21. Dezember 2024

Die wundersame Rolle Rückwärts der OECD: Berufliche Bildung als entscheidender Standortfaktor

Die Bildungsinteressierten und regelmässigen Leserinnen und Leser des Condorcet-Blogs reiben sich die Augen. Der neuste Länderbericht der OECD lobt nun plötzlich das duale Prinzip unserer Berufsausbildung in Deutschland, Österreich und der Schweiz, nachdem sie dieses jahrelang als unzeitgemäss abqualifiziert hatte. Professor Hans Peter Klein aus Frankfurt recherchierte und dokumentiert die folgenreiche Entwicklung einer fatalen Fehleinschätzung.

OECD-Bildungsbericht: Späte Erkenntnisse

Schaut man sich die neueste Studie der OECD unter dem Titel: „Bildung auf einen Blick 2020: OECD Indikatoren“1 bezogen auf den Standort Deutschland an, so findet man in der dortigen „Ländernotiz“ gleich an erster Stelle folgendes Ergebnis: „Berufliche Bildung ist eine der Stärken des deutschen Bildungssystems und wird eine Schlüsselrolle in der Erholungsphase nach der COVID-19-Pandemie spielen. Rund die Hälfte (46 %) der Schüler im Sekundarbereich II entscheiden sich für einen berufsbildenden Bildungsgang und die meisten von ihnen (89 %) nehmen an einem dualen schulischen und betrieblichen Bildungsgang teil.“2 Auch beim zweiten Ergebnis: “Insbesondere das Berufsbildungssystem stellt eine hohe Beschäftigungsfähigkeit sicher,“ 3 glaubt man eher an eine Fata Morgana als ein weiteres wesentliches Ergebnis einer aktuellen OECD-Studie. Über so viel Lob der OECD für die berufliche Bildung im gesamten deutschsprachigen Raum können sich ältere Bildungsinteressierte nur verwundert die Augen reiben.

Auch beim zweiten Ergebnis: “Insbesondere das Berufsbildungssystem stellt eine hohe Beschäftigungsfähigkeit sicher,“ glaubt man eher an eine Fata Morgana als ein weiteres wesentliches Ergebnis einer aktuellen OECD-Studie.

Duales Prinzip nicht mehr zeitgemäss? War da mal was ?

Berufliche Bildung ist eine der Stärken des deutschen Bildungssystems und wird eine Schlüsselrolle in der Erholungsphase nach der COVID-19-Pandemie spielen.

Hatte nicht gerade die OECD seit dem Millennium massiv Stellung gegen die berufliche Bildung im gesamten deutschsprachigen Raum bezogen und mit der genauen Gegenposition massiv Druck auf die Bildungspolitik der drei Länder Österreich, Schweiz und Deutschland ausgeübt? Die auf den deutschsprachigen Raum beschränkte Sonderform eines zweigleisigen Bildungswesens sei nicht zeitgemäß, nicht anschlussfähig und den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen, hieß es damals und in den Folgejahren aus der gleichen Quelle. Vor allem die seinerzeit viel zu geringe Abiturienten- und Akademikerquote stand massiv in der Kritik. Nur eine deutliche Erhöhung der Studierendenquote und eine Akademisierung der beruflichen Bildung nach angloamerikanischem Vorbild könne die Anschlussfähigkeit der drei Länder in einer globalisierten Welt garantieren und vor allem Deutschland vor dem wirtschaftlichen Ruin bewahren.

Noch 2017 reagierte der Schweizerische Gewerbeverband auf ähnliche Forderungen der OECD für die Schweiz nach einer Akademisierung der Berufsausbildung harsch4:

Duales Prinzip: Nicht mehr zeitgemäss?

Die OECD fordert eine stärkere Akademisierung der Berufsbildung. Das ist genau das Gegenteil von dem, was das Erfolgsmodell der Schweizer Berufsbildung ausmacht. Es ist der hohe Praxisbezug, der die Qualität und die Arbeitsmarktfähigkeit sicherstellt. Die breite und feste Verankerung in den Betrieben ermöglicht es, dass die angehenden Berufsleute die neusten Entwicklungen in den Branchen hautnah mitbekommen und sich so zu den Besten weltweit entwickeln können. Und es sind explizit nicht die Akademisierung oder die Verwaltung, die dies zu leisten vermögen. Der OECD fehlt bei diesen Fragen schlicht die spezifische Fachkompetenz.

