22. Dezember 2024
Wolfgang Kühnels Sonntagseinspruch

Warum nicht einfach mehr Mathe am Vormittag unterrichten?

Im seinem neusten Sonntagseinspruch wundert sich Professor Wolfgang Kühnel über den tiefen Graben zwischen Theorie und Praxis bei der Erreichung der Bildungsziele. Und er mokiert sich – aber nur ein wenig.

Liebe Mitstreiter,

ein uraltes Thema bei jeder schulischen Ausbildung ist die Frage danach, wie eigentlich etwas gelernt wird. Beim Sport wird trainiert, beim Instrumentalspiel wird unter Anleitung geübt, wenigstens das kann als halbwegs gesicherte Erkenntnis gelten. Aber wie lernen Kinder in der Schule Lesen, Schreiben, Rechnen? Oder auch Fremdsprachen?

Muss das irgendwie geübt werden, oder sind wir mit moderner Pädagogik und Didaktik darüber hinaus? Schließlich haben wir nicht mehr die schrecklichen “Pauker” aus der wilhelminischen Zeit, sondern Lehrer oder — ganz fortschrittlich — Lernbegleiter.

Täglich 20 Minuten lesen in Hamburg

Weil durch das “Monitoring”, das uns eine neue Bildungswissenschaft in Abstimmung mit der Schuladministration beschert hat, Defizite nicht so leicht zu verstecken sind wie vielleicht früher, wollen die Autoritäten zumindest die Ergebnisse dieses Monitorings verbessern. Bei der Disziplin des Lesens sitzen die Helden der Nation neuerdings in Hamburg, denn in den drei Stadtstaaten waren die Ergebnisse der großen Tests besonders enttäuschend. Aber mit der genialen Idee, dass Grundschulkinder jeden Tag 20 Minuten allein oder auch im Chor lesen sollen, hat man Geschichte geschrieben. Alle sind glücklich, dass dies in Hamburg tatsächlich bei den Tests zu Verbesserungen oder wenigsten keinen weiteren Verschlechterungen geführt hat.

Monitoring macht das Verstecken von Defiziten schwieriger.

Der Multifunktionärs-Professor Becker-Mrotzek (zuständig für Deutsch-Didaktik, Mitglied der SWK) orakelte dazu am 24.11.2022 in einem Interview mit der F.A.Z.:

“Das muss man fortwährend beobachten und dann auch entsprechend üben. Ich glaube, dass das Üben von Lesen und Schreiben zu kurz kommt. Das Üben ist über lange Zeit gerade im Deutschunterricht diskreditiert (!) worden, das ändert sich aber seit einigen Jahren.”

Erfolglose Reformen sind niemals auf Personen zurückzuführen, sie sind gewissermaßen über uns gekommen wie schlechtes Wetter.

 

Die zart angedeutete Schelte seiner Fachkollegen war natürlich nicht so konkret, dass Ross und Reiter genannt würden. Erfolglose Reformen sind niemals auf Personen zurückzuführen, sie sind gewissermaßen über uns gekommen wie schlechtes Wetter. Die Verursacher bekennen auch keine Schuld, so wie oft auch Missetäter unter den Schulkindern. Manche haben dann nicht einmal ein schlechtes Gewissen.

Und vor wenigen Tagen, am 1. August 2024, erschien in der F.A.Z. ein langer Artikel von dem Multifunktionärs-Professor Köller mit der provokativen Überschrift “Lesen üben ja — aber Mathe nicht vergessen”. Da ging natürlich gleich ein kleiner Schock durch alle bildungsbeflissenen Leute, die das lasen. Wie bitte, wir haben Mathe vergessen? Waren die Verantwortlichen derart zerstreut, dass sie einfach die schulische Mathematik aus den Augen verloren haben? Und von den Grundschullehrern bis hinauf zu Leitenden Oberschulräten und zuständigen Staatssekretären und Ministern hat das niemand bemerkt?

Wie bitte, wir haben Mathe vergessen?

Natürlich werden die Schulminister sich verteidigen mit dem Hinweis, dass doch alles genau in den Bildungszielen beschrieben ist. Dort steht normalerweise sinngemäß (hier die Version aus Baden-Württemberg):

“Die Schülerinnen und Schüler können (9) — schriftliche Verfahren der Addition, Subtraktion(Abziehen oder Ergänzen), Multiplikation und Division verstehen, (10) — schriftliche Verfahren der Addition, der Subtraktion, der Multiplikation wie auch der Division und der Division mit Rest geläufig ausführen und anwenden.”

Herr Köller weiß Rat

Großes Rätselraten, warum diese Kompetenzen in den Tests nicht festgestellt werden konnten, wo sie doch amtlich schwarz auf weiß dastehen. Aber Herr Köller weiß Rat, wie immer. Er teilt mit, es gebe “Initiativen und Programme, die vor allem auf die Diagnose und die Förderung  elementarer arithmetischer Kompetenzen zielen.” Mit dem letzteren meint heute die Wissenschaft das, was früher “Grundschulrechnen” genannt wurde. Hingewiesen wird z.B. auf das Programm “Mathe macht stark — Grundschule”, und dazu werden Details mitgeteilt:

“Zu festen Zeitpunkten im Schuljahr müssen gewisse Lernziele (Meilensteine) erreicht sein: dies wird durch eine Lernstandsdiagnostik überprüft. Die Idee folgt dem Konzept des Mastery Learnings: Schüler können erst in einem Fach weiterlernen, wenn sie die dafür notwendigen fachlichen Voraussetzungen erworben haben.”

