23. April 2024

Kinder brauchen Geschichten

Erzählungen brauchen wir. Zum Gelingen benötige Europa ein neues Narrativ, wird gefordert, ebenso der Klimaschutz. Für die Kinderwelt waren Geschichten schon immer bedeutsam. Ein Streiflicht zur Zeit, gedacht als Plädoyer fürs Erzählen, verfasst von Condorcet-Autor Carl Bossard.

Carl Bossard: Mit dem Staunen beginnt alle Philosophie.

Jedes Kind hat seinen seelischen Code. Leicht entschlüsseln kann ihn, wer sich an die eigene Kindheit erinnert. Dazu gehört das Vorlesen und Erzählen. Wie viele Geschichten hat die Mutter uns drei Buben erzählt, wie manches Märchen der geduldige Grossvater, wie packend konnte meine Erstklasslehrerin fabulieren und formulieren. Die Kinderwelt, so erinnere ich mich, ist eben ein eigenes und grosses Reich, ein Reich ohne Grenzen und Zollschranken. Ein Reich mit vielen kostbaren (Erzähl-)Schätzen. Es gab uns Geborgenheit. Nur allzu schnell wurden wir aus dieser Welt vertrieben.

Sich von Kinderaugen verführen lassen

Erzählen und Reimen, das darf jeder; dazu bedarf es keiner akademischer Weihen und keines staatlichen Diploms. Man muss sich nur einladen, ja verführen lassen von Kinderaugen.  Eben: Wieder werden wie die Kinder und sich von ihrem Staunen verzaubern und forttragen lassen! Denn mit dem Staunen beginnt bekanntlich alle Philosophie.

 

Hartmut Rosa: Eine Begegnung mit dem Unverfügbaren.

Die Samichlauszeit und die Weihnachtstage, sie laden ganz besonders zur jahrhundertealten Tradition des Erzählens ein. Es ist eine Begegnung mit dem Unverfügbaren, wie es der Philosoph Hartmut Rosa in seiner neuen Publikation so träf beschreibt.[1] Ein Zusammentreffen mit dem Geheimnisvollen und Unerklärbaren, dem Unverfestigten und Rätselhaften. Das ging mir durch den Kopf, als ich jüngst die Weihnachtsfeier in einer vierten Klasse miterlebte. Die Lehrerin erzählte. Packend und gekonnt. Selbst der spitzbübische Schlingel, der sonst kaum ruhig sitzen kann, hing gebannt an ihren Lippen, gespannt und von der Geschichte gefangen. Mucksmäuschenstill war‘s. Man hätte eine Stecknadel fallen hören.

Unsere Kinderbücher bewahren vieles von dem, was in der heutigen Literatur fast schon nicht mehr sein darf: Geschichten gehen gut aus.

Das Geheimnis guter Geschichten

Unsere Kinderbücher bewahren vieles von dem, was in der heutigen Literatur fast schon nicht mehr sein darf: Geschichten gehen gut aus; es kommen auch ganz normale Menschen vor. Sie reden mit Tieren und glauben an das Gute, sie wollen das Fürchten einfach nicht lernen und laufen in Siebenmeilenstiefeln umher. Solche Geschichten wollen weder theoretisch belehren noch moralisierend bekehren. Sie wollen ganz einfach Freude bereiten und die Fantasie beflügeln.

„Vielleicht kann Kinderliteratur mithelfen, die Kinder wacher, lebendiger, furchtloser, fröhlicher zu machen? Damit sie später nicht aufhören, Mensch zu sein. Das wäre viel.“[2] So schrieb der deutsche Lyriker und Jugendbuchautor Josef Guggenmos. Mit seinen Geschichten und Gedichten hat er diesen Wunsch gelebt und ihm literarisch feinfühlige Form gegeben.

Der Weg zum Lesen führt über den Zauber des Zuhörens

Beim Erzählen wird aktives Zuhören gefördert.

