21. November 2024

Plädoyer für eine Kultur jenseits der Erledigungsmentalität

Aus der Leidenschaft für die Welt entstünde die Leidenschaft fürs Pädagogische, meinte die Politphilosophin Hannah Arendt. Diese Haltung kann schulisch viel bewirken. Eine Spurensuche von Condorcet-Autor Carl Bossard.

Carl Bossard: Das “Wie” nicht vegessen!

Ein vergilbter Artikel hat allen Aufräumaktionen getrotzt. Es ist die Geschichte des Tessiner Briefträgers Guerino Saglini. Sein Leben lang hat er für die Post gearbeitet. Was denn einen guten Pöstler ausmache?, fragte ihn die NZZ beim Übertritt in die Pension. „Passione! Leidenschaft!“, sagte Saglini kurz und bündig. Keinen Tag sei er ohne Freude zur Arbeit gegangen, fügte er bescheiden bei.[1]

Im Handeln prägt das Wie jedes Was

Die Leute von Biasca schätzten den Postboten Saglini. Für alle hatte er ein freundliches Wort, ja, er zog vor ihnen sogar seinen Pöstlerhut, verbunden mit einem frohen „buona giornata“. Vielleicht liegt das Geheimnis seines Wirkens im schlichten Satz: „Ich habe diese Arbeit geliebt.“ Während 46 Jahren. Saglini, der Briefträger aus Leidenschaft, wirkte mit seiner Person – mit seiner Art des Tätig-Seins, seiner Denkweise, seiner Sprache.

„Im Handeln prägt das Wie jedes Was.“ Es ist stärker als jedes Was. Der Satz geht auf die politische Denkerin Hannah Arendt zurück. Saglini, der passionierte Pöstler, verteilte Briefe und Zeitungen; das war seine Arbeit, sein tägliches Was. Bei den Menschen von Biasca gewirkt aber hat er mit seinem Wie. Zwischen ihm und seinen Postkunden baute sich darum so etwas wie eine gemeinsame Welt auf.

Hanna Arendt: Im Handeln prägt das “Wie” jedes “Was”

Die Form konstituiert den Inhalt

„Die Welt liegt zwischen den Menschen“, betonte Hannah Arendt, als sie sich 1959 für den renommierten „Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg” bedankte.[2] Und dieses „Zwischen“, so Arendt, sei entscheidend. Hier bilde sich die gemeinsame Welt vieler Menschen in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit.

Und eine gemeinsame Welt bildet sich auch im Unterricht – zwischen den Lehrpersonen und ihren Schülerinnen und Schülern, im Zusammenspiel verschiedener Generationen. Darum ist dieses „Dazwischen“ so wichtig – das Emotionale, das Beziehungshafte, das Dialogische. Es entsteht und besteht in der Art des Handelns, des Denkens und Sprechens, mit der Erwachsene agieren und dabei auf die jungen Menschen wirken. Altmodisch formuliert, könnte man vom halb vergessenen Vorbild sprechen. Unterricht wirkt eben nicht primär über das Was – so grundlegend dieses inhaltliche Was ist – als vielmehr durch das bereits erwähnte Wie des Denkens und Handelns. Die Form konstituiert den Inhalt. Dieser Primat wäre das Prinzip allen pädagogischen Handelns. Ein solches Grundgesetz führt zu einer Kultur jenseits der Erledigungsmentalität.[3]

Und es ist die Person, die im Unterricht wirkt: mit ihrem Engagement, mit ihrer Leidenschaft für die Welt, mit ihrem Feu sacré für die Sache.

Im Wie offenbart sich die Person

Lehrerpersönlichkeit: Kein gebräuchlicher Begriff mehr

Hinter dem Was, hinter den Sachen und Stoffen, hinter den Inhalten, Methoden und Lehrmitteln kann sich ein Lehrer förmlich verstecken. Hinter seine Art zu handeln, sein Wie, aber kann keiner sich zurückziehen. Im Wie zeigt sich die Person. Und es ist die Person, die im Unterricht wirkt: mit ihrem Engagement, mit ihrer Leidenschaft für die Welt, mit ihrem Feu sacré für die Sache – und damit für die Schülerinnen und Schüler. Unterricht hängt eben entscheidend von dem Faktor ab, den eine frühere Literatur „Lehrerpersönlichkeit“ nannte. Die Political Correctness verbietet heute den Ausdruck, und doch trifft er zu. Lehrerinnen und Lehrer bringen ihre Persönlichkeit in den Unterricht ein – und nicht einfach ihr Wissen oder, wie es heute heisst, ihre „professionelle Kompetenz“. Und zu dieser Persönlichkeit bauen die jungen Menschen eine vertrauensvolle Beziehung auf.

„Wenn sie von Formen und Zahlen sprach, glühten ihr die Wangen und funkelten ihr die Augen, wie wenn Kinder von Schokolade-Glace reden.“[4] So erinnert sich eine Berufsfrau an ihre vitale Primarlehrerin. Jahre später noch sieht sie deren Augen und Backen, fühlt die Atmosphäre und spürt die Freude am Lernen, wie sie offen bekennt.

