20. April 2024

Die empirische Forschung hat sich verselbständigt

Eine neue Autorin aus Deutschland, Inge Konradi, Studienrätin in Mathematik, Physik und Spanisch, besuchte im Dezember 2019, eine Fachtagung Mathematik, die von der KMK, dem IQB und dem Leibniz-Institut organisiert wurde. Daraufhin hat die Lehrervertreterin 6 Thesen verfasst, die sie dem Condorcet-Blog zur Verfügung stellt.

Im Dezember 2019 fand ein von der KMK, dem IQB und dem Leibniz-Institut für Naturwissenschaften (IPN) in Kiel koordinierter Fachtag Mathematik in Berlin statt, an dem ich teilgenommen habe.

Anstelle eines Berichtes habe ich mich für eine Zusammenstellung meiner Eindrücke in Form von 6 Thesen entschieden, die im Folgenden aufgeführt werden.

  1. Die empirische Forschung hat sich verselbständigt.
Kernaufgaben des IQB: Nationale Bildungsstandards inhaltlich weiter entwickeln und methodisch präzisieren.

Im Zuge der Ökonomisierung der Bildung, der Unterwerfung von Bildungseinrichtungen unter betriebswirtschaftliche Prinzipien und der angeblichen Objektivierung der Resultate, kommt der quantitativen Erhebung und dem darauf basierenden Ranking eine solche Bedeutung zu, dass diese Erhebungs- und Evaluationsstudien die inhaltliche Ausrichtung von Prüfungen und Lehrinhalten steuern.

Das beste Beispiel für die Verselbständigung der quantitativen Messung ist das IQB (Institut für Qualitätssicherung) mit Sitz in Berlin, berühmt-berüchtigt für bundesweite Lernstanderhebungen wie Vera 3 bzw. Vera 8 und Abituraufgabenformate (EPAs).

Neben der Krake IQB gibt es zahlreiche empirische Forschungsinstitute an den Universitäten. Die dort Arbeitenden haben ein ganz persönliches Interesse am Fortbestand dieses Zweiges der Bildungsforschung. Um weitere Gelder zu adquirieren und ihre Stellen zu sichern, müssen sie deshalb natürlich immer darauf verweisen, dass sie noch größere Stichproben bzw. weitere Aspekte untersuchen müssten, um stichhaltige Aussagen liefern zu können, wie konkret am Fachtag immer wieder geschehen. Doch der Wert dieser Studien für die Unterrichts- oder Lehrpraxis ist äußerst fraglich.

Um weitere Gelder zu adquirieren und ihre Stellen zu sichern, müssen sie deshalb natürlich immer darauf verweisen, dass sie noch größere Stichproben bzw. weitere Aspekte untersuchen müssten, um stichhaltige Aussagen liefern zu können, wie konkret am Fachtag immer wieder geschehen.

  1. Praktische Erfahrungen der Lehrenden werden ignoriert.
Schüler sind nicht dümmer als früher.

Alle von Praktikern vorgebrachten Aussagen und Vorschläge zu den Inhalten der Lehrpläne bzw. zum problematischen Einsatz digitaler Medien, die darauf zielten, den Kenntnisstand der Abschlussklassen in Mathematik zu verbessern, wurden stereotyp mit zwei Totschlagargumenten zurückgewiesen:

  • Die Lehrenden haben schon immer über die Defizite der Lernenden geklagt.
  • Die Schüler sind nicht dümmer als früher.

Entgegen dem ansonsten formulierten Anspruch der Bildungsforscher nach handfesten Belegen wurde die erste Behauptung durch historische Zitate sehr allgemeiner Art, die zweite weder durch Argumente noch durch empirische Studien belegt.

  1. Die empirische Bildungsforschung behindert eine Verständigung zwischen Lehrern in den Schulen und Lehrenden in den Hochschulen.