Die Schweiz liess sich nicht beirren

Während in Deutschland die Bildungspolitik weitgehend den Ratschlägen folgte und seit der Jahrtausendwende die Abiturientenquote in den einzelnen Bundesländern und nachfolgend die Studierendenquote fast verdoppelte – einige Bundesländer nähern sich bereits der 60% Hürde eines Jahrgangs –, verblieb die Schweiz aus gutem Grund weiterhin bei ihrem favorisierten Modell einer qualifizierten Berufsbildung. Im Laufe der Zeit regte sich auch in Deutschland Widerstand gegen die von der OECD indirekt aufgezwungene einseitige Betonung der tertiären akademischen Ausbildung.

Noch vor ungefähr einem Jahrzehnt gab es in Deutschland etwas mehr als 10.000 Studiengänge, aktuell liegen die Zahlen bereits bei über 20.000, Tendenz kontinuierlich weiter ansteigend.

Eine irrwitzige Entwicklung

Denn parallel zu kontinuierlich ansteigenden Abiturientenquoten und Studierendenzahlen verlor die duale Berufsausbildung immer mehr an Attraktivität. Viele Lehrberufe im Bereich der sekundären Ausbildung konnten daher in den letzten Jahren nicht besetzt werden, obwohl Handwerker und Fachkräfte allerart in nahezu allen Bereichen fehlen. Auch die Qualität der Bewerber ließ in den letzten Jahren spürbar nach, so die Klagen vieler Ausbildungsbetriebe. Dies ist einerseits die unmittelbare Folge einer bisher in diesem Ausmaß nicht bekannten Akademisierung beruflicher Bildung. Noch vor ungefähr einem Jahrzehnt gab es in Deutschland etwas mehr als 10.000 Studiengänge, aktuell liegen die Zahlen bereits bei über 20.000, Tendenz kontinuierlich weiter ansteigend. 6 Immer mehr Ausbildungsgänge der bisherigen Berufsausbildung werden insbesondere an den Fachhochschulen in großem Umfang in Studiengänge umgewandelt. Allein in den Pflegeberufen bieten mehr als 75 Universitäten, Hochschulen und Akademien rund 150 Studiengänge an, davon rund 100 mit Bachelor- und knapp 50 mit Masterabschluss an.5 Pflegewissenschaften, Pflegemanagement, Pflegepädagogik, Gerontologie, Advanced Nursing Practice oder Palliativpflege sind nur einige wenige aus dem immer breiter werdenden Spezialisierungssortiment.

Allein in den Pflegeberufen bieten mehr als 75 Universitäten, Hochschulen und Akademien rund 150 Studiengänge an, davon rund 100 mit Bachelor- und knapp 50 mit Masterabschluss an.5 Pflegewissenschaften, Pflegemanagement, Pflegepädagogik, Gerontologie, Advanced Nursing Practice oder Palliativpflege sind nur einige wenige aus dem immer breiter werdenden Spezialisierungssortiment.

Bei der Lektüre dieser teilweise illustren Studiengänge staunt man auch als Hochschullehrer nicht schlecht, was da so alles den Studierwilligen angeboten wird. Bei der ein oder anderen Zeitungslektüre beispielsweise über einen Bachelor im Zähnesäubern – ausgewiesen als Dentalhygiene und Präventionsmanagement – überlegt man ernsthaft, ob es sich um eine Tatsache oder doch eher um eine Satire handelt. Viele der neuen Studiengänge und ihre vielversprechenden Titel verstehen selbst Insider kaum noch: Agribusiness, Europäische Rechtslinguistik, Servicecenter Management, Golf- Management, Accessoire Design, Culinary Arts and Food Management, Rehabilitationspädagogik, Coffeemanagement, E-Commerce, Citizenship, Civic Engagement uvm.„Was einmal zwei Hauptseminare, wird heute in einen ganzen Studiengang verpackt“, so Michael Hartmer, der Geschäftsführer des Deutschen Hoschulverbandes7.

Viele der neuen Studiengänge und ihre vielversprechenden Titel verstehen selbst Insider kaum noch: Agribusiness, Europäische Rechtslinguistik, Servicecenter Management, Golf- Management, Accessoire Design, Culinary Arts and Food Management, Rehabilitationspädagogik, Coffeemanagement, E-Commerce, Citizenship, Civic Engagement.

