Unterrichtsmethode
Die britischen Experten achteten besonders auf jene Unterschiede beim Unterricht, die sich auf die Leistungen der Schüler auswirkten. Speziell bei der Mathematik wurde der auf Bekanntem aufbauende Schritt-für-Schritt-Ganzklassenunterricht der Schweizer Lehrer beobachtet. In britischen Klassenzimmern arbeiteten die Schüler in kleinen Gruppen um runde Tische herum, davon einige mit dem Rücken zur Wandtafel. Sie arbeiteten in ihrem Tempo („eine der fundamentalen Ideen der progressiven Reformer“) mit Aufgaben aus Büchern, Arbeitsblättern oder –karten, meistens für sich allein, was jedoch aussah, als würden sie in Gruppen arbeiten. Die Schüler im selben Klassenzimmer waren unterschiedlich weit im Stoff, je nach dem individuellem Leistungsniveau.
Ganzklassenunterricht kam in britischen Klassenzimmer kaum vor, am seltensten bei den schwächeren Schülern. Er dauerte meist nur wenige Minuten, z.B. wenn ein neues Thema eingeführt wurde. Die Lehrer halfen den Schülern individuell, wenn sie Schwierigkeiten hatten. Sie reagierten nur, wenn sie vom Schüler gefragt wurden. Vor dem Lehrerpult standen die Kinder mit Fragen Schlange. Der Druck auf den Lehrer führte dazu, dass Schülerarbeiten nur flüchtig korrigiert werden konnten. Viele Schüler erhielten keine adäquate Unterstützung und Falschverstandenes wurde nicht bemerkt. Mittlere und schwächere Schüler litten ständig. Arbeiten nach eigenem Tempo bedeutete vielfach, nur das absolut Nötige zu leisten, aber so zu tun, als ob man arbeite, wobei die Lernzeit nicht effizient genutzt wurde.
Der Druck auf den Lehrer führte dazu, dass Schülerarbeiten nur flüchtig korrigiert werden konnten.
Hufeisenförmig arrangierte Pulte, Lehrer in der Mitte
Die Schweizer Klassenzimmer unterschieden sich davon. Die Pulte waren typischerweise hufeisenförmig arrangiert, mit dem Lehrerpult in der Mitte. Während der Hälfte oder zwei Dritteln der Unterrichtsstunde fand eine ständige Interaktion zwischen dem Lehrer und der ganzen Klasse statt. Die Schüler wurden mit einem fragend-entwickelnden Unterricht zum selbständigen Finden der Lösungen geführt. Die ganze Klasse war während der mündlichen Phasen des Lernprozesses mental engagiert. Die Schülerantworten versetzten den Lehrer in die Lage zu beurteilen, wie weit er bei der Erklärung von schwierigen Lernschritten gehen musste, und er sah, welche Schüler individuelle Hilfe während der sich anschliessenden schriftlichen Übungsphasen benötigten. Gruppenarbeiten fanden im Gegensatz zu den britischen Schulen eher selten statt.
In den Sekundarschulen wurde der gleiche Unterrichtsstil angewendet, wobei der Ansatz abstrakter und konzeptioneller war. Der Unterricht schritt schneller voran, weil die Schüler altersentsprechend höhere Fähigkeiten besassen und ihr Klassenniveau homogener war.
Lehrbücher und Lehrplan im Vergleich
Die britischen Lehrbücher waren meistens für das Selbststudium („teach yourself“) ausgelegt und die Lösungen konnten direkt ins Buch geschrieben werden. Die Lehrbücher blieben normalerweise in der Schule.
Die Schulbücher wurden meistens pro Kanton von einer Gruppen erfahrener Lehrer oder Lehrerausbildner erstellt, behandelten auch regionale Themen und hatten die verschiedenen Lehrpläne der einzelnen Kantone abzudecken.
In der Schweiz gab es pro Schuljahr und Fach ein Lehrbuch, das den Stoff für das Jahrgangsziel enthielt und für den gemeinsamen Klassenunterricht und nicht für das Selbststudium gebraucht wurde. Es war dünner als die britischen Lehrbücher und enthielt viele Übungen, die in einem Heft gelöst wurden. Die Bücher wurden nach Hause mitgenommen zur Lösung der Hausaufgaben. Für den Lehrer gab es dazu jeweils ein dickes Lehrerhandbuch mit Unterrichtsvorschlägen für fast jede Seite des Schülerlehrbuchs, detaillierte Lernziele und einen Jahresplan mit den Schülerbuchseiten, die in jeder Woche abgearbeitet werden sollten, sowie Vorlagen für den Hellraumprojektor. Den Lehrern war freigestellt, auch alternative Lehrmittel zu verwenden. Die Schulbücher wurden meistens pro Kanton von einer Gruppen erfahrener Lehrer oder Lehrerausbildner erstellt, behandelten auch regionale Themen und hatten die verschiedenen Lehrpläne der einzelnen Kantone abzudecken. Der Lehrplan bestand aus einem kurzen, schematischen Dokument über die Fächer/Themen auf den verschiedenen Schulstufen, die pro Jahr unterrichtet werden mussten.
Praktische Fächer und Arbeitshaltung
Der Unterschied zwischen der britischen „akademischen Voreingenommenheit“ und der Schweizer „Vorbereitung auf das Leben und die Arbeit“ (wie schon bei Pestalozzi) zeigte sich besonders bei den handwerklichen Fächern (Holzarbeiten, Textiles Werken, Kochkurse) in der Sekundarschule. Neben dem Unterricht in den intellektuellen Fächern wurden von Schweizer Arbeitgebern und Realschullehrern die praktischen Fächer als wichtig zur Stärkung der Motivation und der Arbeitshaltung (Ausdauer, Zuverlässigkeit, Sorgfalt, Geduld, Präzision) für das Arbeitsleben angesehen. Bei der Auswahl von Lehrlingen hatten die praktischen Fähigkeiten das gleiche Gewicht wie die intellektuellen, weshalb Realschüler oft bevorzugt wurden.