Menschen haben Geschichten gern – und sie brauchen Geschichten. Gute Geschichten, betont der Literaturprofessor und Schriftsteller Peter von Matt. Das gilt auch unsere Schulkinder. Ein klassischer Grundsatz; darum ewig gültig. Und heute vielleicht wichtiger denn je. Denn die Lesefreude der Schweizer Schüler nimmt dramatisch ab, so diagnostiziert die jüngste PISA-Studie. Die Hälfte der rund 6‘000 befragten 15-Jährigen liest nie „aus Vergnügen“. Dies im Nach-Gutenbergschen-Zeitalter! Dabei hat verstehendes Lesen in einer kommunikativ verdichteten Zeit einen elementaren Wert.

Vermutlich führt der Weg zum Lesen übers Vorlesen und Erzählen mit dem Zauber des Zuhörens. Die meisten Kinder lieben das Narrative und hören gerne zu. Hören ist ein kognitiver Prozess.[3] Er findet nicht nur im Ohr statt. Das Hirn verarbeitet Sprache. Das Gehörte verstehen, es zu einem zusammenhängenden Gefüge verknüpfen und dann das Ganze ins Netz des eigenen Wissens aufnehmen und einordnen: Das ist bewusstes Hören. Ganz ähnlich wie beim Lesen.

Lesen ist zergliedern und aufbauen. Lesen ist nicht möglich ohne Denken und Mitdenken.

Lesen ist nicht möglich ohne Denken und Mitdenken

Lesen ist eine geistige Tätigkeit. Lesen ist zergliedern und aufbauen. Lesen ist nicht möglich ohne Denken und Mitdenken. Darum ist Lesen auch anstrengend. Von einem Video, von Bildern kann man sich „mitnehmen“ lassen; am Smartphone können wir uns von einer digitalen Informationsflut treiben lassen. Doch ein Buch kann man kaum „über sich ergehen lassen“. Lesen ist mehr als anschauen, lesen ist eine Kunst. Sie basiert von den ersten Schritten an auf einem guten Unterricht.

Kinder brauchen Geschichten

Dem verführerischen Reiz des Erzählgestus erliegen

Der Einstieg in die Welt des Lesens erfolgt früh. Schon die gute Kindergärtnerin weiss, wie wichtig ausdrucksvolles und spannendes Erzählen ist. Wer von einer Geschichte ergriffen ist, entwickelt sie im Kopf weiter; er fantasiert und fabuliert darüber.

 

Unsere Erstklasslehrerin war eine wahre Trudi Gerster. Sie hat die Erzählkultur aus den Kindergarten-Tagen weitergeführt – im Klassenrahmen. Ihre Fortsetzungsgeschichten, die sie uns täglich abschnittsweise vorlas, wurden zum fesselnden Gemeinschaftsband für die ganze Klasse. Mit ihren Kommentaren und Fragen förderte sie aktives Zuhören und das Verstehen von Zusammenhängen. Früh weckte sie in uns Buben das Verlagen, selber zu lesen. Sie brachte Lektüren mit in den Unterricht. Noch heute erinnere ich mich an mein erstes SJW-Heft „Nur der Ruedi“. Mehrmals habe ich es als kleiner Knirps verschlungen. Unvergesslich bleibt auch Adolf Heizmanns spannende Erzählung vom „Überfall am Hauenstein“. Die beiden vergilbten Broschüren trotzten jeder Revision meiner Bücherwand.

Hingeführt und zum lebenslangen Lesen verführt hat mich unsere Erstklasslehrerin. Sie entzifferte meinen seelischen Code. Ich erlag dem verführerischen Reiz ihres Erzählgestus. Dafür bin ich ihr dankbar. Noch heute.

 

 

[1] Hartmut Rosa (2019), Unverfügbarkeit. Wien – Salzburg: Residenz Verlag, S. 8.

[2] Hans-Joachim Gelberg (1992), Ein Dichter, der für Kinder schreibt. Sonderdruck zu Ehren des 70. Geburtstages von Josef Guggenmos. Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg-Verlag, S. 5.

[3] Giorgio V. Müller, Zum Hören braucht es mehr als gute Ohren, in: NZZ, 22.11.17, S. 30.

