Gravierender Lehrkräftemangel in der Elektro-, Metall- und Informationstechnik
(….) Besonders gravierend ist der Lehrkräftemangel in den beruflichen Fachrichtungen Elektro-, Metall- und Informationstechnik. Mangelfächer sind vor allem Mathematik, Physik und Informatik. Bedingt durch die oben dargelegte mangelnde Lehrkräfteversorgung an vielen Schulen unterrichten zunehmend Studierende in diesen Mangelfächern.
Physik wird kaum noch gewählt
Kommt man mit Studierenden mit einem Lehrauftrag ins Gespräch, so berichten diese nicht selten von äußerst schwierigen Studienbedingungen an den Universitäten:
- Die Durchfallquoten betragen bei den Mathematikklausuren teils bis zu 90 %.
- Das Lehramtsstudium in Elektro- und Informationstechnik ist so schwer, dass nur Einzelne ihre Studienabschlüsse erreichen.
- Physik als Unterrichtsfach wird alleine aufgrund der sehr hohen Anforderungen kaum noch gewählt.
Da die Hochschulen nahezu keine Angaben zu den Abbruch- und Durchfallquoten publizieren, muss man auf die Studierenden direkt zugehen, um einen Eindruck der universitären Situation zu bekommen. So entstanden an den Universitäten in Darmstadt und Gießen einige persönliche Erfahrungsberichte, die zum Schutz der Betroffenen anonymisiert wurden.
„Mein Studium absolviere ich an der TU Darmstadt in den Fachbereichen Elektrotechnik und Mathematik. Die aktuellen Durchfallquoten in den Elektrotechnikklausuren liegen bei 60 bis 70 Prozent. Das ist der Normalfall. Ich persönlich habe diese, auch als ‚Rausschmeißerscheine‘ bekannten Klausuren mit großem Aufwand und mit bescheidenen Ergebnissen bestanden.“ (TU Darmstadt)
„2014 begann ich mein Studium mit der Absicht, Mathematik und Ernährung/Hauswirtschaft für berufliche Schulen zu studieren. Dies ist ein sehr kleiner Studiengang mit maximal 50 Studierenden pro Jahr. Wir werden Veranstaltungen zugeteilt, die bereits existieren. Meist sind die Veranstaltungen nicht auf Lehramtsstudierende ausgerichtet, sondern für Bachelor- und Masterstudiengänge. Die Professoren setzten Wissen voraus, das wir gar nicht haben können. Es mag für einen Mathematikstudierenden zumutbar sein, sich in einer Woche 40 Stunden mit Mathematik zu beschäftigen, für einen Lehrämtler, der noch Grundwissenschaften, Didaktik, Pädagogik und ein zweites Fach studiert, jedoch nicht.“ (Universität Gießen)
„Im Wintersemester 16/17 besuchte ich die Vorlesung Lineare Algebra 1. Es hat von den L3ern (150 Studierende mit Gymnasiallehramt) nahezu keiner die Klausur bestanden. Da ich gemeinsam mit Studierenden im Bachelor-Studiengang Mathematik gelernt hatte, erfuhr ich, dass auch dort die Klausur nicht viel besser ausgefallen war. Zur Hauptklausur sind auch wieder nur ein paar L3er erschienen. Von den ‚Beruflern‘ war nur noch ich da. Alle bis auf 4 oder 5 L3er sind durchgefallen und auch ich. In der Nachprüfung habe ich dann mit wenigen anderen die Klausur bestanden.“ (Universität Gießen)
„Sommersemester 2017: Lineare Algebra 2. Die Teilnehmerzahl im Hörsaal schrumpfte im Laufe des Semesters auf etwa ein Viertel. Von den L3-Studierenden haben nur vier Leute die Hauptklausur bestanden, bei der Nachprüfung dann wieder ein paar mehr, und ich mit dabei. Wintersemester 2017/18: Analysis 1. Die Übriggebliebenen, inklusive einer Handvoll Lehramtsstudierender, konnten sich zeitlich kaum treffen, ein gemeinsames Lernen war nicht realisierbar. Obwohl ich sehr viel gelernt hatte, mehr als für alle anderen Klausuren zusammen, erreichte ich am Ende nur einen Punkt in der Klausur. Damit war für mich klar, ich müsste für die Vorbereitung der Klausuren in Analysis 2 und Stochastik jedwede zur Verfügung stehende Zeit aufwenden. Ich wechselte notgedrungen das Unterrichtsfach.“ (Universität Gießen)
Studienabbrüche: Dramatische Entwicklung
Um die zitierten individuellen Aussagen der Studierenden auf eine fundierte Datenbasis zu stellen, wurden seit Herbst 2019 mit Unterstützung des bildungspolitischen Sprechers der grünen Landtagsfraktion Daniel May die folgenden Fragen bezüglich des Lehrkräftenachwuchses an den Universitäten Gießen und Darmstadt in Gespräche mit dem Wissenschaftsministerium eingebracht:
Wie viele Studierende haben in den letzten zehn Jahren Studiengänge zum Bachelor of Education und Master of Education für das Lehramt an beruflichen Schulen in den beruflichen Fachrichtungen Elektrotechnik/IT, Metalltechnik und Informatik in Darmstadt und Gießen begonnen?
Wie viele Personen haben die obigen Studiengänge erfolgreich abgeschlossen?
Im Zuge dieser Gespräche konnten auch die Studienanfängerzahlen und Studienabbruchquoten an den Universitäten Darmstadt und Gießen ermittelt werden. Laut Auskunft des Wissenschaftsministeriums vom Januar 2020 haben zwischen 2009 und 2018 1.184 Studierende in Darmstadt und Gießen ein Studium zum Bachelor oder Master of Education in Elektrotechnik/IT, Metalltechnik oder Informatik begonnen. Im selben Zeitraum haben aber nur 35 Personen ein entsprechendes Masterstudium abgeschlossen. Auch die Studienabschlussquoten, die das Zentrum für Lehrerbildung Darmstadt ermittelte, bestätigen diese Entwicklung (Tabelle 1).
Ziel dieser Recherchen und Nachfragen ist explizit nicht die Diskreditierung der genannten Bildungseinrichtungen. Anschließend an eine solide und umfassende Datenerhebung muss die Ursachenanalyse bezüglich der Studienabbrüche erfolgen. Zur Beseitigung des eklatanten Mangels an qualifiziert ausgebildeten Lehrkräften, vor allem in den technischen, naturwissenschaftlichen und mathematischen Bildungsbereichen, müssen Qualität und Quantität der Universitäten Darmstadt und Gießen insbesondere im Hinblick auf eine Erhöhung der Abschlussquoten gesteigert werden.
Jürgen Stockhardt
Jürgen Stockhardt ist Diplom-Ingenieur und Fachleiter am Studienseminar für berufliche Schulen in Darmstadt. Er ist seit 35 Jahren Lehrer an einer beruflichen Schule, Mitglied des Referats Aus- und Fortbildung im Landesvorstand der GEW und der Landesfachgruppe berufsbildende Schulen der GEW. Der Artikel ist auf der GEW-Homepage erschienen.