«Der ganzen Gesellschaft ist in den letzten Wochen bewusst geworden, wie wichtig unsere Schulen als sozialer Ort sind. Unterricht in den Klassenzimmern mit direktem Kontakt von Mensch zu Mensch bleibt unersetzlich. Nur so kann die Schule soziale Ungleichheiten verringern und die Chancengerechtigkeit vergrössern.»
Mit diesen Worten bedankt sich der Vorsteher des Basler Erziehungsdepartementes in einem Brief bei den Lehrerinnen und Lehrern. Wir alle kennen solche Sätze. Die sind wohl gut gemeint, aber sie laufen immer Gefahr, zu viel zu versprechen. El-Mafaalani würde dazu sagen: «Wenn man nicht mehr weiterweiss, wird Bildung als Zauberformel und Allheilmittel, als Lückenfüller oder als Totschlagargument ins Spiel gebracht. Bildung ist ein Mythos, ein kaum bestimmbarer Begriff, den man über jedes gesellschaftliche Problem stülpen kann. Das Bildungssystem soll es richten. Dabei ist das Bildungssystem selbst das zentrale Problem.»
«Das Bildungssystem soll es richten. Dabei ist das Bildungssystem selbst das zentrale Problem.» El-Mafaalani
Der Autor kennt das deutsche Bildungssystem aus praktisch jeder Perspektive, ob als Schüler, Student, Lehrer, Bildungsforscher, Hochschuldozent oder als Vater. Entsprechend nüchtern, pragmatisch, kritisch und umfassend zugleich ist sein Blick darauf.
In der Zeit des Homeschooling während der Corona-Pandemie drängten sich Fragen nach der sozialen Realität der Schülerinnen und Schüler auf, wenn man als Lehrer versuchte, mit seinen SchülerInnen digital in Kontakt zu treten: Auf wie vielen Quadratmetern lebt mein Schüler? Mit wie vielen anderen Familienmitgliedern? Wie viele Computer stehen ihnen zur Verfügung? Hat er überhaupt ein eigenes Zimmer? Sind die Eltern von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen? Kann sich der Jugendliche schulische Unterstützung bei seinen Eltern oder seinen Geschwistern holen? In welchem Quartier wohnt er überhaupt?
Soziale Verhältnisse werden chronisch vernachlässigt
Normalerweise werden in Deutschland und in der Schweiz solche Fragen nach den sozialen Verhältnissen chronisch vernachlässigt. Wir selektionieren früh und das Bildungswesen reproduziert die sozialen Ungerechtigkeiten gnadenlos. Soziale Aspekte sind so lange aktuell, bis jeder Schüler und jede Schülerin im digitalen Netz erfasst ist. Danach wird wohl das Thema von Arm und Reich schnell wieder in Vergessenheit geraten.
Die Frage der sozialen Herlunft steht im Mittelpunkt
Mit seinem nüchternen soziologischen Blick plädiert El-Mafaalani dafür, das Bildungssystem nicht auf Lehrkräfte und ihren Unterricht oder abstrakte Schulsystemfragen zu reduzieren. Im ganzen Buch steht die soziale Herkunft von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt. Der Umgang mit Migrationshintergrund sowie mit Kindern mit Behinderungen wird zwar thematisiert, stellt aber nicht den Schwerpunkt der Analyse dar. Der Autor geht, wie er im Vorwort klarmacht, von drei Grundproblemen aus: «Erstens ist es die Gesellschaft, die Ungleichheiten zulässt und produziert, die ohne das Bildungssystem, insbesondere die Schule, noch viel grösser wären.» Zweitens wird durch die Bildungsinstitutionen, die die Ungleichheiten nicht restlos ausgleichen, paradoxerweise soziale Ungleicheit überhaupt erst legitimiert: Du hast leider die Chance nicht genutzt! Und drittens gibt es aber bedauerlicherweise keinen anderen gesellschaftlichen Bereich, in dem dieser Kreislauf durchbrochen werden könnte.
Der Habitus als Bindeglied
Das meiner Ansicht nach zentralste Kapitel in diesem etwa 300-seitigen Buch ist das Kapitel vier mit dem Titel «In Armut aufwachsen – und zur Schule gehen». Eine wichtige Rolle spielt hier der soziologische Begriff des Habitus: «Der Habitus ist das Bindeglied sowohl für alle Vorstellungen davon, was Bildung ist oder sein kann, als auch für alle genannten Ursachen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem.» Der soziale Habitus «beschreibt eine dauerhafte verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt, die Welt und sich selbst wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln. Diese Grundhaltung wird bereits früh im jeweiligen sozialen Umfeld eines Menschen – auch in der sozialen Schicht beziehungsweise im Milieu – ausgebildet und hilft ihm, sich daran zu orientieren.» Es geht dabei um «das Hineinwachsen in ein Milieu, in dem man dann imstande ist, intuitiv zu handeln. Dabei geht es aber nicht nur um Gewohnheiten und Routinen, sondern auch um Geschmack, Ästhetik und Stil bis hin zu einer bestimmten Weltsicht.»
