Nun lassen sie sich wieder durch die Lokal- und Regionalzeitungen reichen: die Gymnasien und Gesamtschulen mit ihren vielen Einser-Abiturienten und mit ihren Supernotenschnitten. Beispiele: 60 Abiturienten an einer einzigen Schule, – davon dreimal eine 1,0 und dreimal eine 1,1. Andernorts Spitzennoten von 0,72 oder 0,79 oder 0,82 – und das nicht nur einmal. Es gibt Gymnasien, die sich rühmen, dass 70 Prozent ihrer Schüler ein Abiturzeugnis mit einer Eins vor dem Komma erhielten.
Auf Deutschland warten offenbar nur noch Genies. Dass in der Folge immer mehr junge Leute nicht nur ein Abiturzeugnis, sondern ein Spitzenzeugnis bekommen, ist indes die Folge eines politisch-populistisch gewollten Quoten-Wahns, also der planwirtschaftlichen Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abiturzeugnis bekommen. Dabei dürfte doch klar sein: Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!
Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!
„Das Abitur ist niveaulos und ungerecht – der reine Betrug“, sagen und schreiben der vormalige Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb, und die Berliner Professorin für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung, Katja Koch. Recht haben sie in der Diagnose, aber nicht, wenn sie als Patentrezept dagegen einen Bildungszentralismus fordern, der das Problem noch mehr verschärfen dürfte.
Studierbefähigung versus Studierberechtigung
Der Autor dieser Kolumne, der viele Schulen in Deutschland kennt und selbst etwa 2.000 Abiturzeugnisse unterzeichnet und ausgehändigt hat, unterscheidet längst zwischen einem Abitur, das Studierbefähigung attestieren soll, und einem Abitur, das nur Studierberechtigung attestiert. Siehe hier. Werden Abiturzeugnisse aber mehr und mehr zu ungedeckten Schecks, dann geschieht das, was schon geschieht: Immer mehr Hochschulen richten in ihren einschlägigen Fakultäten Brückenkurse für Studienanfänger vor allem in den Fächern Chemie, Physik und Mathematik ein. Und diejenigen, die wirklich ein Spitzenabitur verdient hätten, sind die Gelackmeierten einer inflationären Entwicklung.
Und diejenigen, die wirklich ein Spitzenabitur verdient hätten, sind die Gelackmeierten einer inflationären Entwicklung.
Mathe-Note in Sachsen ministeriell aufgepeppt
Nun hat sich ausgerechnet in Sachsen, das ja neben Bayern als führendes deutsches Bildungsland gilt, der Mathematik-Professor Oliver Ernst von der TU Chemnitz zu Wort gemeldet und heftig beklagt, dass die mathematischen Fertigkeiten der jungen Leute dramatisch nachgelassen haben. Oliver Ernst ist übrigens zugleich Leiter des Arbeitskreises Schulmathematik der sächsischen Unis. Anlass für die Kritik des Professors ist, dass das sächsische Kultusministerium die Mathe-Noten im Abitur 2020 im Nachhinein um einen Notenpunkt anheben ließ, weil den Schülern angeblich „ungewohnte Kompetenzen“ abverlangt worden seien. Und das in Sachsen! Andernorts waren die Ansprüche ja ohnehin schon sukzessive abgesenkt worden. Über das Berliner (und Brandenburger) Mathematik-Abitur sagen Fachleute seit langem, dass es von einem Anspruch sei, den durchschnittliche Schüler der Mittelstufe – also drei bis vier Schuljahre vorher – eigentlich bewältigen können müssten.
Ist Corona schuld?
Nun also Sachsen! Obendrein mit der seltsamen Begründung, das sei „Corona“ geschuldet. Corona? Nein, die Stoffvermittlung in Mathematik war zum allergrößten Teil abgeschlossen, als „Corona“ in Deutschland einsetzte. Aber das Problem geht tiefer, wie Professor Oliver Ernst betont: „An den Hochschulen beobachten wir schon länger, dass die mathematischen Fähigkeiten der Abiturienten abnehmen … Und das gilt nicht nur für das Mathematikstudium, das uns besonders am Herzen liegt, sondern für alle Studienfächer, die auf Mathematik aufbauen. Das Kind ist also längst in den Brunnen gefallen. Und es gibt keine schöne Lösung. Klar, die Schüler freuen sich über die Verbesserung ihrer Noten. Aber dem voraus gingen eine Reihe von Fehlentwicklungen.“ Oliver Ernst kritisiert hier unter anderem die Anwendung der Taschenrechner. Wörtlich: „Die Schulen entscheiden, welche verwendet werden: grafische Taschenrechner (GTR) oder Computer-Algebra-Systeme (CAS), die Formeln umrechnen und Terme umformen können. Letztere verhindern, dass sich Schüler essenzielle mathematische Fähigkeiten aneignen.“
Wir wären schon froh, wenn wir bei den Absolventen den Stand von vor zehn Jahren hätten.
Ja, das Fach Mathematik polarisiert, es hat ein schlechtes Image. Aber das darf es laut Professor Ernst nicht: „In anderen Ländern ist das auch nicht so negativ wie bei uns, etwa in Großbritannien. Da brüstet sich aber auch kein Politiker damit, in Mathe schlecht gewesen zu sein. Das ist eine Kultur, die überwunden werden muss. Wir müssen unbedingt zu einem positiven und entkrampften Verhältnis zur Mathematik zurückfinden.“ Er nennt als Beispiel: „Corona hat uns die Bedeutung von Mathematik deutlich vor Augen geführt. Wenn Sie nicht zwischen linearem und exponentiellem Wachstum unterscheiden können, können Sie manche Zeitungsmeldung überhaupt nicht verstehen. Die Mathematik ist die gleiche geblieben. Und wir wären schon froh, wenn wir bei den Absolventen den Stand von vor zehn Jahren hätten.“