Vor einigen Tagen fragte mich Alain Pichard, einer der Herausgeber des Condorcet-Blogs, ob ich von meiner Perspektive als ehemaliger Waldorflehrer gelegentlich Artikel zu diesem sinnvollen Projekt beitragen könnte. Dem will ich gerne nachkommen, glaube ich doch, dass Teile der “Waldorfpädagogik” in der heutigen Reformdiskussion eine neue Aktuaität erfahren haben.
Grundsätzlich darf man ohne Weiteres feststellen, dass die Reformpädagogik, vor allem Waldorf und Montessori, mindestens seit der Bildungsreform des letzten Jahrhunderts, immer schon als Methodensteinbruch für Innovationen des öffentlichen Schulwesens gut war: Block- und Epochenunterricht beispielsweise haben – wenn auch leicht verwässert – Eingang in die Unterrichtsorganisation vieler Schulen gefunden. Vor allem im Primarschulbereich wurde eine Aufwertung künstlerischer Zugänge zum Stoff übernommen, und auch an positiv kritischer Literatur fehlt es nicht.
Andererseits darf nicht verschwiegen werden, dass anthropologisch-weltanschauliche Grundannahmen der Waldorfpädagogik im Allgemeinen auf großes Unverständnis stoßen, schon wegen ihrer nicht zu leugnenden religiösen Fundamentierung. Zwar lehnt die Waldorfpädagogik es expressis verbis ab, eine Weltanschauung vorauszusetzen, was aber meiner Meinung nach sicher nicht stimmt. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben.
Merwürdige Rituale
Es gibt einen für Staatslehrer vielleicht etwas merkwürdig anmutenden Brauch an Waldorfschulen, sich vor Unterrichtsbeginn zu einer kurzen gemeinsamen Meditation zu treffen. Die beginnt mit den Sätzen: „Dieses Kind ist zu dir heruntergestiegen, du sollst sein Rätsel lösen …“ Das ist natürlich für jeden aufgeklärten Zeitgenossen starker Tobak: Wie selbstverständlich wird hier eine präexistierende Seele vorausgesetzt.
Ein Waldorflehrer kann in der Praxis glauben, was er will. Er muss an solchen Ritualen nicht teilnehmen.
Es sei an dieser Stelle betont, dass diese weltanschaulichen Voraussetzungen für das Personal nicht verbindlich sind, geschweige denn „gelehrt“ werden. Ein Waldorflehrer kann in der Praxis glauben, was er will. Er muss an solchen Ritualen nicht teilnehmen. Nicht wenige arbeiten an Steinerschulen aus völlig anderen Gründen. Dennoch steht Derartiges quasi als Hürde da. Man kann hinüberspringen oder davor stehenbleiben.
Ich selber habe, durchaus versehen mit Staatsexamen und allen höheren Weihen des Lehramts, vor mehr als dreißig Jahren meinen Waldorfweg angetreten. Der war durchaus gelegentlich mehr als holprig. Ich bin auch phasenweise aus Ingrimm ins staatlich Schulwesen abgebogen, nicht lange, aber öfter.
Ist man einmal an die bei Waldorf übliche kollegiale Führung gewöhnt, fällt einem die Unterordnung im doch letztlich hierarchischen staatlichen System schwer.
Dennoch hat mich ein Grund immer wieder in die Waldorfpädagogik zurückgeführt:
Ist man einmal an die bei Waldorf übliche kollegiale Führung gewöhnt, fällt einem die Unterordnung im doch letztlich hierarchischen staatlichen System schwer. Bei Waldorf war der Unterricht meine Sache, solange er funktionierte und auch die staatlichen Prüfungen bestanden wurden. Der Lehrplan hatte in etwa den Stellenwert einer roten Ampel in der Türkei, ein Vorschlag, mehr nicht. Diese Freiheiten gewöhnt man sich schlecht ab.
Wichtig ist allerdings, dass neben der Standardpolemik gegen Waldorfschulen (z. B. Steiner sei ein Rassist oder dergleichen, was im Kern schlicht ein „Schmarren“ ist) bei positiver Grundhaltung Faktoren übersehen werden, die generell für Schule hilfreich sein könnten.
Diese darzustellen, ist das Ziel meiner Beiträge.
Gestern las ich in einem Artikel in der „Welt“ eine Art von Jereminade, dass deutsche Schüler in der Mehrheit die Sicherheit eines Beamtenverhältnisses anstreben würden und der Gründer- , Erfinder-, Tüftlerimpuls, der in der Vergangenheit den deutschen Mittelstand groß gemacht hat, verschwinden würde. Die Technik-MINT-Orientierung ostasiatischer Schulen, die Mathegenies in Serie produzieren, wurde herausgearbeitet und es wurde darauf verwiesen, dass deren unaufhaltsame Überlegenheit sich nicht mehr nur aus dem früher auch den Japanern zugeschriebenen perfekten Kopieren herleitet, sondern schon längst, ausgewiesen durch die Zahl der Patentanmeldungen, für die schwindende Überlegenheit des Westens bedrohlich geworden ist. Alain Pichard schrieb Ähnliches über den Mathematikunterricht in diesem Blog.
