16. April 2024

Tatort „Mille feuilles“, Mittwoch, 09.15 Uhr, Französisch, 3./4. Klasse im Schulhaus Thunstetten.

Die Primarlehrerin Therese Kohli Austin, 30 Jahre Berufserfahrung in altersgemischten Klassen, schickte diesen Bericht einst an die Berner Schule, das Zentralorgan der bernischen Standesorganisation (Bildung Bern). Eine Veröffentlichung wurde mit der Begründung abgelehnt, dass dieser Text das Lehrmittel schlecht mache. Nun, glücklicherweise gibt es heute den Condorcet-Blog.

Die Dritteler suchen im „Mille feuilles“ la page 61. Ich zeige ihnen mit den Fingern, wie viel soixante-et-un ist. Das Blättern beginnt.

Eine Gruppe Vierteler übt hinten im Zimmer das Dribbeln mit dem Basketball und probiert, den französischen Vers dazu zu sagen.

Leider geht weder das Dribbeln noch das Sagen des Verses. Die „Activité“ ist mir zu wild. Ich schicke die Kinder ins Nebenzimmer. Zum Glück ist dieses gerade nicht besetzt.

Zwei Kinder beschäftigen sich mit dem Wort „spéléologie“. Sie suchen dieses im

„Minidic“, dem Wörterbuch zum mille feuilles.

Warten, warten und wenig lernen

Leider gibt es dieses Wort im Buch nicht. Ist ja auch nicht ein Wort, das Kinder auf Französisch wissen müssen. Spéléologie heisst übrigens Höhlenforschung. Wirklich ein typisches Hobby für Vierteler. Ich sage ihnen, sie sollen es auf „google translator“ nachschauen.

Die Dritteler haben nun gemeinsam herausgefunden, dass soixante-et-un 61 heisst. Leider verstehen sie nicht, was sie auf dieser Seite bei „Activite A“ machen müssen. Es steht nämlich fast alles auf Französisch. Ich erkläre es ihnen ganz schnell auf Berndeutsch.

Die Dribbler stehen schon lange im Türrahmen und werden ungeduldig. Sie brauchen dringend Hilfe mit dem Vers. Ich lese ihnen diesen vor und überlasse sie dann ihrem Schicksal. Sie üben im Nebenraum weiter. Ich lasse die Türe offen, damit ich die Kinder halbwegs unter Kontrolle habe. Ich höre aber von Weitem, dass ihr Französisch wie Kauderwelsch tönt. Bälle werden umhergeworfen. Tant-pis! Ich kann es jetzt nicht ändern.

Die Speleologen tun wild. Der Computer ist hängengeblieben. Ich sage ihnen halt das Wort, damit sie vorwärtskommen.

Falsche Taste, Film ist weg.

Die Drittelergruppe hat nun herausgefunden, dass sie den Film zum Zirkus anschauen müssen. Der anfangs Lektion aufgestartete Computer ist bereit. Leider drücken die Kinder eine falsche Taste am Laptop und das Bild ist weg.

Fünf Kinder müssen noch die Wörter auf die Fichierkarten schreiben. Beim Vorbeischauen sehe ich, dass die Wörter voller Fehler sind und die Schrift schrecklich ist. Leider kann ich jetzt gerade nichts dagegen tun.

Es läutet. Die Lektion ist um, und das „Leiden“ findet ein Ende.

Fazit der Lektion: Die Kinder haben einen Dribbelvers falsch geübt, einen Film probiert zu schauen, Fichierkarten falsch und wüst geschrieben und ein Wort gesucht, das sie nicht gefunden haben. Dazu verbrachten viele Kinder die Zeit mit Warten oder Blöd-Tun.

Das vielversprechende französische Sprachenbad fand statt: ICH BIN SCHWEISSGE-BAD-ET!

Ich bin schweissgebadet.

Erlebnisbericht von Therese Kohli Austin, 30 Jahre Berufserfahrung in altersgemischten Klassen.

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Ein Kommentar

  1. Dieser mutige Bericht aus dem Schulalltag dürfte beispielhaft die Realität mit den Lehrmitteln Mille feuilles und Clin d’oeil abbilden. Viel Tamtam, kaum Lernen, viel Frust. Er verweist auf das Kernproblem der Lehrmittel: Sie sind wunderbar geeignet für Kinder, die die Sprache schon können. Diese erhalten eine Art Helveticus-Band (frühere Jahrgangsbände, in denen magazinartig aus verschiedenen Wissensgebieten Artikel für Jugendliche herausgegeben wurden), mit dem sie ihren Horizont und ihren Wortschatz erweitern können. Dumm ist nur, dass die Kinder die Sprache noch gar nicht können. Also verpuffen die Artikel über “la spéléologie” ins Leere. Man müsste eben ein Lehrmittel haben, mit dem man die Sprache zuerst aufbauend lernen kann.

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