23. November 2024

Vygotskij: Der Reichtum der Phantasie hängt von der Vielfalt und dem Reichtum der gelebten Erfahrungen ab.

Der emeritierte Genfer Pädagogikprofessor Bernard Schneuwly steht für den Anfang unseres Condorcet-Blogs. Er erklärte den Initianten des Bildungsblogs die Bedeutung des bis dahin unbekannten Jean-Marie de Condorcet für unser Bildungssystem. Bernard Schneuwly ist allerdings auch ein Kenner von Lew Vygotskij, des einflussreichen sowetischen Psychologen in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. In seinem anspruchsvollen Beitrag über die Bedeutung der Phantasie im Bildungsprozess bringt er uns diesen viel zu früh verstorbenen Wissenschaftler näher. Dabei wagt Bernard Schneuwly eine ungewöhnliche Form. Er führt mit dem Wissenschaftler ein fingiertes Interview.

Professor Bernard Schneuwly, Genf: Ideengeber des Condorcet-Blogs, Kenner von Vygotskij
Lew Semjonowitsch Vygotskij, 1896-1934, war ein sowjetischer Psychologe und gilt als der Begründer der Tätigkeitstheorie.

Die Vorstellungskraft … ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet: “Was dem Tier fehlt, ist Vorstellungskraft”. Und doch kommt diese grundlegende Tätigkeit in den Lehrplänen kaum vor. In der PER (plan d’études romand, französischsprachiger Lehrplan) wird bei den fächerübergreifenden Fähigkeiten zum Beispiel “kreatives Denken” erwähnt, mit einem Verweis auf das Wort “Phantasie”. Diese wiederum wird durch verschiedene Unterkategorien beschrieben: «divergentes Denken», «Erkennen des eigenen sensorischen Anteils», «Konkretisierung des Erfindungsreichtums». Eine Möglichkeit, der Vorstellungskraft als transversaler Fähigkeit eine Bedeutung zu verleihen, besteht darin, über diese zentrale Tätigkeit des Menschen nachzudenken.

Vygotskij war ein großer Gelehrter, der sich viele Gedanken über Erziehung und Unterricht gemacht und das pädagogische Denken in der ganzen Welt tiefgreifend beeinflusst hat (siehe den nächsten Condorcet-Beitrag über ihn). Von 1922, als er Lehrerausbilder war, bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1934 arbeitete er sein ganzes Berufsleben lang an dem Phänomen der Phantasie.

Um einige von Vygotskijs Ideen zur Vorstellungskraft zugänglich zu machen, haben wir eine etwas ungewöhnliche Form gewählt. Anstatt die Gedanken des Autors wiederzugeben, lassen wir ihn in einem fiktiven Interview zu Wort kommen. Es besteht ausschließlich aus Antworten, die aus Vygotskijs Zitaten stammen und manchmal unter formalen Gesichtspunkten leicht abgeändert wurden.

Frage an L.S. Vygotskij: Für Piaget ist das Kind voller Phantasie; diese Fähigkeit ist von Anfang an vorhanden, schwächt sich dann ab und weicht allmählich dem realistischen Denken. Für ihn wird die symbolische Vorstellungskraft von einer egozentrischen Haltung beherrscht, die von dem Wunsch nach unmittelbarer Befriedigung und Vergnügen bestimmt wird. Was ist Ihre Meinung dazu?

Lew Vygotskij: Piagets Ansichten sind meines Erachtens falsch.

L.S. Vygotskij: Diese Interpretation der Phantasie ist meiner Meinung nach falsch. Sie rührt daher, dass die Vorstellungskraft einseitig als ein Phänomen untersucht wird, das mit dem Gefühlsleben, mit der Welt der Wünsche und Stimmungen zusammenhängt. Die andere Seite der Vorstellungskraft, die mit dem intellektuellen Leben verbunden ist, wird in den Hintergrund gedrängt. Das Kind ist weniger fähig, sich etwas vorzustellen als ein Erwachsener, aber es vertraut mehr auf die Produkte seiner Vorstellungskraft, während es sie weniger gut kontrolliert, weshalb die Vorstellungskraft im gewöhnlichen Sinne des Wortes, also etwas, was als nicht real, als erfunden erscheint, bei ihm natürlich häufiger anzutreffen ist als bei einem Erwachsenen. Ganz allgemein hängt der Reichtum der Phantasie von der Vielfalt und dem Reichtum der gelebten Erfahrungen ab. Phantasie und logisches Denken entwickeln sich nicht getrennt voneinander, sondern in enger Beziehung zueinander.