Bekannter Weise klaffen die Leistungen vieler Schulabgänger in Mathematik und die Eingangsvoraussetzungen der Hochschulen in den MINT-Fächern und den Ingenieurwissenschaften weit auseinander.
Aus zwei Bundesländern, Niedersachsen und Baden-Württemberg, wurde berichtet, dass diesbezüglich gemeinsame Tagungen zum Austausch zwischen Lehrkräften und Lehrenden an den Hochschulen einberufen worden seien, auf denen sehr schnell ein Grundkonsens über die Anforderungen der Universitäten bzw. Fachhochschulen und der inhaltlichen Vorbereitung der Schulen auf ein MINT-Studium hergestellt werden konnte. Ein Teilnehmer einer solchen Runde aus Baden-Württemberg berichtete, dass Lehrer und Lehrende schnell einig geworden wären, behindert würde die Einigung ausschließlich durch „die Bildungsverwaltung“[1].

  1. Standards und Kompetenzen sind Spiegelbilder ökonomischer Kennziffern.

Im Gegensatz zur industriellen Fertigung, bei der der Herstellungsprozess gedanklich in viele Einzelteile zerlegt, vermessen und planbar ist, lässt sich der Erkenntnisprozess des Menschen nicht genau steuern und erfassen, denn er verläuft nicht eindimensional, sondern macht Umwege. Der Mensch ist eben keine Maschine!

Erkenntnisprozesse lassen sich nicht genau steuern.

Deshalb sollten wir Pädagogen im Interesse der Schüler und der Gesellschaft die Souveränität über das Unterrichtsgeschehen zurückerobern, indem wir uns auf die pädagogische Freiheit berufen.

Abgesehen davon könnten die Schulen die Ressourcen und Stellen, die die empirische Forschung und speziell das IQB verschlingen, gut und sogar nützlicher im realen Unterricht gebrauchen.

Dasselbe gilt auch für die Lehrkräfte, die hochdotierte Stellen in der Schulinspektion innehaben – ein Arbeitsbereich, der erst der betriebswirtschaftlichen Sicht auf Schule und der indirekten Steuerung entsprungen ist.

Die Forderungen:

  • Abschaffung des IQB!

  • Wiedergewinnung der Autonomie der Lehrenden!

  • Freiheit der Lehre!

 

  1. Die Folgen der Kompetenzorientierung sind eine hirnlose Standardisierung der Aufgabenformate und quantitative statt qualitative Bewertungsraster.

Noch auffälliger als in Mathematik oder den Naturwissenschaften finden die Bildungsstandards und die vorgegebene Objektivierung der Bewertungskriterien ihren Niederschlag in den Sprachen. Die kleinschrittigen standardisierten Aufgabenformate des schriftlichen Abiturs z.B. werden weder dem Inhalt der Texte bzw. Lektüren gerecht noch regen sie zu einer tieferen Analyse an.

Stellwerktest Schweiz:
hirnlose Standardisierung.

Durch die Verallgemeinerung und den Gleichschritt (Inhaltsangabe, Vergleich eines Textaspektes mit einem ähnlichen Aspekt einer Lektüre, die zum Lesekanon gehört, und dem „kreativen“ Schreiben beispielsweise in der Form eines Tagebucheintrags oder Leserbriefs) geht der intellektuelle Anreiz verloren, die kognitiv-anregende und kreativ-erotische Komponente der Auseinandersetzung mit der Literatur bleiben außen vor.

  1. Die „moderne Schule“ ist eine Schule, die sich selbst abschafft.

Eine fast logische Folge von Bildungsstandards, Kompetenzrastern, standardisierten Aufgabenformaten und quantitativen statt qualitativen Bewertungskriterien ist das Konzept des Lernbegleiters – eine Idee, die als Begleitung oder Kontrolle eines Produktionsprozesses (z.B. am Fließband) sinnvoll sein mag, in der Schule, wo es auf soziale Beziehungen, didaktisches und pädagogisches Handeln ankommt, ist sie hingegen nicht nur völlig kontraproduktiv, sondern auch wenig weitsichtig, denn:

Die Zukunft des Lernbegleiters ist der digitale Algorithmus, d.h. der Computer kann verhältnismäßig problemlos den Lernbegleiter ersetzen – jedoch den Lehrer, bei dem die humane Interaktion im Mittelpunkt steht, sicher nicht.

[1] Sinngemäße Aussage eines Teilnehmers

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Webseite der GBW, unseres Partnerblogs in Deutschland

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