Zur Erörterung dieser Thematik drängt sich zunächst eine Grundsatzfrage auf: Gibt es Chancengleichheit oder gibt es sie nicht? Schaut man sich die vielfältigen Branchen an mit ihren unzähligen Berufen unterschiedlicher Entlohnung innerhalb einer Hierarchie der Verantwortung oder Beziehungen, ist die Antwort auf obige Frage ein eindeutiges Nein.
Töricht wäre andernfalls, wer sich innerhalb eines Berufszweigs freiwillig für einen kleinen Lohn entscheidet, obwohl ihm ein Zehn- oder gar Hundertfaches zur Auswahl stünde. Menschen würden sich somit aus freien Stücken im schlimmsten Falle für Entbehrung, Armut und damit auch für gesellschaftliche Ausgrenzung entscheiden. Da es ergo keine Chancengleichheit gibt, fusst jedes darauf basierende Schulsystem auf einer Fata Morgana. Es hat dann folglich kein Fundament und wird früher oder später scheitern. So geschehen beispielsweise bei der Basler Orientierungsschule (OS), die als sogenannte Gemeinschaftsschule, also ohne unterschiedliche Leistungsniveaus konzipiert war.
„Da es ergo keine Chancengleichheit gibt, fusst jedes darauf basierende Schulsystem auf einer Fata Morgana.“
Realitäten lösen sich nicht in Luft auf
Dennoch halten sich die Illusion der Chancengleichheit und der darauf beruhenden Konzepte beharrlich. Eine solche Konzeption zum Beispiel ist die Integration lernschwacher oder verhaltensauffälliger SchülerInnen in Regelklassen im Glauben, sie hätten so die gleichen Chancen. Da sich Realitäten aber nicht in Luft auflösen, indem man vor ihnen den Kopf in den Sand steckt, beisst sich die Integration selbst in den Schwanz. In der Realität sieht diese nämlich so aus, dass Lernschwache im regulären Unterricht überfordert sind und in der Folge nicht selten aus Frustration die Stoffvermittlung stören. Ihre Förderlehrkräfte nehmen sie dann als Konsequenz aus den Stunden, um sie im Widerspruch zur Integration separativ, d.h. ausserhalb des Klassenverbandes zu unterrichten. Dadurch wird ihr ohnehin vorhandenes Gefühl des Ungenügens noch verstärkt.
Auch die Wirtschaft glaubt an die Chancengleichheit
Interessanterweise ist der Glaube an die Chancengleichheit sogar in der Wirtschaft verbreitet, wo ihr illusionärer Charakter doch am deutlichsten zutage tritt. Im Zusammenhang mit seiner durchaus berechtigten Forderung nach mehr schulischer Wirtschaftskunde schreibt beispielsweise Dr. Hans Rentsch, Ökonom und freier Wirtschaftspublizist: „Aus sozialer Sicht besonders problematisch ist die Erkenntnis, dass es auch die wirtschaftlich Schwächsten sind, denen es an Finanzkompetenz fehlt.“[1] Dieser Schluss gründet letztlich auf dem Dogma der Chancengleichheit: Würden alle über Finanzkompetenz verfügen, gäbe es die „wirtschaftlich Schwächsten“ nicht. Letztere sind jedoch nicht ökonomisch schwach, weil es ihnen mangels Wirtschaftskunde an öffentlichen Schulen an Finanzkompetenz fehlt – dieser ermangelt es quasi allen Schulabgängern nach neun obligatorischen Schuljahren. Aber ungleich der Starken können die Schwächsten sich diese Kompetenz auch nach der Schule nicht aneignen, eben weil sie schwach sind.
„Da hilft auch die rhetorische Begriffsumwandlung von Chancengleichheit zu Chancengerechtigkeit nichts, denn die hier beschriebenen gesellschaftlichen Realitäten sind nun mal nicht gerecht.“
Der Irrtum der Chancengleichheit beruht auf dem linken Postulat der Gleichheit der Menschen. Denn
nur wenn alle gleich sind, haben auch alle die gleichen Chancen. Da wir uns in unserer Individualität aber alle unterscheiden, existiert keine Chancengleichheit. Der dreissigjährige Milliardär, der dank seines Genies den Rest seines Lebens auf dem Golfplatz verbringt, ist genauso eine Realität wie der Sozialhilfeempfänger, der schlicht keinen Beruf erlernen kann, da er die dazu notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt. Da hilft auch die rhetorische Begriffsumwandlung von Chancengleichheit zu Chancengerechtigkeit nichts, denn die hier beschriebenen gesellschaftlichen Realitäten sind nun mal nicht gerecht.[2]
„Hier trifft sich auf paradoxe Weise die soziale Linke mit der neoliberalen Rechten.“
Die Perversion des Dogmas der Chancengleichheit besteht darin, dass sie zur Bekämpfung eines finanziellen Ausgleichs zwischen den Stärksten und den Schwächsten einer Gesellschaft herangezogen werden kann: Wir haben alle die gleichen Chancen, also sind die Schwächsten selber schuld an ihrem Los. Hier trifft sich auf paradoxe Weise die soziale Linke mit der neoliberalen Rechten. Fast könnte man meinen, die beiden politischen Pole leisteten bei diesem Thema Teamarbeit.
