23. April 2024

Enorme Heterogenität an der Heilpädagogischen Sonderschule

Condorct-Autor Riccardo Bonfranchi erklärt, warum in Heilpädagogischen Sonderschulen immer mehr Schwerbehinderte, aber weniger Kinder mit Down-Syndrom betreut werden. Bauchschmerzen bereitet ihm insbesondere die zunehmende Durchmischung der Klassen mit schwer Geistig- und Mehrfachbehinderten, Lernbehinderten und Verhaltensauffälligen, in einer Bandbreite, der niemand gerecht werden kann.

Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Supervisor

In vielen heilpädagogischen Sonderschulen des Kantons Zürich bietet sich heute folgendes Bild: Neben geistig behinderten Kindern, die schon immer diesen Schultyp besucht haben, finden sich häufig auch schwer geistig und mehrfachbehinderte Kinder. Dies ist grundsätzlich auch gut so; denn auch sie haben ein Recht auf Bildung und Förderung.

Verschiebungen durch pränatale Frühdiagnostik und medizinische Entwicklungen

Tatsache ist aber auch, dass diese Gruppe in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Es hat damit zu tun, dass heute weit häufiger schwerbehinderte Kinder überleben können, die früher gestorben wären. Auch die Zunahme der Überlebensmöglichkeit von Frühestgeburten hat deutlich zugenommen, nicht wenige davon mit einer schweren Behinderung. Gleichzeitig ist eine deutliche Abnahme von Kindern mit Down-Syndrom feststellbar, dies aufgrund der pränatalen Diagnostik, die heute in der überwiegenden Zahl der positiv diagnostizierten Fälle zu einer Abtreibung führt. Viele geistig behinderte Kinder, insbesondere solche mit Down-Syndrom, werden zunächst in die Regelschule integriert. Wenn sie etwas älter geworden sind, folgt häufig die Einschulung in eine heilpädagogische (Oberstufen-)Klasse.

Vermehrt Lernbehinderte und Verhaltensauffällige an Sonderschulen

Die Bandbreite an unterschiedlichen Schülern und Schülerinnen in der heilpädagogischen Sonderschule hat sich in den letzten Jahren aber vor allem auch deshalb dramatisch vergrössert, weil auch sogenannt lernbehindert-verhaltensauffällige Schüler häufiger in diesen Schulen aufgenommen werden, die eigentlich für geistig behinderte Kinder und Jugendliche eingerichtet worden sind.

Extreme Heterogenität in der Durchmischung

Grosse Unterschiede auch in heilpädagogischen Klassen.

Eine Klasse an einer heilpädagogischen Schule im Kanton Zürich sieht heute also beispielsweise wie folgt aus. Gehen wir von einer Klasse mit acht Schülerinnen und Schülern aus: Zwei der acht Schüler sind schwer geistig und mehrfachbehindert, sie verfügen über keine Lautsprache und bewegen sich auf dem entwicklungspsychologischen Niveau eines Kleinkindes unter zwei Jahren. Zwei weitere Schülerinnen sind schwer geistig, aber nicht mehrfachbehindert. Ihr Entwicklungsniveau entspricht etwa der Kindergartenstufe. Zwei weitere Schüler sind nur leicht geistig behindert und wären früher vielleicht in eine Kleinklasse eingeschult worden. Die letzten zwei der acht Schüler sind nicht geistig behindert, aber verhaltensauffällig. Sie bewegen sich selbständig in der Gemeinde, benutzen öffentliche Verkehrsmittel, fahren vielleicht Mofa, hatten aber eventuell auch schon diverse Kontakte mit der Polizei wegen Vandalismus und Sachbeschädigung oder Ähnlichem. Diese acht Schüler besuchen nun also in unserem Beispiel die gleiche Klasse an einer heilpädagogischen Schule.

Es gibt wohl keinen anderen Schultyp in unserer Schullandschaft, der so heterogen zusammengesetzt ist wie eine Klasse an einer heilpädagogischen Sonderschule.

Wie aber sieht der Unterricht aus?

Wie aber sieht der Unterricht in einer solcherart durchmischten Klasse aus? Über welche Qualifikationen muss die verantwortliche Lehrkraft verfügen, um all den verschiedenen Bedürfnissen gerecht werden zu können? Ist dies überhaupt zu leisten? Und: Ist den verantwortlichen Stellen bei der Bildungsdirektion und in der Politik bekannt, dass hier solch massive Unterschiede in den Bildungsniveaus vorhanden sind, die ein befriedigendes Fordern und Fördern kaum noch möglich machen? Es gibt wohl keinen anderen Schultyp in unserer Schullandschaft, der so heterogen zusammengesetzt ist wie eine Klasse an einer heilpädagogischen Sonderschule.

Nimmt man diese Schüler noch für voll?

Geschieht hier nicht eine Bagatellisierung bzw. Trivialisierung von Behinderung? So werden sowohl die schwer geistig- und mehrfach behinderten Schüler wie auch die lernbehindert-verhaltensauffälligen nicht für voll genommen. Wie soll man als Heilpädagoge dieser Bandbreite gerecht werden können?

Sinnvoll wäre es, die sogenannten Kleinklassen wieder einzuführen, wie dies in den Kantonen Aargau und Graubünden erwogen und teilweise umgesetzt worden ist. Zwar gelten Klassen an heilpädagogischen Schulen auch als Kleinklassen, doch ist die derzeitige Heterogenität der Entwicklungs- und Bildungsniveaus didaktisch und bildungspolitisch so nicht akzeptabel und bedarf einer neuen Lösung.

Riccardo Bonfranchi ist als selbständiger Fachberater und Supervisor im heilpädagogischen Bereich tätig.

 

 

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Ein Kommentar

  1. Was sich hier im Kanton Zürich im sonderpädagogischen Bereich abspielt, ist ein doppelter Skandal. Nicht nur das von R. Bonfranchi geschilderte Geschehen an und für sich kann man fast nicht glauben. Ebenso unfassbar ist die Tatsache, dass obiger Befund zwar von weiten Kreisen in Schule und Politik bestätigt wird, aber dennoch rafft sich niemand auf, Klartext zu reden und zum Rechten zu sehen. Das sollte sich endlich ändern. Die Lösung ist klar: Wiedereinführung von Kleinklassen, was man nach baslerischem Beispiel mit “SpA” wunderschön einpacken könnte. Und man sollte klar die Verantwortlichen benennen: Es sind wohl jene Leute in der Hochschule für Heilpädagogik, welche die falsche Entwicklung zwar auch schon lange sehen, aber dies rein aus Prestigegründen nicht zugeben wollen und stur auf ihrem verfehlten Standpunkt beharren. Und die Bildungsdirektorin wagt es leider offenbar nicht, den Herren an den Karren zu fahren.

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