Liegt es primär am veränderten Freizeitverhalten oder trägt die Schule massgebend zum Lesedebakel der Schweizer Schüler bei der PISA-Studie bei? Bildungsfachleute rätseln, wo die Ursachen liegen könnten. Sicher hat der Trend hin zum oberflächlichen schnellen Lesen mit der Flut der Informationen zugenommen. Wer Unmengen von Kurzfutter-Botschaften auf dem Smartphone konsumiert und sich dabei nicht gross darum kümmert, was auf der Welt geschieht, wird sich kaum in eine längere Lektüre vertiefen.
Die Schule darf sich nicht der Verantwortung entziehen
Obwohl die Ursachen des Debakels teilweise im gesellschaftlichen Umfeld liegen, kann sich die Schule ihrer Verantwortung nicht entziehen. Lesen und Schreiben lernen ist ein Grundauftrag der Volksschule. Was so banal tönt, ist letztlich ein komplexer Lernprozess, der systematisch gefördert und fächerübergreifend stattfinden muss. Deutsch lernen ist für Kinder ein ganzheitlicher Vorgang, der sich in persönlichen Beziehungen am besten entwickelt.
Spürbare Folgen vernachlässigter Erzählkultur
Kinder und Jugendliche wollen angesprochen werden und sind bereit aktiv zuzuhören, wenn sie merken, dass eine Lehrerin etwas Neues oder gar Spannendes vermitteln will. Sie haben Hunger nach Geschichten, bei denen sie in eine andere Welt eintauchen und sich mit Erzählfiguren identifizieren können. Dabei spielt die Rolle der Lehrerin eine zentrale Rolle. Kinder lesen im Gesicht und in der Gestik der Erzählerin, was sich in der Geschichte abspielt. Wortwahl und Tonfall der Sprache verstärken das Emotionale, aber auch die Logik des Handlungsablaufs ist nicht nebensächlich. Kinder protestieren sofort, wenn beim Rückblick auf eine Geschichte eine logische Reihenfolge verändert wird. Der Lernprozess ist offensichtlich.
Vergebens warten die Schüler auf faktenbasierte dramatische Erzählungen, die ihren Wortschatz auf lebendige Weise erweitern würden.
Leider hat die Kunst des Erzählens in der Lehrerausbildung völlig zu Unrecht an Bedeutung verloren. Der Geschichtsunterricht an der Volksschule führt in manchen Klassen ein Schattendasein. Zurückgestutzt auf nur eine Wochenlektion wird Geschichte narrativ höchstens noch in Bruchstücken vermittelt und selbst die spannendsten Epochen können nur angetippt werden. Vergebens warten die Schüler auf faktenbasierte dramatische Erzählungen, die ihren Wortschatz auf lebendige Weise erweitern würden. Eine grosse Zahl von Jugendlichen, die übers Ohr eine Sprache mit einer gewissen Leichtigkeit aufnimmt, kommt so zu kurz.
Attraktive Realienfächer dienen der Sprachförderung
Die sprachliche Gestaltungs- und Motivationskraft einer Lehrerpersönlichkeit ist für den unmittelbaren Spracherwerb zentral. Nicht nur beim Erzählen, auch beim Erklären eines Sachverhalts oder im dialogischen Umgang mit der Klasse prägt die Sprache der Lehrperson die Lernkultur. Die Motivation neugieriger Schüler hängt zu einem grossen Teil davon ab, wieweit ein Lehrer es schafft, in den allgemein bildenden Realienfächern die Welt ins Schulzimmer zu holen. Attraktiver Sachunterricht mit klaren Bildungszielen ist sprachfördernd. Wo eine Sache oder ein Geschehen fasziniert, wollen die Schüler die Zusammenhänge verstehen und darüber reden. Nicht selten sind es lesebequeme Buben, die über einen fesselnden Sachunterricht zum sprachlichen Ausdruck finden. Endlich gelingt es ihnen, sich in ein Thema zu vertiefen und in einem Vortrag ihr Wissen frei zu präsentieren.