[1] https://condorcet.ch/2020/01/unkenntnis-ueber-finanzfragen-erhoeht-die-ungleichheit-in-der-gesellschaft/
[2] Pragmatismus ist die Ausrichtung des Handelns an vorherrschende Gegebenheiten. Im Unterschied dazu richten Ideologen Realitäten sprachlich an der eigenen Ideologie aus. Sobald die Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit deutlich zutage tritt, werden die Begrifflichkeiten angepasst. Gleichheit wird zu Chancengleichheit zu Chancengerechtigkeit. Das Gleiche passiert, wenn die Begriffe die Realität klar offenbaren: verhaltensgestört wird dann zu verhaltensauffällig zu verhaltensoriginell. Die Realitäten bleiben gleich, die Begrifflichkeiten wandeln sich.
Die Frage der Chancengleichheit/Chancengerechtigkeit stellt sich nicht nur im Bildungsbereich, sondern auch in der Rechtsprechung, in der Politik und in der Ökonomie.
Anstoss ist die Erkenntnis, dass es nicht reicht, wenn in der Verfassung steht, dass alle vor dem Gesetz gleich sind, dass politische Ämter grundsätzlich allen offen stehen, dass alle theoretisch Anrecht darauf haben, ökonomisch erfolgreich zu sein, dass alle mit guten Leistungen schulisch gute Bildungsabschlüsse machen dürfen. Vielmehr zeigt sich, dass die Verwirklichung der Chancen von vordefinierten Startbedingungen abhängt, die nicht für alle gleich fair sind.
So meinte John Rawls 1971 in A Theory of Justice, dass Chancengerechtigkeit (equality of opportunity) dann gegeben sei, wenn Individuen mit demselben angeborenen Talent und demselben Ehrgeiz dieselbe Aussicht auf Erfolg im Wettstreit mit andern haben.
Wie aber lässt sich das in der Praxis sicherstellen, wenn die Startbedingungen nicht dieselben sind, wenn ich z.B. ein Kind bildungsferner Eltern bin, wenn die Schule mein Potenzial verkennt, wenn ich fremdsprachig bin, wenn ich ADHS habe, etc.?
Die Antworten auf diese Frage sind abhängig von der Weltanschauung, den Interessen und vom Menschenbild der Antwortenden. Ich versuche eine Typisierung:
1. Position der Ergebnisgleichheit
Wenn die Startbedingungen nicht beeinflusst werden können, soll die Chancengleichheit post festum durch Umverteilung oder durch ökonomische Gleichstellung der Ungleichen herbeigeführt werden. Es ist die sozialistische Position, bei der Löhne und Lebensverhältnisse für alle gleich angesetzt sind.
2. Position der Startgerechtigkeit
Kinder aus bildungsmässig benachteiligten Milieus werden früh in staatliche Obhut genommen, um ihre schulischen Startchancen mit Anstossprogrammen und Sprachförderung zu verbessern, die klassische Frühförderung ab Kinderkrippe.
3. Position der Reformpädagogik und der Digitalisierung
Die Schule versucht Startnachteile auszugleichen durch individuelle Förderung, durch digitale Applikationen, durch soziale Interaktion, durch leistungsheterogene Arrangements in Gesamtschulen, durch selbst organisiertes Lernen. Das alles soll jeglicher Diskriminierung entgegenwirken und den Talenten zwangsfrei zum Durchbruch verhelfen.
4. Position der Standardisierung und Optimierung
Staatliche Behörden erhoffen sich von standardisierten Zielvorgaben, von der Ausrichtung auf Kompetenzen und von regelmässigen Leistungserhebungen eine qualitative Steigerung der schulischen Effizienz, die auch auf die Chancengerechtigkeit durchschlägt, nach dem Vorbild ökonomischer Optimierung bei Produktions- und Dienstleistungsbetrieben.
5. Position der Realisten
Den interventionistischen Positionen 1 – 4 ist gemeinsam, dass sie Menschen (teilweise in bester Absicht) künstlich optimieren und umprogrammieren, mithin für bestimmte Zwecke fit machen wollen. Die realistische Position versucht, die Kinder so anzunehmen, wie sie sind, und sie im Rahmen der individuellen Möglichkeiten unvoreingenommen möglichst so weit zu fördern, als es unter schulischen Bedingungen möglich ist. Die Schule wird als Ort gesehen, der Möglichkeiten zur Entwicklung bietet, auch wenn diese nicht von allen genutzt werden können und selbst wenn Ungleichheiten bestehen bleiben. Dennoch wird ein Grundstein gelegt, der auf dem weiteren Lebensweg mit den vielen Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung noch lange für weitere Entwicklung und sozialen Aufstieg genutzt werden kann.