Wenn wir das richtig verstehen,  soll also die Vorstellungskraft nicht einfach gegeben sein, sondern sie entwickelt sich, wird stärker und verwandelt sich grundlegend.  

Die Entwicklung der Vorstellungskraft zieht sich durch das ganze Leben eines Kindes.

Oft ist es die Schule, in der das Kind zum ersten Mal ausführlich darüber nachdenken kann, was es tun wird. In der Tat finden wir während der Schulzeit die ersten Formen imaginärer Konstruktionen. Das Kind zeigt die Möglichkeit und Fähigkeit, sich unabhängig von einem realitätsorientierten Denkprozess bewusst mit intellektuellen Konstruktionen zu befassen. Schließlich ist die Begriffsbildung, die den Eintritt in die Adoleszenz markiert, ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Phantasie.

Nach dem, was Sie gerade gesagt haben, ist die Adoleszenz eine besonders wichtige Phase für die Entwicklung der Phantasie. Ist das richtig?

In der Adoleszenz spaltet sich die Vorstellungskraft in gewisser Weise. Einerseits wird sie zum Motor für die Befriedigung des Gefühlslebens, der Bedürfnisse, der Stimmungen und der überwältigenden Gefühle des Heranwachsenden. In der Phantasie findet der Heranwachsende ein wirksames Mittel, um sein Gefühlsleben zu lenken und zu kontrollieren. Parallel zu diesem Weg der Vorstellungskraft, der in erster Linie dem emotionalen Bereich des Heranwachsenden dient, entwickelt sich die Vorstellungskraft des Heranwachsenden auch auf einem anderen, rein objektiven Weg. Überall dort, wo es im Prozess des Verstehens oder der praktischen Tätigkeit darum geht, eine neue konkrete Konstruktion, ein neues Bild der Wirklichkeit, eine kreative Materialisierung einer bestimmten Idee zu schaffen, tritt die Vorstellungskraft als Hauptfunktion in den Vordergrund.

In seiner Vorstellung nimmt der Heranwachsende seine Zukunft vorweg und nähert sich dann auf kreative Weise ihrer Verwirklichung.

Es wäre aber nicht richtig zu glauben, dass sich diese beiden Wege in der Entwicklung der Vorstellungskraft in der Adoleszenz plötzlich trennen. Der objektive Ausdruck ist stark emotional gefärbt, aber die subjektive Vorstellungskraft wird oft im Bereich der objektiven kreativen Tätigkeit beobachtet. Zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs zwischen den beiden Wegen in der Entwicklung der Vorstellungskraft sei darauf hingewiesen, dass der Heranwachsende gerade in seiner Vorstellungskraft zum ersten Mal mit seinem Lebensplan in Berührung kommt. Seine diffusen Sehnsüchte und Impulse verschmelzen zu eindeutigen Bildern. In seiner Vorstellung nimmt er seine Zukunft vorweg und nähert sich dann auf kreative Weise ihrer Verwirklichung.

Dadurch wird die Vorstellungskraft grundlegend verändert. Dies ist das genaue Gegenteil von Piagets Auffassung, für den die Phantasie mit dem Wunsch verbunden und von der Realität getrennt bleibt.

Erstens können wir sehen, dass die Phantasie sich immer aus dem von der Wirklichkeit gegebenen Material ernährt. Es stimmt, dass die Vorstellungskraft neue Ebenen schaffen kann, wie wir zum Beispiel im Märchen von Puschkin «Ruslan und Ludmila» sehen können. Puschkin kombiniert zunächst Elemente direkt aus der Realität (eine Katze, eine Kette, eine Eiche), später dann Figuren aus der Fantasie (eine Welle, ein Waldgeist) usw. usw. Aber alle Elemente, aus denen die imaginäre Darstellung entsteht, auch die realitätsfernsten, sind immer Elemente der Realität.