Hörsaal statt Betrieb

Zahl der Abiturienten um 70% gesteigert

Dennoch befindet sich die berufliche Bildung laut der neuen Studie in allen Industriestaaten weiter auf dem Rückzug. „Hörsaal statt Berieb“, kommentierte die Süddeutsche Zeitung diese Entwicklung8. Auf die Folgen dieser Steuerung wurden schon vor 10 Jahren hingewiesen: „Akademisierung gefährdet duale Berufsausbildung“, titulierte seinerzeit die Wirtschaftswoche9. Schon damals warnten nicht wenige Hochschullehrer vor einem bis dahin nicht gekannten Akademisierungswahn, der das in der Vergangenheit erfolgreiche duale Bildungssystem in Bezug auf seinen berufsbildenden Teil in eine existenzbedrohliche

Nida Rümelin: Fragwürdige Entwicklung

Lage manövrieren würde. Nicht nur Kollege Julian Nida-Rümelin unterstrich diese fragwürdige Entwicklung schon damals mit Zahlen, die diejenigen der OECD relativierten und eigentlich Politiker hätten wach rütteln müssen. So habe beispielsweise Großbritannien bei einer doppelt so hohen Akademikerquote auch eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit, von südeuropäischen Ländern ganz zu schweigen.10 Ganz im Gegenteil dazu hatte schon damals neben Deutschland auch die Schweiz und Österreich dank des dualen berufsbildenden Systems im Vergleich mit anderen OECD Staaten eine deutlich niedrigere Arbeitslosigkeit zu verzeichnen.

So habe beispielsweise Großbritannien bei einer doppelt so hohen Akademikerquote auch eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit, von südeuropäischen Ländern ganz zu schweigen.

Dennoch wird auch in der neuen Studie immer wieder betont, dass diejenigen mit akademischen Abschlüssen letztlich mehr verdienen als die des sekundären Ausbildungswegs und zusätzlich auch ein niedrigeres Arbeitslosenrisiko aufweisen würden. Julian Nida-Rümelin spricht hier zurecht von einem Downgrading: „Es ist klar, dass immer die, die etwas höher qualifiziert sind oder scheinen, die Jobs bekommen. Das heißt aber nicht, dass die Gesamtarbeitslosigkeit sinkt, wenn immer mehr die so genannten höheren Abschlüsse haben.“11 Hinzu kommt, dass viele Hochschulabsolventen in der Bachelorfalle sitzen. Damit erreichen sie selbst im Öffentlichen Dienst nicht einmal den Einstieg in den höheren Dienst. Nicht zu vergessen sind die Entwicklungen beispielsweise in China oder Australien. „In Australien beginnen 85% eines Altersjahrgangs ein Hochschulstudium. Haben die alle eine Chance auf einen hoch qualifizierten Job? Nein. Stattdessen müssen viele eine Ausbildung an ihr Studium anschließen. Zwei Drittel der australischen Azubis haben einen Bachelordegree“, so Felix Rauner im Streitgespräch mit Andreas Schleicher.12

Völlig aus dem Ruder gelaufen

Professor Felix Rauner: Zwei Drittel der australischen Azubis haben einen Bachelor

Insbesondere die Studierendenzahlen an Deutschlands Universitäten sind allein in den letzten 10 Jahren völlig aus dem Ruder gelaufen. Viele der großen Universitäten haben ihre Studierendenzahlen auch auf Druck der Landesregierungen um bis zu 70% erhöhen müssen und das bei kaum angestiegenem Personal. Die Professoren-Studierenden-Relationen haben sich an allen Universitäten massiv verschlechtert, mit absehbaren negativen Folgen insbesondere für die Lehre.

Heutzutage bestreitet eigentlich niemand mehr ernsthaft, dass es zu einer kontinuierlichen Abwärtsspirale in den fachlichen Anforderungen besonders im Abitur gekommen ist, die sich in der Folge natürlich auch in den Hochschulen ausbreitet. Denn diese befinden sich ebenfalls unter dem politischen Druck, zum Zertifizierungsdiscounter zu werden.

Dass jeder Studierwillige mittlerweile auch ohne Abitur eine Hochschule in Deutschland besuchen kann, ist politisch gewollt. Nach dem Sinn derartiger Maßnahmen zu fragen, gilt heutzutage als falsch und ausgrenzend gestellte Frage. Dabei ist es für alle offensichtlich, dass hier eine Bildungsexpansion betrieben wird, die erstens mit Bildung nur noch wenig zu tun hat. Zweitens werden aufgrund völliger Unterfinanzierung nur noch Massen durch das System geschleust, wodurch eine Elitebildung als Voraussetzung für kreative und innovative Entwicklungen weitgehend aus einer fadenscheinigen Gleichmacherei ausgehebelt wird. Man glaubt anscheinend, ohne diese im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Und drittens bestreitet heutzutage eigentlich niemand mehr ernsthaft, dass es zu einer kontinuierlichen Abwärtsspirale in den fachlichen Anforderungen besonders im Abitur gekommen ist,13 die sich in der Folge natürlich auch in den Hochschulen ausbreitet. Denn diese befinden sich ebenfalls unter dem politischen Druck, zum Zertifizierungsdiscounter zu werden. Und gleichzeitig wird genau durch diese Maßnahmen das duale berufsbildende System und in diesem die berufliche Bildung nachhaltig beschädigt, die gerade im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten ein Garant unseres Wohlstands war.