“Dieses Wissen ist 40 Jahre alt.” Man möchte am liebsten nachfragen: “Und immer noch nicht veraltet?

 

Und ein amerikanischer Psychologe habe herausgefunden: “Stellt die Lehrkraft immer wieder sicher, dass alle Schüler ein Lernziel erreicht haben, bevor sie etwas neues einführt, so ist die Lernrate der Schüler deutlich höher, als wenn sie darauf verzichtet. Werden die Schüler am Nachmittag zusätzlich durch einen Tutor nach dem Konzept des Mastery learning unterrichtet, so verdoppelt sich deren Lernerfolg nochmal.”

Und dann heißt es: “Dieses Wissen ist 40 Jahre alt.” Man möchte am liebsten nachfragen: “Und immer noch nicht veraltet? Und was war zwischendurch?”

Sind das nicht sensationelle Erkenntnisse? Nun, ich bin da vielleicht etwas altmodisch, aber so ähnlich funktionierte doch die Grundschule mal, als ich vor langen Jahrzehnten in der eben derselben als Schüler war. Theoretisch galten diese Lernziele damals für die ganze Klasse, und wer sie nicht erreichte, blieb im Normalfall sitzen. Aber wo bleibt die heute geforderte individuelle Förderung? Hat nicht jeder seine eigenen Lernziele? Diese sind demnächst dann digital erfasst und werden vollautomatisch digital überprüft mit einer Software von ******** (Name als Schleichwerbung gestrichen):

Rechnen retten mit kompletter Digitalisierung?

“Eine Münchener Forschergruppe hat in einer sogenannten Meta-Analyse herausgefunden, dass [digitale] Mathematikprogramme, die zum Üben elementarer Fertigkeiten eingesetzt werden, zu einer deutlichen Leistungssteigerung führen können.” Also: Die Rettung der “elementaren arithmetischen Kompetenzen” kann nur mit konsequenter Digitalisierung der Schulen und entsprechender Software erreicht werden. Allerdings heißt es einschränkend, die Lehrkräfte müssten dann in diesen Dingen erstmal geschult werden, und Hausaufgaben müssten kontrolliert werden. Das erstere ist schon leichter gesagt als getan, und das letztere ist heute — wie man hört — blasse Theorie. Es gibt keine disziplinarischen Möglichkeiten mehr, von Schülern Hausaufgaben zu verlangen, und deshalb werden sie kaum kontrolliert. Manche sagen sogar, Hausaufgaben würden soziale Ungleichheiten verstärken und sollten abgeschafft werden.

Wie ging das nur in der Vor-Computerzeit, was hätte wohl mein alter Grundschullehrer gesagt, wenn man ihm was von diesem “Mastery Learning” erzählt hätte? Er hätte vielleicht wie Obelix gedacht “die spinnen” oder auch “so schlau sind wir doch schon seit langem”.

Der vernachlässigte Nachmittag

Warum es trotz dieser phänomenalen Erkenntnisse “deprimierende Befunde der großen Schulleistungsstudien” gibt, auch darauf weiß Herr Köller eine Antwort. Er nennt unter anderem, “dass es auch innerhalb der Community der Mathematikdidaktik keineswegs Einigkeit darüber gibt, dass die unterrichtsintegrierte Förderung allein nicht ausreicht und man zusätzliche Förderangebote machen muss. Auch ist wenig hilfreich, dass sich die Kultusminister in der Regel nicht so richtig für den Nachmittag  verantwortlich fühlen.”

Da haben wir also die Schurken!! Didaktiker und Kultusminister blockieren einfach die Umsetzung der wunderbaren Erkenntnisse, die die Psychologen seit langem haben. Mehr Psychologen in die Grundschulen! Fazit: Die “unterrichtsintegrierte Förderung” (zu Deutsch: der normale Unterricht) reicht nicht. Die Nachmittagsangebote sind dann vermutlich — wie immer — freiwillig und greifen deshalb auch nicht so richtig.

Einrahmen und aufhängen

Warum nicht einfach mehr Mathe am Vormittag unterrichten? Geht wohl nicht, man hat doch schon kürzen müssen wegen der vielen anderen Dinge, die so wichtig sind. Also wieder mal: Die Theorie ist willig, aber die Praxis ist schwach.

Immerhin sollten wir uns den Slogan “Mathe nicht vergessen” merken und am besten groß eingerahmt überall aufhängen.

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

 

Wolfgang Kühnel ist ein deutscher Mathematiker und emeritierter Professor für Geometrie und Topologie der Universität Stuttgart.

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