Betrachtet man das Curriculum und die Stundenpläne der Waldorfschulen, fällt einem sofort die massive Anzahl von Stunden in praktischen Fächern auf: Gartenbau, Handarbeit, Schneidern, Holzbearbeitung bis zum Bau einfacher Möbel, Metallverarbeitung und Schmieden, Steinbearbeitung, Buchbinden, Drucktechniken im Kunstunterricht, dies alles nimmt einen erheblichen Teil der Unterrichtszeit ein und dient bewusst als Gegengewicht zu den intellektuellen Fächern.
Mit häufig fast mehr als 50 Prozent einer Schülerpopulation betrachte ich hierzulande Gymnasien und Gesamtschulen schon längst als die eigentlichen Hauptschulen der Nation. Und in diesen scheint der oben erwähnte praktische Unterricht, von gelegentlichen Projekten und Neigungsgruppen abgesehen, im Grunde ein Totalausfall.
Ich habe in den letzten Jahren an einem württembergischen Gymnasium unterrichtet, keinem schlechten übrigens. Den Tätigkeitsdrang vor allem jüngerer Schüler zu sehen und zu erkennen, dass diesem kaum entsprochen wird, tat mir weh.
Wer immer nur Bleistifte gespitzt hat, wird nicht plötzlich zum Hammer greifen, ja, er weiß womöglich noch nicht mal, wo der hängt.
Dazu kommt, dass die Kinder, die häufig vom Babyalter an in Institutionen betreut sind, zunehmend von Lehrern unterrichtet werden, die eigentlich auch nichts anderes als das Schul- bzw. Universitätssystem durchlaufen haben. Wie kann man dann erwarten, dass die Schüler plötzlich massenweise in Bereiche der Praxis abbiegen, die sie aus Erfahrung überhaupt nicht kennen. Wer immer nur Bleistifte gespitzt hat, wird nicht plötzlich zum Hammer greifen, ja, er weiß womöglich noch nicht mal, wo der hängt.
So produziert unser System munter Studienberechtigte, die das anstreben, was sie kennen, und das ist Verwaltung und Beamtentum.
Kollegial geführte Schule
Ich möchte noch einen wichtigen Aspekt herausheben: Die Lehrer in diesen Waldorfschulen sind häufig Handwerksmeister/innen und haben einen doch anderen mentalen Hintergrund als zum Beispiel ein/e klassische/r Sprachlehrer/in. Ich schreibe hier gendergerecht, weil hervorzuheben ist, dass sich halt in den körperlich anstrengenden Berufen häufig Männer finden, Männer, die ja ohnehin als Rollenvorbilder an der Schule zunehmend fehlen, vor allem für die im Pubertätsalter gebeutelten Jungs.
Waldorfschule ist im Kern eine kollegial geführte Schule, das heißt hier konkret, in der Schulführung hat der Schreinermeister genauso viel zu melden wie eine Frau Dr. der Germanistik. Meiner Erfahrung nach tut das dem Gesamtbetrieb gut und funktioniert auch. Das Bild, das sich dem Schüler hier präsentiert, ist umfassender, die Rollenmodelle sind differenzierter.
An einer der Schulen, an denen ich unterrichtet habe, galt es als größte Auszeichnung für einen Oberstufenschüler, in der Equipe der Bühnentechnik, geleitet vom Hausmeister, der Bühnenmeister war, mitarbeiten zu dürfen. Man konnte da nicht einfach hin, man wurde berufen und dass das alles zeitaufwendig war, war kein Hindernis. Aber dieses Privileg schloss eine halbe Elektrikerausbildung und dergleichen mit ein.
Die Kluft zwischen den sozialen Klassen aufheben
Eins von Steiners Grundanliegen war, die Kluft zwischen den sozialen Klassen, zwischen manuell und intellektuell Arbeitenden etwas aufzuheben. Gegründet wurde die Waldorfschule als Betriebsschule für die Arbeiter einer Zigarettenfabrik in Stuttgart, der Waldorf-Astoria. Das Konzept hat sich schon früh in Richtung aufs Gymnasiale fortentwickelt, aber die Praxisbetonung, wenn auch manchmal etwas kunstgewerblich, blieb bestehen.
Ich bin in einem kleinen Dorf in Bayern aufgewachsen: Neben reichlich Natur gab’s Bauernhöfe, eine Schreinerei, eine Landmaschinenwerkstatt. Überall konnte man hineingehen und auch mal mithelfen. Gebaut wurde immer, kurz, an Realerfahrung war kein Mangel
Das alles fehlt der heutigen Schülergeneration. Und ohne reale Erfahrung keine entsprechende Berufsorientierung. Da hilft auch ein gelegentlicher „girls day“ oder ein Schnupperpraktikum wenig.
An Waldorschulen ist die Praxisfraktion schon als eine Art von Lobby vertreten. Die pädagogische Theorie stützt ihre Ansprüche auch ökonomisch. Nicht wenige Schulen haben Schreinereinen mit der Ausstattung kleiner Betriebe, dito in anderen Gewerken.
Dies und noch vieles andere sind durchaus befruchtende Impulse für das öffentliche Schulwesen.