7. November 2024

Vorsicht vor Untergangspropheten

Condorcet-Autor Alain Pichard hat es nicht so mit Apokalyptikern, egal ob diese Ideen vertreten, die ihm näher oder ferner sind. In einer Replik auf Felix Hoffmann anerkennt er eine gewisse Plausibilität der Thesen von Winterhoff, bemängelt aber das Fehlen von Empirie und stellt die Pauschalargumente in Frage.

Alain Pichard warnt seinen Kollegen Felix Hoffmann vor zu viel Winterhoffschen Untergangsszenarien.

Keine Frage, Michael Winterhoff, Kinderpsychiater, Buchautor und erfolgreicher Referent, spaltet die Geister. Über sein Buch «Deutschland verdummt» wird derzeit heftigstens gestritten, nun auch im Condorcet-Blog. Felix Hoffmann fasste in seiner Rezension die wichtigsten Thesen des Buches korrekt und mehrheitlich wohlwollend zusammen.
Der NZZ-Journalist Martin Beglinger sprach hingegen von «ziemlich schrillen Thesen». Und er fährt weiter: «Oft genug sind sie mehr anekdotisch behauptet als empirisch belegt, aber offensichtlich ritzen sie einen dicken Nerv.» (NZZ 14.11.19)
Natürlich spricht Michael Winterhoff vielen von uns aus der Seele, wenn er die «Ideologie des offenen Unterrichts» und des «autonomen Lernens», bei dem die Lehrerin zur Lernbegleiterin degradiert werden wird, kritisiert.

Martin Beglinger, Journalist der NZZ, kritisiert Winterhoffs Buch als alarmistisch.

Und die Beispiele, die er beschreibt, sind ja beileibe nicht erfunden. Trotzdem hat Martin Beglinger recht, wenn er feststellt: «Winterhoff tut so, als sei offener Unterricht in ganz Deutschland quasidiktatorisch verordnet worden und habe sich im Schulalltag als flächendeckende ideologische Unterwanderung durchgesetzt. Beides stimmt nicht, nicht für Deutschland und noch weniger für die Schweiz.» Mit seinen pauschalisierenden Behauptungen aufgrund einzelner Beispiele begibt er sich auf dieselbe Stufe wie der TV-Philosoph Richard David Precht, der mit seinen unbewiesenen Pauschalbehauptungen (Schule ist Mist) – wie übrigens Winterhoff auch – ganze Säle füllt.

Fernsehphilosoph Richard David Precht füllt mit seinen Pauschalbehauptungen die Säle in Deutschland.

Ich habe Winterhoff das erste Mal an einer Tagung des ZKM (Zürcher kantonale Mittelstufe) im Jahr 2015 erlebt. In einem einstündigen Vortrag fesselte er die anwesenden Zürcher Lehrkräfte mit seinen Beobachtungen aus seiner Praxis als Kinderpsychiater und präsentierte daraufhin seine Thesen, wonach eine steigende Zahl von Kindern heute verhaltensgestört sei und dies die Folge einer völlig falsch gelaufenen Erziehung oder eben «Nicht-Erziehung» seitens der Eltern sei.
Wenn Michael Winterhoff aus seinem Fachbereich spricht, wirkt er sehr bestimmt und durchaus auch überzeugend. Seine These der verzögerten Entwicklungsreife ist plausibel und deckt sich auch mit Beobachtungen, die wir Lehrkräfte im Unterrichtsalltag machen. Sicher muss man auch auf diesem Gebiet auf die Lieferung von empirischen Daten bestehen, die Winterhoff schuldig bleibt. Immerhin können wir aufgrund der zunehmenden Zahlen von Kindern mit Entwicklungsdefiziten erahnen, dass der Bestsellerautor so falsch nicht liegen kann. Die Symbiose zwischen Eltern und Kind, die Metapher vom schmerzenden Arm, die besagt, dass eine Mutter stets denselben Schmerz empfindet wie das Kind, wenn dieses ein angebliches Unrecht erfahren habe, ist im Unterrichtsalltag zunehmend beobachtbar. Winterhoffs Ideen als «Pädagogik des Grauens» zu betrachten, wie es die ZEIT formulierte, ist völlig fehl am Platz und daher diffamierend. Winterhoff verabreicht weder Medikamente noch predigt er die Prügelstrafe. Er will lediglich die Hierarchien in den Familien wiederhergestellt wissen. Wenn Kinder entscheiden, was gegessen und im TV geschaut wird, gibt es oft auch Probleme in der Schule.

Ein vierstündiger Waldspaziergang kann Heilung bringen.

Wenn er allerdings in seinem neusten Buch aus Lust an rabiaten Untergangsszenarien ein falsches Bild der Schule zeichnet, setzt er seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Und dass er mitunter durchaus unsauber argumentieren kann, wies ihm auch der swr1-Moderator Wolfgang Heim in einer Talksendung vom 11.6.19 nach (nachzuhören unter https://www.youtube.com/watch?v=l8OrgS3lAK8&t=941s ).

Ein vierstündiger Waldspaziergang ohne Handy, ohne Hund und ohne Ziel kann Therapien ersetzen.

Einen Ratschlag von Winterhoff sollte man aber unbedingt beherzigen. Egal ob gestresster Vater, ratlose Mutter, erschöpfter Lehrer oder ausgelaugter Condorcet-Autor: Er empfiehlt – quasi als Allzweck-Heilmittel – einen mindestens vierstündigen Waldspaziergang, ohne Handy, ohne Hund und ohne Ziel. Ich habe das nach dem Zürcher Vortrag gemacht. Es wirkt!

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