Das scheint klar zu sein. Aber wir können uns auch Dinge auf der Grundlage der Erfahrungen und des Wissens anderer Menschen vorstellen: Wir können uns die Sahara vorstellen, ohne dort gewesen zu sein, oder sogar die Französische Revolution, an der wir offensichtlich überhaupt nicht teilgenommen haben?

Wenn wir die Zeitung lesen und von Tausenden von Ereignissen erfahren, die wir nicht direkt miterlebt haben, wenn ein Kind Geografie oder Geschichte studiert, wenn wir einfach in einem Brief erfahren, was einer anderen Person widerfährt – in all diesen Fällen steht unsere Vorstellungskraft im Dienst unserer Erfahrung.

Das Ergebnis ist eine doppelte und wechselseitige Abhängigkeit zwischen Imagination und Realität oder Erfahrung. Im ersten Fall stützt sich die Vorstellung auf die Erfahrung der Realität, im zweiten Fall ist es die Erfahrung, die sich auf die Vorstellung stützt.

Mit Ihrer Sicht der Dinge sind wir in der Tat sehr weit von der angenommenen Beziehung zwischen Vorstellung und Emotionen, Gefühlen oder Wünschen entfernt.

Diese Beziehung manifestiert sich auf zwei Arten. Einerseits will jedes Gefühl, jede Emotion in einer Form verkörpert werden, die diesem Gefühl entspricht. Emotionen haben also eine Art Fähigkeit, Eindrücke, Gedanken und Formen auszuwählen, die mit der Stimmung, in der wir uns gerade befinden, übereinstimmen. Auf der anderen Seite bedeutet dies, dass jedes Konstrukt der Phantasie unsere Gefühle beeinflusst, und wenn dieses Konstrukt an sich nicht der Realität entspricht, ist jedes Gefühl, das es hervorruft und den Menschen ergreift, real, wirklich gefühlt. Eine einfache Kombination von äußeren Eindrücken eines musikalischen Werks ruft in der Person, die diese Musik hört, eine ganze komplexe Welt von gelebten Erfahrungen und Gefühlen hervor. Diese Erweiterung und Vertiefung der Gefühle, ihre schöpferische Rekonstruktion, ist die psychologische Grundlage der Musikkunst.

Diese “kristallisierte” Vorstellung, die in ein Objekt verwandelt wurde, beginnt in der Welt zu existieren und auf andere Objekte einzuwirken. Solche Vorstellungen werden also Wirklichkeit.

Aber dieses oder jedes andere Kunstwerk ist ein Produkt der Phantasie. Aber ist sie auch Realität? Wie können wir über diese andere Beziehung nachdenken?

Dies ist die vierte Form der Beziehung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Das Wesen der letzteren besteht darin, dass die Konstruktion der Phantasie etwas völlig Neues darstellen kann, das in der menschlichen Erfahrung noch nie existiert hat und keinem existierenden realen Objekt entspricht, und dennoch äußerlich in Form einer materiellen Errungenschaft verkörpert wird, z.B. ein Kunstwerk, aber auch eine Brücke, eine Maschine usw. Diese “kristallisierte” Vorstellung, die in ein Objekt verwandelt wurde, beginnt in der Welt zu existieren und auf andere Objekte einzuwirken. Solche Vorstellungen werden also Wirklichkeit. Diese Produkte der Vorstellungskraft sind schließlich durch ihre Inkarnation in die Realität zurückgekehrt, mit einer neuen aktiven Kraft, die diese Realität umgestaltet. Dies ist der vollständige Zyklus, der durch die schöpferische Tätigkeit der Vorstellungskraft erreicht wird.

Die Phantasie ernährt sich immer aus dem von der Wirklichkeit gegebenen Material.

Wenn wir also richtig verstehen, geht die Vorstellung, die sich auf die Realität stützt, auch von den Produkten der Vorstellung aus: Wir befinden uns in einer Art Kreis oder eher in einer Spirale?

