24. April 2024

Die «heile Welt» von Madame la Professeur auf SRF – ein Kommentar

Anlässlich der Sendung Regional Diagonal vom 29. Februar 2020 wurde Miriam Egli Cuenat zum rasant zunehmenden Widerstand gegen das Französisch-Lehrmittel Milles feuilles befragt. Frau Egli Cuenat ist Professorin für Französisch-Didaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Die kaum vier Minuten des Beitrags reichen zur Veranschaulichung der ganzen Dimension des Passepartout-Debakels. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat ihr folgenden Brief geschrieben.

Felix Schmutz, Baselland:
“Ein totales Fiasko.”

Aussage 1: Die Passepartout-Lehrmittel hätten «neue, offenere Unterrichtsformen» eingeführt, die nicht «eins nach dem andern einbläuen». Sie enthielten offenere Lernparcours.

Dies illustrieren Sie mit dem Beispiel: La fleur s’épanouit sur l’eau. An diesem Satz sollten Kinder la fleur und sur l’eau aktiv lernen, hingegen bräuchten sie s’épanouit nicht zu behalten.

  1. Das Beispiel illustriert jedoch nicht «neue, offenere Unterrichtsformen», sondern den traditionellen kommunikativen Unterricht, wie er Lehrwerke wie Bonne Chance, envol, New Snapshot und viele andere seit den frühen Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts pflegen. Das Lexique zu Bonne Chance unterschied z.B. sehr genau zwischen Lernwortschatz und zusätzlichen Wörtern. Die Unterscheidung Aktiv-/Passivwortschatz ist somit keine Erfindung der Passepartout-Didaktik. Passepartout schmückt sich hier (wider besseres Wissen?) mit fremden Federn.

 

Das teuerste Lehrmittel ist eine didaktische Kopfgeburt.

Der verhängnisvolle Verzicht auf den Aufbau

Neu an den Passepartout-Lehrmitteln ist hingegen der Verzicht auf einen Aufbau, der vom Einfachen zum Schwierigen führt, was Sie abschätzig so bezeichnen: «eins nach dem andern einbläuen». Sauer/Wolf begründen ausführlich, dass sie weder Strukturen noch Wortschatz als konstitutives Prinzip gewählt hätten, sondern die Kompetenzen des europäischen Referenzrahmens. Sie berufen sich auf eine – im Übrigen durch Vergleichsstudien relativierte und widerlegte – Hypothese von Stephen Krashen zu Beginn der Achtzigerjahre: The Natural Order Hypothesis, wonach sich der sprachliche Aufbau bei der Begegnung mit sprachlichem Material «von selbst in einer festgelegten Reihenfolge, die durch Unterricht nicht beeinflusst werden könne», ergeben solle.

Die Lernenden sollen der Schwierigkeit mit abstrakten «Strategien» begegnen. Das zeigt die Kopfgeburt dieser Didaktik: Volksschüler sind hoffnungslos überfordert.

Dies funktioniert aus folgenden Gründen nicht:

  1. a) Krashens Hypothese trifft dann zu, wenn die Sprache im Sprachgebiet aus existenzieller Notwendigkeit im täglichen Austausch gelernt wird. Das erreichte Niveau ist dann jedoch von persönlichen und zufälligen Faktoren abhängig und kann von hinlänglicher Perfektion bis zum kaum verständlichen Radebrechen sprachlicher Floskeln reichen. Im geleiteten Unterricht hingegen kann der Spracherwerb sehr wohl beeinflusst werden, wie inzwischen eindeutig belegt wurde.
  2. b) Im Schulalter unterscheidet sich das Lernen von Sprachen nicht vom Lernen anderer Inhalte. Es gelten die allgemein anerkannten didaktischen Prinzipien: schrittweise vom Einfachen zum Schwierigen, das Neue verstehen, das Neue mit dem Bekannten verbinden, üben, in Situationen anwenden. Wenn Sie Tanzen oder Skifahren lernen, müssen Sie gleich vorgehen. Sie können nicht mit der Lauberhornpiste beginnen.
  3. c) Krashen fordert in seiner zweiten Hypothese, Comprehensible Input, die Lernenden müssten alles verstehen, sonst funktioniere These 1 nicht. Daran halten sich Mille feuilles und Clin d’oeil mitnichten. Sie verwenden authentische Texte, ohne die Steilheit des Materials zu berücksichtigen. Die Lernenden sollen der Schwierigkeit mit abstrakten «Strategien» begegnen. Das zeigt die Kopfgeburt dieser Didaktik: Volksschüler sind hoffnungslos überfordert.