Mehr Zeit fürs Üben und den Aufsatzunterricht
Um Sicherheit im sprachlichen Ausdruck zu gewinnen, sind die meisten Schülern auf anregendes Üben im Klassenverband angewiesen. Wird diese wichtige Basisarbeit aus Zeitgründen reduziert oder weitgehend an digitale Lernprogramme delegiert, bleibt dies nicht ohne Auswirkungen. Digitale Programme haben im Rahmen des individualisierenden Lernens durchaus ihren Wert. Doch wenn Lehrer ihre Schüler lieber über Bildschirme steuern als den unmittelbaren Kontakt zu suchen, geht etwas Wesentliches verloren. Eine Lehrperson muss kreative Übungsformen finden und zeigen, dass sie Freude an den sprachlichen Formen hat. Ähnlich wie ein guter Fussballtrainer beim Üben mit seiner Mannschaft höchste Präsenz ausstrahlt, wird ein Lehrer das sprachliche Training mit der Klasse gestalten. Und wie die Erfahrung zeigt, macht gezieltes Üben den meisten Schülern mit der Zeit durchaus Spass.
Wer selber kurze Texte, Berichte und längere Briefe in überzeugender Form schreiben kann, merkt besser, was den Wert eines Beitrags ausmacht.
Beklagt wird im Bericht zum PISA-Test, dass viele Schüler den Wahrheitsgehalt von Meldungen und die sprachliche Qualität von Texten schlecht erkennen würden. Sicher ist es richtig, wenn die modernen Formen der schriftlichen Kommunikation im neuen Fach Medienkunde genauer unter die Lupe genommen werden. Doch das reicht noch nicht. Die Schüler müssen erst einmal Vertrauen zum eigenen Schreiben finden. Wer selber kurze Texte, Berichte und längere Briefe in überzeugender Form schreiben kann, merkt besser, was den Wert eines Beitrags ausmacht. Der Weg dazu fällt nicht allen leicht und ist auch für die Lehrpersonen aufwändig. Gelingt es einer Lehrerin jedoch in einem lebendigen Aufsatzunterricht einen schriftlichen Dialog mit den Schülern zu entwickeln, wird die Sensibilität für sprachliche und inhaltliche Qualität geweckt.
Vielseitiger Zugang zur deutschen Sprache
Die bis hier geschilderten Wege zur sprachlichen Förderung sind exemplarisch und bei Weitem nicht vollständig. Vor allem der mündliche Bereich bietet eine Fülle von Möglichkeiten für eine abwechslungsreiche Unterrichtsgestaltung. So lässt eine Ballade wie Fontanes John Maynard keinen Schüler gleichgültig, wenn das Gedicht packend vorgetragen, erhellend interpretiert und sprachlich-spielerisch von den Jugendlichen gestaltet wird. Genauso verhält es sich mit altersgemässen Theaterstücken oder der gemeinsamen Klassenlektüre eines Jugendbuch-Klassikers. Und selbstverständlich ebnen anregende Veranstaltungen wie Lesenächte oder organisierte Bibliotheksbesuche den Jugendlichen den wohl leichtesten Einstieg in die weite Sprachwelt: ins Lesen.
Guter Deutschunterricht muss erste Priorität erhalten
Das alles zeigt, dass das Lernen der deutschen Sprache eine sehr zeitaufwändige Aufgabe ist. Abkürzen kann man dabei nicht. Doch genau da wird es bildungspolitisch brisant. Vor allem die Primarschule ist arg unter Druck, auf zu vielen Hochzeiten tanzen zu müssen. Die beiden frühen Fremdsprachen absorbieren sehr viel Lernenergie, ohne dass die Bilanz von Aufwand und Ertrag wirklich überzeugt. Auch die sprachfördernden Realienfächer sind stark an den Rand gedrängt worden, da deren Nutzen nur schwer evaluierbar ist und sie für Leistungsvergleiche ungeeignet sind. Wer glaubt, allein mit Frühförderung die Deutschkompetenzen verbessern zu können, verkennt den Umfang der komplexen Aufgabe. Nötig wären vielmehr eine Neubewertung der Prioritäten des gesamten Bildungsprogramms und eine entsprechende Kurskorrektur bei der Lehrerbildung. Das aber würde wohl ein bildungspolitisches Erdbeben auslösen.