Die Phantasie als Grundlage aller schöpferischen Tätigkeit manifestiert sich in allen spezifischen Aspekten des kulturellen Lebens. Sie ermöglicht künstlerisches, wissenschaftliches und technisches Schaffen. In diesem Sinne ist alles, was uns umgibt und von Menschenhand geschaffen wurde, das gesamte Universum der Kultur im Gegensatz zum Universum der Natur, das Produkt der Vorstellungskraft und der schöpferischen Tätigkeit des Menschen auf der Grundlage dieser Vorstellungskraft.

Wir haben gesehen, dass in der Adoleszenz eine neue Beziehung zwischen Vorstellungskraft und Denken hergestellt wird, insbesondere dank der Entwicklung der Sprache. Können Sie diese Idee näher erläutern?

Ja, es entwickeln sich beide Prozesse als ein einziger Prozess. Mehr noch, wenn wir uns die Formen der Vorstellungskraft ansehen, die an der schöpferischen Tätigkeit beteiligt sind, sehen wir, dass die Grenze zwischen realistischem Denken und Vorstellungskraft aufgehoben ist. Die Vorstellungskraft ist ein notwendiges, absolut unverzichtbares Element des realistischen Denkens. Ohne ein gewisses Maß an Vorstellungskraft, ohne eine gewisse Flucht aus den verschiedenen, unmittelbaren, konkreten Eindrücken, mit denen wir die Wirklichkeit durch die elementaren Akte unseres Bewusstseins darstellen, ist keine angemessene Erkenntnis der Wirklichkeit möglich. Und doch wäre es ein großer Fehler, sie zu verwechseln und die Unterschiede zwischen ihnen zu ignorieren. Das wesentliche Merkmal der Phantasie ist, dass das Bewusstsein von der Realität abweicht. Die Einbildungskraft ist eine relativ autonome Tätigkeit des Bewusstseins, die darin besteht, sich von der unmittelbaren Kenntnis der Wirklichkeit zu trennen.

Die Möglichkeit des freien Handelns, die mit dem Auftreten des menschlichen Bewusstseins entsteht, ist in der Tat eng mit der Vorstellungskraft verbunden.

Aber besteht dann nicht die Gefahr, den Kontakt zur Realität zu verlieren?

Unterscheidet man zwischen Tagträumen und schöpferischer Vorstellungskraft als zwei grundsätzlich verschiedenen Extremformen der Vorstellungskraft, so wird deutlich, dass die Ausbildung der Vorstellungskraft in der gesamten Kindererziehung nicht nur eine spezifische Form der Entwicklung einer bestimmten Aufgabe ist. Sie hat eine allgemeine Bedeutung, die sich im gesamten menschlichen Verhalten widerspiegelt. Mehr noch, ich möchte sagen, dass diese Frage nach der engen Verbindung zwischen Imagination und realistischem Denken zu einem neuen Problem führt: dem der Freiheit in der menschlichen Tätigkeit, in der Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins. Die Möglichkeit des freien Handelns, die mit dem Auftreten des menschlichen Bewusstseins entsteht, ist in der Tat eng mit der Vorstellungskraft verbunden.

Übersetzung aus dem Französischen: Alain Pichard

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Heinrich Pestalozzi – Pionier der politischen Pädagogik

Ist Pestalozzi in Vergessenheit geraten oder passt er nicht mehr zu unserem Zeitgeist? Hat er uns nichts mehr zu sagen? Haben wir alle seine Hausaufgaben gelöst? Ist die revisionistische Geschichtsschreibung in den pädagogischen Elfenbeintürmen, die neben Pestalozzi u.a. auch die „unwissenschaftlichen“ Lehrerseminare angreift, mehr als blosse Selbsterhöhung? Peter Aebersold sucht die Antworten.

Loblied aufs Mittelmass

Schweizer Schülerinnen und Schüler liegen über dem internationalen Durchschnitt, im Lesen allerdings nur ganz knapp. Ein Viertel versteht einen alltäglichen Text nicht. Das sagt die PISA-Studie. Von der Bildungspolitik hätte man eine Ursachenanalyse erwartet. Doch sie redet die Resultate schön und gibt ihnen das Prädikat «gut» bis «sehr gut». Die Politik betone das Relativierende, sagt Condorcet-Autor Carl Bossard, und negiere das Unerfreuliche, den Trend nach unten in den Kulturtechniken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert