenigen didaktischen Ansätze durchsetzen werden, die sich eben in der Praxis bewähren.
Redaktion
Hut ab vor Yasemin Dinekli! Da lässt sich eine mutige Gymnasiallehrerin ihre aufwändige Arbeit nicht vergüten, damit sie ihre Meinungsfreiheit gegenüber einem renommierten Verlag nicht verliert. Es ist schon erstaunlich, wie nervös der Klett Verlag reagiert, wenn die alles bestimmende Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 für offenen Widerspruch aus der Praxis sorgt. Zwar haben die Schweizer Gymnasien noch keine Erfahrungen mit dem neuen Kompetenzenmodell. Aber die Rückmeldungen aus der Sekundarschule zeigen, dass das aktuelle Hintenanstellen von Bildungsinhalten in Lehrerkreisen zu grosser Verunsicherung führt.
Die Angst, gegen das Gebot einer gewissen Loyalität gegenüber seinem Auftraggeber zu verstossen, darf nicht zu lähmender Bravheit führen. Wenn sich offensichtliche Mängel bei einem Grossprojekt zeigen, ist Verdrängen der falsche Weg und macht den oft laut gepriesenen Bildungsdiskurs zur Farce. Wir haben nun nachgerade genug Erfahrung mit schöngeredeten Fehlentwicklungen an unseren Schulen. Ich bin deshalb Yasemin Dinekli und der Redaktion des Condorcet-Blogs äusserst dankbar, dass sie in dieser unerfreulichen Angelegenheit für Transparenz gesorgt haben. Man darf gespannt sein, wie es nun weitergeht.