Kein erkennbarer roter Faden

Ihr Beispiel (La fleur s’épanouit sur l’eau) illustriert genau das: Als Linguistin wissen Sie sehr wohl, dass die Bedeutung von Aussagen nicht nur an Einzelwörtern hängt, sondern ebenso an der sprachlichen Struktur und den pragmalinguistischen Faktoren. Struktur ist bedeutungskonstituierend; «s’épanouit» ist das Prädikat des Satzes, es trägt die Hauptbedeutung der Aussage. Es handelt sich um ein verbe essentiellement pronominal. Um den Sinn der Aussage zu verstehen, muss dieses Phänomen durchschaut werden.

  1. d) Die Kritik an den Lehrmitteln zielt genau darauf: Es wird über die Köpfe der Kinder und Jugendlichen hinweg instruiert. Überforderung ist die Folge. Die Lehrmittel haben keinen erkennbaren roten Faden, weder für die Kinder noch für die Eltern. Sie sind hingegen sehr interessant für Leute, welche die Sprache schon können. Lernende brauchen allerdings ein Lehrmittel, mit dem sie die Sprache zuerst einmal lernen können!

Aussage 2: Die Studie zu Mille feuilles des IfM habe lediglich gezeigt, dass in «einzelnen Bereichen Handlungsbedarf» bestehe. 50% der Lehrerschaft stünden hinter den Lehrmitteln.

Vier (!!!) Studien

Die komplette Überforderung.
Bild: stock.adobe.com

Das ist wohl die Verharmlosung, Beschönigung und Umdeutung des Jahrhunderts!

  1. Es gibt inzwischen vier Studien, welche die Untauglichkeit der Lehrmittel Mille feuilles und Clin d’oeil evidenzbasiert aufzeigen. Die (von den Behörden verheimlichte) neueste Studie des IfM (2019) an über 4000 Schülern stellt fest, dass 89% der Primarschulabgänger (nach 4 Jahren Französischunterricht mit Mille feuilles) die von Passepartout selbst definierten Lernziele im Sprechen nicht erreichen, 67% erreichen diejenigen im Textverständnis nicht und 43% diejenigen im Hörverstehen nicht. Eine frühere Vergleichsstudie (Susanne Zbinden, ebenfalls IfM) an über 500 Schülern des Kantons Bern zeigte auf, dass das Textverständnis am Ende der Volksschule mit Passepartout signifikant schlechter war als mit dem Lehrmittel Bonne Chance. Eine Vergleichsstudie im Kanton SO wies nach, dass das Lehrmittel Découvertes bessere Resultate hervorbrachte als Clin d’oeil, was zur Lehrmitteländerung in den P-Klassen geführt hat, damit diese eine einigermassen brauchbare Vorbereitung fürs Gymnasium erhalten.
  2. Die Befragung der Lehrpersonen und der Lernenden ergab ebenso enttäuschende Resultate: 50 % der Lernenden sind froh, wenn sie im Unterricht nichts sagen müssen, zwei Drittel würden den Französischunterricht nicht freiwillig besuchen, 40 % haben Angst vor schlechten Noten. Die Motivation ist «im Passepartoutraum eher tief». Bei den Lehrpersonen ist zu bedenken, dass Primarschullehrkräfte zum ersten Mal Französisch erteilen. Sie kennen keinen Unterricht mit andern Lehrmitteln. An der Sekundarstufe fallen die Urteile ganz anders aus, wie Umfragen in mehreren Kantonen zeigen.

Aussage 3: Es gebe immer Widerstand bei neuen Lehrmitteln, er sei stark «polarisiert». Man dürfe den Unterricht nicht aufs Lehrmittel reduzieren.

Schlagzeile in der BAZ: Dieses Lehrmittel ist nicht mehr haltbar.

Es bleibt dahingestellt, was Sie eigentlich mit dem Begriff «polarisiert» meinen. Ich deute es so, dass es eigentlich nur eine Meinung geben dürfte, nämlich die Ihre, die einzig richtige.

  1. Woher der «Widerstand»? Zuallererst von den Eltern. Ein ehemaliger Schüler von mir sagt: «Meine Tochter hat jetzt schon drei Jahre Französisch. Sie kann aber rein gar nichts. Sie kann nichts sagen, sie versteht nichts. Ich habe bei Ihnen damals schon nach einem Quartal mehr gewusst! Ich habe jetzt angefangen, mit ihr zu lernen.» Das drückt aus, was ich landauf, landab höre. Die Volksabstimmung in BL um Lehrmittelfreiheit spricht Bände: 85% haben sich indirekt gegen Mille feuilles und Clin d’oeil ausgesprochen. So viele Stimmen würden nicht einmal Blocher und Hubacher erreichen, wenn sie sich zusammentäten. Frau Egli Cuenat, das ist ein totales Fiasko! Das können Sie nicht herunterspielen. Ich habe ca. 12 Französisch- und Englischlehrmittel erlebt und durchpräpariert in 38 Jahren Unterricht. Nie haben sich die Eltern auch nur im Geringsten dafür interessiert. Muss man Argumente erfinden, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht?
  2. Selbst wenn die Fachlehrperson der entscheidende Faktor im Lernprozess ist, kommt dem Lehrmittel im Fremdsprachenunterricht eine wichtige Rolle zu: Es muss den roten Faden, den Aufbau über mehrere Lernstufen hinweg liefern. Das ist für einzelne Lehrpersonen kaum leistbar, wenn es an Erfahrung fehlt. Da ich Klassen unterrichtete, die aus mehreren Schulorten zusammengefasst wurden, musste ich solche Lehrgänge selbst entwickeln. Das kostet unglaublich viel Mühe und Zeit.
  3. Passepartout macht den verhängnisvollen Fehler, auf einen strukturierten Aufbau zu verzichten. Alle modernen Lehrmittel aus deutschen, französischen und englischen Verlagen, die sich nach dem europäischen Referenzrahmen richten, verlinken sprachliche Strukturen, Wortschatzgebiete, Situationen und Kompetenzen. Deshalb sind sie auch erfolgreich. Warum Schweizer Didaktiker meinen, sie könnten darauf verzichten, kann ich nur mit einem Wort von Professor Berthele, Uni Fribourg, bezeichen: Ignoranz, Unkenntnis der internationalen Spracherwerbsforschung.

Das ist äusserst schade. Inzwischen hat man eine ganze Generation mit Französisch gründlich vergrault.

 

 

 

 

 

 

 

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Ein Kommentar

  1. Gut, dass ein erfolgreicher Praktiker wie Felix Schmutz die Sache mit den Passepartout-Lehrmitteln ins richtige Licht rückt. Es ist schon ziemlich eigenartig, wie eine Fachhochschuldozentin die Erfahrungen unzähliger Lehrpersonen mit einem gescheiterten Lehrmittel durch Schönreden wegzuwischen versucht. Nein, so geht das nicht. Wissenschafter und Schulpraktiker müssen sich auf Augenhöhe begegnen, wenn es um neue Wege in der Didaktik geht.

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