Die begeisternde Lehrperson als Lesevermittlerin

Eine Lehrerin mit einer Leidenschaft für die Unterrichtswelt

Da war eine Lehrerin am Werk mit einer Leidenschaft für die Unterrichtswelt und damit einer Leidenschaft fürs Pädagogische. Wie diese Passion wirken und was sie bewirken kann, zeigt ein zweites Beispiel: Junge Menschen zum Lesen führen und sie fürs Medium Buch gewinnen, gehört heute zu den dringendsten und verantwortungsvollsten Aufgaben einer guten Schule. Der Weg führt über ein angeleitetes, konsequentes Lesetraining und über einen inspirierenden Literaturunterricht. Wie wichtig dabei die Lehrperson ist, betont Prof. Klaus Gattermeier. Er bildet an der Universität Passau Lehrer aus. Es komme, so sagt der deutsche Leseforscher illusionslos, „rein auf die individuellen Fähigkeiten und die

Hingabe bei der Lesevermittlung

Begeisterung des Lehrers an“.[5] In zahlreichen empirischen Studien konnte er seine Aussage nachweisen.[6]

Lehrer als entscheidende Lesevermittler wirken über ihr Vorbild und ihren Enthusiasmus. Es ist das Wie, das über das Was zu einer stabilen, gelebten Lesekompetenz führt.

Effizienz allein ist es nicht

Guerino Saglini, Briefträger aus Passion, ging früher in Pension. Warum? Im Zuge einer Postreform rüffelte ihn ein Inspektor aus Bern. Mit der Stoppuhr erfasste er Saglinis Arbeitsschritte und mass seine Zustelleffizienz. „Vor allen Menschen den Hut ziehen? Das ist [für die Post] zu teuer!“, beschied ihm der Kontrolleur aus der Berner Zentrale. Saglini zog die Konsequenzen; er quittierte seinen Dienst.

Gemäss „Lehrplan 21“ soll sich ja jedes schulisch vermittelte Wissen als ein Können kontrollieren und quantifizieren lassen. Kompetenzraster formulieren die Lerneffekte; sie werden in ein testfähiges Format transferiert und mit den Messmethoden der empirischen Bildungsforschung erfasst.

Das Wie ist durch keine Messbarkeit einzuholen

Peter Bichsel, Schriftsteller: Der Lehrer als Vollzugsbeamter

Gemessen hat der Funktionär einzig das Was, den Output. Das Wie ist nicht quantifizierbar. Wie wichtig dieses Wie ist, weiss jede gute Lehrerin, das hat jeder engagierte Lehrer verinnerlicht. Dieses Wie ist durch keine Messerbarkeit einzuholen, was heute oft vergessen geht. Gemäss „Lehrplan 21“ soll sich ja jedes schulisch vermittelte Wissen als ein Können kontrollieren und quantifizieren lassen. Kompetenzraster formulieren die Lerneffekte; sie werden in ein testfähiges Format transferiert und mit den Messmethoden der empirischen Bildungsforschung erfasst. Die Resultate münden nicht selten in Rankings.

Die Verwaltung hat Saglini auf seine Effizienz reduziert und damit auf sein Was zurückgestuft. Lehrerinnen und Lehrern geht es ähnlich; so sieht es einer, der selber Lehrer war, der Dichter Peter Bichsel. Die Schullehrer seien „schon längst […] zu Bildungsvollzugsbeamten geworden“, bedauert er.[7] Und viele Lehrpersonen müssen ihm wohl recht geben.

 

[1] Ins Licht gerückt: 16 862 Tage für die Post, in: NZZ, 23.08.2007, S. 9.

[2] Reinhard Kahl, Hannah Arendt zum 100. Geburtstag: Ihre Aktualität ist ungebrochen, in: DIE WELT, 10.10.2006.

[3] Vgl. Horst Rumpf (1990), Züge einer Lernkultur jenseits der Erledigungsmentalität. Msc. unpubl.

[4] Stephan Ellinger, Johannes Brunner (2015), Alp-Traumlehrer. Von flüchtigen Fledermäusen und multikulturellen Frohnaturen. Studierende erinnern sich. Teilheim: Gemma-Verlag, S. 75.

[5] Uwe Ebbinghaus, Nehmt die Schüler endlich ernst! In: FAZ, 17.03.2021, p. 9.

[6] Klaus Gattermaier (2003), Literaturunterricht und Lesesozialisation. Eine empirische Untersuchung zum Lese- und Medienverhalten von Schülern und zur lesesozialisatorischen Wirkung ihrer Deutschlehrer. Regensburg: edition vulpes

[7] Peter Bichsel (2015), Kinderarbeit im Bildungsvollzug, in: Ders., Über das Wetter reden. Kolumnen 2012-2015. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 33f.

 

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3 Kommentare

  1. Danke Carl Bossard für diesen Beitrag. Die Lehrer*innen sind zu Bildungsvollzugsbeamten geworden … Dompteure, die in Dressuranstalten den Lernenden beibringen, beim Kompetenznachweis schön Männchen zu machen. Die Misere ist eigentlich schon längst identifiziert und vielfältig dokumentiert, allein wie kommen wir da wieder raus, das wäre die entscheidende Frage.

  2. Diese “Erledigungsmentalität”, die Carl Bossard in seinem eindrücklichen Artikel beschreibt, stelle ich auch bei unseren Schülerinnen und Schülern fest. Zahlreiche und in ihrem Umfang von der Lehrperson gar nicht mehr bewältigbare (sprich zu korrigierende) Arbeitsblätter, die nur nach dem Motto “erledigt” abgehakt werden, mindern den Lerneffekt gewaltig.

  3. Heute weder “feu” noch “sacré”. Dafür mehr “Lohn” und “Ferien”. Die Clichés über Lehrpersonen erhalten leider wieder mehr an Aktualität…

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