 

Literatur:

1 OECD. Bildung auf einen Blick 2020: OECD Indikatoren.

https://www.oecd-ilibrary.org/education/bildung-auf-einen-blick-2020-oecd-indikatoren_6001821nw

(Abruf: 25.09.2020)

2 OECD. Bildung auf einen Blick 2020. Ländernotiz. Deutschland (S. 1-16)

3 Ebd.

4 Schweizerischer Gewerbeverband: OECD versteht Berufsausbildung nicht. Schweizerische Gewerbezeitung. 22.11.2017

https://www.sgv-usam.ch/news-medien/medienmitteilungen/oecd-versteht-berufsbildung-nicht (Abruf: 25.09.2020)

5 Hans Peter Klein. Abitur und Bachelor für alle. Wie ein Land sein Zukunft verspielt. ZuKlampen 2018, S. 113 ff

6 Ebd.

7 Michael Weißenborn. Studiengänge.Die wundersame Vermehrung. Stuttgarter Nachrichten 12.02.2018

https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.studiengaenge-die-wundersame-vermehrung.c6ec986f-0d1d-4884-8cfa-20bc59597b03.html (Abruf: 25.09.2020)

8 Rossbach, Henrike: Hörsaal statt Betrieb. Süddeutsche Zeitung v. 08.09.2020

https://www.sueddeutsche.de/bildung/oecd-bildung-ausbildung-studium-abschluss-job-beruf-corona-1.5024475 (Abruf: 25.09.2020)

9 Ferdinand Knauß. Akademisierung gefährdet duale Berufsausbildung. Wirtschaftswoche. 04.10.2013

https://www.wiwo.de/erfolg/hochschule/bildungspolitik-akademisierung-gefaehrdet-duale-berufsbildung/8873820.html (Abruf: 25.09.2020)

10 UniReport. „Eine einfache Durchakademisierung der Bevölkerung ist völlig kontraproduktiv“. Interview mit Julian Nida Rümelin und Hans Peter Klein

http://www.julian.nida-ruemelin.de/wp-content/uploads/2015/07/Durchakademisierung-der-Bev%C3%B6lkerung.pdf (Abruf: 25.09.2020)

11 Ebd.

12 Inge Kuttner, Rudy Novottny: Wie aus Meistern Master werden. Die ZEIT 30/2014

https://www.zeit.de/2014/30/bildung-ausbildung-studium (Abruf: 25.09.2020)

13 Hans Peter Klein. Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen. Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel. ZuKlampen 2016

 

 

Der Autor hatte bis 2018 den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften inne, ist Präsident der gleichnamigen Gesellschaft und Mitbegründer der Gesellschaft für Bildung und Wissen.

 

 

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Es ist durchaus interessant zu erfahren, wie man im Ausland über das duale Prinzip der Schweiz schreibt. Die Zeit-Journalistin Salomen Müller hat eine Schulklasse aus Glarus ein Jahr lang begleitet. Dabei fragte sie sich, wie diese Jugendlichen schon wissen sollen, welcher Beruf zu ihnen passt?

2 Kommentare

  1. Die einseitige Akademisierung möglichst vieler junger Leute und die bisher öfters abwertende Beurteilung von Berufslehren nehme ich auch so wahr. Bei uns im Toggenburg ist der Mangel an guten Berufsleuten aber sicher noch weniger schlimm. Mein jüngster Sohn erlebt, wie sich in wenigen Jahren die Arbeitsbedingungen in der Firma verschlechtert haben, weil ihnen zeitweise gut ausgebildete Arbeiter fehlen. Sie mussten auch schon über ein Temporär Büro Arbeiter aus anderen Berufsfeldern ausleihen. Gleichzeitig wird die Arbeit dieser Firma noch recht geschätzt im Gegensatz zu anderen.

  2. Lehrpersonen sind beim Übertritt Zyklus 2 – Zyklus 3 angehalten, die Eltern genau darüber zu informieren, dass zwar ein Weg übers Matur und Uni zu einem besseren Verdienst führen könnte, die Wahrscheinlichkeit aber, das dann auch zu erreichen, viel kleiner ist, als wenn der Weg über eine Berufsausbildung – Berufsmatura – Fachhochschule gewählt würde.
    Auch darauf hinweisen, dass die Arbeitslosenquote in Ländern mit hohem Akademisierungsgrad viel höher ist als bei uns.
    Da herrscht ganz klar Informationsbedarf.

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