 

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2 Kommentare

  1. Bereits 1931 gab es eine breite Bewegung (Schweizerischer Schriftsteller-Verband, Schweizerischer Lehrerverein usw.), um die Leselust zu fördern, die nachhaltige Leseförderung in den Schulen zu unterstützen, die Schüler zum Bücherlesen zu animieren, Phantasie und Kreativität anzuregen und ein breites Wissen zu vermitteln. Gleichzeitig wollte man die Werke von Schweizer Autoren und Illustratoren der Jugend zugänglich machen.

    Damals kämpfte man nicht gegen das Smartphone (bei dem man allerdings auch lesen können muss) sondern gegen die aufkommende „Schundliteratur“ und den Mangel an altersgerechten auf die verschiedenen Schulstufen ausgerichteten Literatur zu aktuellen Themen (Erstlesetexte zum Vorlesen, Erzählen oder Selberlesen, Texte für die Mittelstufe mit Sachheften zu diversen Themen, aber auch Krimis, Hexen- und Gespenstergeschichten und Sachhefte für die Oberstufe).

    Das von Carl Bossard erwähnte SJW-Heft „Nur der Ruedi“ der bekannten Schweizer Jugenschriftstellerin Elisabeth Müller war eines der ersten (Heft Nr. 7). Bisher wurden über 2600 Titel in allen vier Landessprachen und teilweise in Blindenschrift herausgegeben, jährlich werden rund 170‘000 SJW-Hefte verkauft, seit 1932 über 50 Millionen.

    Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerisches_Jugendschriftenwerk

  2. Wenn Kinder von klein auf Geschichten hören und intensiv aufnehmen, erwerben sie sich die nötige Offenheit für die spätere Freude am Lesen.

    Doch wie steht es mit der Erzählkunst in Kindergarten und Schule? Vor allem in der Schule scheint der Musse für spannende Erzählungen und fürs Vorlesen nur noch wenig Zeit eingeräumt zu werden. Was nicht direkt messbar ist, gilt als irrelevant für den Schulerfolg. Doch ein ungestillter Hunger nach Geschichten bleibt nicht ohne Folgen. Narrative Magerkost hinterlässt bei Kindern emotionale und begriffliche Lücken, die sich auf die Entwicklung der Imagination und das Lesenlernen spürbar auswirken.

    Carl Bossard beschreibt in grossartiger Weise, was eine starke Erzählerin bei Kindern auslösen kann, wenn sie mit Mimik, Tonfall und Begeisterung eine Geschichte zum Erlebnis macht. Kinder, die über einen Schatz an grösseren und kleineren Geschichten verfügen, sind viel eher bereit, sich auf das Abenteuer Lesen einzulassen. Ihre geweckte Neugier und ihr erweiterter Wortschatz schaffen beste Voraussetzungen für gelingendes Lesen. Der innere Antrieb, mit der Zeit auch längere Texte lesen zu können, ist bei diesen Kindern stark ausgebildet. Was für ein Unterschied zu Schülern, die im intensiven Zuhören wenig geübt sind und später oft nur Kurzbotschaften lesen und aufnehmen können!

    Kinder, die es gewohnt sind, während des Zuhörens innere Bilder zu entwickeln, bauen sich eine starke eigene Vorstellungswelt auf. Es bilden sich Begriffe, die gefüllt sind mit Leben. Gewisse Wörter bekommen geradezu eine Signalfunktion fürs Leseverstehen. Richtiges Lesen gelingt am besten im Zustand der bereichernden Musse. Beim aufmerksamen Lesen werden Kinder das bisherige Gelernte mit der neuen Situation im Text verbinden. Dieser Vorgang ist der eigentliche Kern des Bildungsaufbaus.

    Die Forderung, Lehrer besser als Erzähler auszubilden, mag antiquiert tönen. Eltern und manche Lehrpersonen schauen zurzeit gebannt auf erfolgversprechende Programme des frühen digitalen Lernens. Doch die Frage lautet, ob nicht die anregende Wirkung einer lebendigen Erzählkunst weit mehr an Kreativität bei der Jugend auslöst als frühe Investitionen in die Digitalisierung. Eigentlich müsste man nur die Kinder fragen.

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