Wie wachsen arme Kinder auf, wie reiche? Sind die Eltern arbeitslos, arm und bildungsfern?
Existiert ein unterstützendes Netzwerk? Kinder aus der sozialen Unterschicht entwickeln intuitiv ein Denk- und Handlungsmuster, «den Mangel zu managen». Die finanzielle Knappheit begünstigt die Entwicklung eines an Kurzfristigkeit und Funktionslogik orientierten Denk- und Handlungsmusters. Der Zeithorizont ist also kurz, weil alles andere irrational wäre. Alles ist nutzenorientiert, es gibt kaum einen Umgang mit Optionen. Offene Entscheidungssituationen verunsichern schnell und werden möglichst vermieden. Und die permanente Finanzknappheit ermöglicht es auch nicht, sich in Selbstdisziplin zu üben, «denn die Rahmenbedingungen disziplinieren bereits umfassend.» Man kann gar nicht selbstbestimmt verzichten, wie das in reichen Haushalten aufwachsende Kinder oft können, bei denen «jeden Tag mehr möglich wäre, als machbar ist.» Bei den privilegierten Kindern gehören Langzeitorientierung, ein Denken in Alternativen, Experimentier- und Risikofreudigkeit zur habituellen Prägung.
Bei den privilegierten Kindern gehören Langzeitorientierung, ein Denken in Alternativen, Experimentier- und Risikofreudigkeit zur habituellen Prägung.
Diese unterschiedlichen Mentalitäten wirken sich dann auch wieder spürbar auf die Schule aus: Im Modus des Mangels ist der Zugang zu Bildung als Selbstzweck weitgehend versperrt. Offene Lernarrangements führen zu Unsicherheit. Für Unterschichtenkinder steht die Statusverbesserung im Zentrum, während für Kinder der Mittel- und Oberschicht auch die Gesellschaft als solche in den Blick geraten kann, um möglicherweise auch grundsätzlich in Frage gestellt zu werden.
Selbständiges, projektorientiertes und fächerübergreifendes Lernen und Arbeiten wäre im Fernunterricht eigentlich vermehrt angesagt. Aber damit werden viele Jugendliche, die im Management des Mangels gross geworden sind, überfordert. Bei Kindern mit Migrationshintergrund kommt noch dazu, dass diese von ihren Eltern geschubst werden, schulisch erfolgreich zu sein und sozial aufzusteigen, und gleichzeitig gezogen, der eigenen Herkunft treu zu bleiben. Kommt dazu, dass die LehrerInnen mehrheitlich aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht stammen, was dazu führt, dass die Potenziale von Kindern regelmässig und ohne böse Absicht schichtspezifisch verzerrt eingeschätzt werden.
Beseitung von sozialen Ungerechtigkeiten energischer angehen
Was El-Mafaalani gegen Ende seines Buches präsentiert, sind einige pragmatische und gleichermassen umfassende Reformideen: Man soll trotz allem die Beseitigung von Ungerechtigkeiten, mit Blick auf soziale Herkunft und Bildungserfolg, energisch in Angriff nehmen, vor allem in der Grundschule. Man solle die Lehrkräfte entlasten und von den Eltern nicht zu viel erwarten. Das Bildungssystem müsse übersichtlicher werden und das duale Bildungssystem solle geschützt werden. Und von zentraler Bedeutung sei das Mikrosystem jeder einzelnen Schule.
Aladin El-Mafaalani: MYTHOS BILDUNG – Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln 2020. Kiepenheuer&Witsch. 23 Franken.
Warum kommen wir in dieser Frage nicht weiter? Die Soziologie befasst sich mit der Gesellschaft. Die Gesellschaft kann jedoch nicht verändert werden, weil sie ein gedankliches Konstrukt, eine Fiktion, ist. Der Mythos, das Geld intelligent macht und Armut dumm, zementiert die Verhältnisse. Sonst wären diejenigen Kantone, die am meisten Geld in die Bildung investierten, nicht bei den Schlusslichtern in den Schülerleistungen. Der Mensch kann nur als Individuum begriffen und gefördert werden und das fängt im Elternhaus an. Dafür ist die wissenschaftliche Psychologie zuständig, weil sie die Resilienzfaktoren kennt. Warum wird die breite Öffentlichkeit über diese vorhandenen psychologischen Kenntnisse über den Menschen nicht aufgeklärt? So darf man sich nicht wundern, wenn sich weiterhin nichts ändert.