In Grossbritannien war der Nationale Lehrplan breiter und „einfallsreicher“, wobei es nicht gelang, auf irgendeine präzise, verständliche Weise das wesentliche Kernstück jedes Faches zu beschreiben.
Die Rolle des Klassenunterrichts
Die Hauptunterschiede zwischen den beiden Ländern lagen gemäss den britischen Experten in erster Linie in der bedeutenderen Rolle des Klassenunterrichts in der Schweiz, zweitens in den anerkannten Grundfähigkeiten in Lesen, Grundrechenarten, naturwissenschaftlichen Fächern und praktischen Fertigkeiten sowie im Grundkonsens in der Schweiz, dass diese Grundfähigkeiten von allen Schülern beherrscht werden mussten. In Grossbritannien war der Nationale Lehrplan zwar breiter und „einfallsreicher“, doch gelang es nicht, auf präzise, verständliche Weise das wesentliche Kernstück jedes Faches zu beschreiben. Die Leistungen der Schweizer Schüler waren beim Übergang in die Sekundarschule viel homogener, was auch auf die Exzellenz der Primarschullehrer zurückzuführen sei. Dabei wurde sehr darauf geachtet, ein Kind nicht in eine Klasse zu platzieren, in die es intellektuell nicht passte. Obwohl Klassenrepetitionen in der Schweiz selten vorkamen, vermittelten sie Schülern, Eltern und Lehrern ein realistisches Bild der gegenwärtigen Schulleistungen.
In den ab 1995 laufenden Versuchen in London wurde der Klassenunterricht nach dem Vorbild der Zürcher Schulklassen anstelle des individualisierenden Unterrichts eingeführt.
Versuchsklassen in London
In den ab 1995 laufenden Versuchen in London wurde der Klassenunterricht nach dem Vorbild der Zürcher Schulklassen anstelle des individualisierenden Unterrichts eingeführt. Die Kinder lernten wieder Grammatik anstatt sich „kreativ auszudrücken“, sie übten Kopfrechnen und das Einmaleins auswendig, statt Zahlen zu „erleben“. Es wurde vorwiegend im Ganzklassenunterricht unterrichtet und Grundlagen in Rechnen, Lesen und Schreiben geübt, bis sie beherrscht wurden. Dabei stellten die Verantwortlichen eine „dramatische Verbesserung“ der Leistungen der Kinder fest.
Die Schweiz kopiert das gescheiterte britische Modell
Die britischen Experten stellten fest, dass man – wie auch in anderen Ländern –Druck auf die Schweiz ausgeübt hatte, damit sie Gesamtschulen einrichte. Aber die Schweizer seien langsam und vorsichtig vorgegangen: Im Kanton Zürich hatte man nämlich 1977 mit dem Projekt AVO („Abteilungsübergreifende Versuche an der Oberstufe”) begonnen, die britische Reform zu kopieren, allerdings in kleinem Rahmen (es betraf bis 1994 etwa 10% aller Sekundarschüler) – und das, obschon mittlerweile ihr Versagen bekannt gewesen sein dürfte. Die AVO-Schulen entsprachen den britischen abteilungsübergreifenden Schulen („multi-lateral schools“) der 1970er Jahre und noch nicht den späteren integrativen, leistungsdurchmischten Gesamtschulen. Die AVO-Schulen unterschieden sich von der herkömmlichen Schweizer Oberstufe durch grössere Heterogenität der Klassen, erhöhte Durchlässigkeit und Unterricht in Niveaugruppen in gewissen Fächern.
1984/85 wurden eine Vergleichsstudie zwischen den TaV-Schulen und den bisherigen Sekundarschulen durchgeführt. Während auf dem mittleren Realschulniveau etwa gleiche Durchschnittsresultate erzielt wurden, schnitten das obere Sekundarschul- (27 zu 34 Punkte) und das untere Oberschulniveau (56 zu 63 Punkte) bei den AVO-Schulen deutlich schlechter ab. Das wurde zurückgeführt auf ein Drittel weniger Hausaufgaben, die vielen Unterbrechungen des Klassenunterrichts durch Lager, Ausflüge, sozialisierende Projekte und die niedrigere Motivation.
Die grosse Reformwelle (wieder nach britischem Vorbild) konnte erst im Schuljahr 1997/1998 gestartet werden. Im Kanton Zürich brachte es das neoliberale New Public Management (NPM) Projekt der sogenannten „Teilautonomen Schule“ (TaV) mit der „Politik der leeren Kassen“ fertig (Pelizzari 2001), mit der Anstellung von Schulleitern die demokratische Volksaufsicht zu marginalisieren und mit der lohnwirksamen Mitarbeiterbeurteilung (MAB) den Widerstand der Lehrer gegen die Reformen zu brechen.
Quellen:
Helvia Bierhoff, S. J. Prais: Schooling as Preparation for Life and Work in Switzerland and Britain. Discussion Paper no. 75. National Institute of Economic and Social Research, London 1995.
Helvia Bierhoff, S. J. Prais: From School to Productive Work: Britain and Switzerland Compared, University Press, Cambridge 1997.
Robin Alexander, Jim Rose, Chris Woodhead: Curriculum Organisation and Classroom Practice in Primary Schools. Department of Education and Science. London 1992. http://www.educationengland.org.uk/documents/threewisemen/threewisemen.html
Alessandro Pelizzari: Die Ökonomisierung des Politischen: new public management und der neoliberale Angriff auf die öffentlichen Dienste. Konstanz 2001, ISBN 3-89669-998-9