Schwab: Mänu, beschreib bitte deine Schüler:innen.
Widmer: Sie sind hilfloser als früher. Heute sagt man «lost». Wir merken in der Mittelstufe, dass der Anspruch auf Selbstständigkeit immer mehr Schüler:innen überfordert. Es beginnt bei kleinen Dingen: Das Kommunikationsheft jeden Tag heim- und wieder zurück in die Schule zu bringen, ist für viele eine Überforderung. Das Material am Morgen aus dem Thek zu nehmen, ins oder aufs Pult zu legen respektive das richtige Material für die erste Lektion bereitzuhalten, überfordert ebenfalls viele. Wenn ich morgens vor meine Klasse stehe, erwarte ich eigentlich, dass die Schüler:innen sich setzen und ruhig sind. Heute kann es fünf Minuten dauern, bis sie meine Erwartungshaltung «Ich würde gerne beginnen» wahrnehmen. Wenn ich dann darauf hinweise, ist das Staunen gross.

Wie steht es um die Konzentrationsfähigkeit?
Ich stelle fest, dass die Merkfähigkeits-Spannzeit abnimmt. Ich sage zum Beispiel einen Test an, und auf den Test hin wird gelernt. Wenn ich diesen nur wenig verschiebe, ist von dem, was wir drei Wochen intensiv miteinander elaboriert haben, fast alles vergessen. Ausgenommen sind einzelne Schüler:innen, die etwas hören und es dann können. Ein immer grösser werdender Teil der Schüler:innen nimmt aber kaum aktiv etwas mit. Unterricht passiert mit ihnen, er ist für sie mehr eine Unterhaltungs- als eine Bildungsveranstaltung. Der Anspruch, den Inhalt eines Texts, den wir gelesen haben, am nächsten Tag noch zu wissen, wird nicht eingelöst. Früher las man das «Kleine Gespenst» mit Drittklässler:innen. Heute verstehen es viele Sechstklässler:innen nicht mehr. Ein Beispiel: An einem Mittwoch machte ich einen Wörtertest. Die Wörter hatten wir am Montag vorher gelesen und darüber gesprochen, was sie bedeuten, sie unterstrichen. Etwa: Ein Gässchen ist eine kleine Gasse. Zum Teil unterstützt mit Bildern aus dem Netz. Im Test haben sechs Schüler:innen angekreuzt, ein Gässchen sei ein Kindertanz in Eulenberg. Im ganzen Buch findet kein Tanz statt. Man hätte auch über logisches Ausschlussverfahren – falls man den Inhalt mitgekriegt hätte – draufkommen können. Solches hinterlässt mich etwas hilflos. Die Schüler:innen wussten ungefähr, welche Wörter ich abfragen würde.
Verhaltensauffälligkeiten nehmen gemäss vielen Rückmeldungen zu. Stimmst du zu?
Ich würde es eher einen Mangel an Umgangsformen nennen. Respekt setzt voraus, dass das Gegenüber gelernt hat, wie man sich anderen Menschen gegenüber verhält. Ich erwarte zum Beispiel, dass wir uns am Morgen grüssen. Wenn ich mittags über den Pausenplatz gehe, grüssen Eltern, die auf ihre Kinder warten, nicht. Zum Teil auch, obwohl ich sie gegrüsst habe. Wie kann ich von Kindern erwarten, dass sie mir gegenüber respektvoll sind, wenn das Modell daheim fehlt, dass man erwachsene Personen grüsst? Ich werfe den Kindern nicht mangelnden Respekt vor, sondern mangelnde Vorbilder gesellschaftlicher Abkommen. Die Kinder können nichts dafür.
Grund Nummer 1 ist ganz klar das Handy und die sozialen Medien. Die Bildschirmzeiten der Kinder sind enorm. Und es ist normal. Für Kinder und Eltern.
Worauf führst du diese Veränderungen zurück?
Grund Nummer 1 ist ganz klar das Handy und die sozialen Medien. Die Bildschirmzeiten der Kinder sind enorm. Und es ist normal. Für Kinder und Eltern. Und es ist normal, dass Eltern keine Ahnung haben, was Kinder auf den Geräten machen, weil sie keine Kenntnis davon haben, was möglich ist. Social-Media-Plattformen sind eigentlich erst ab 13 Jahren legal. Meine Schüler:innen sind noch keine 13. Aber sie haben alles auf ihren Handys: Fortnite, WhatsApp, Brawl Stars … Es passiert einfach, in Unkenntnis der Eltern. Das ist kein Vorwurf, sondern eher ein Warnhinweis. Früher lasen Kinder unerlaubterweise unter der Bettdecke. Heute konsumieren sie de facto eine Droge, weil die Algorithmen der

Karikatur
Apps darauf ausgelegt sind, möglichst lange Bildschirmpräsenz zu erzeugen. Ich stelle mir vor: Ein Kind hat pro Tag ein gewisses Mass an Aufmerksamkeit zur Verfügung. Diese kann es auf verschiedene Bereiche verteilen, auf die Kolleg:innen, auf die Schule, den Fussballclub. Irgendwann ist dieser Aufmerksamkeitsbehälter leer. Ich behaupte, ein Grossteil der täglichen Aufmerksamkeit wird heute vom Handy abgesaugt. Das spüren wir in der Schule brutal. Wir können es weder kontrollieren noch kompensieren. Weg ist weg. All dies ist letztendlich auch auf den Konsum vieler Eltern zurückzuführen. Wir hatten ein Kind mit Verdacht auf Konsum von nicht altersgerechten Games. Der Vater sagte am Elterngespräch: «Nein, nein, mein Sohn sitzt nur auf meinem Schoss und schaut mir beim Gamen zu.» Noch Fragen?
Du hast erwähnt, dass übertriebener Individualismus auch verantwortlich für die Veränderungen sei.
Genau. Das ist eine andere Schiene. Wir dirigieren heute als Lehrpersonen häufig eine ganze Gruppe von kleinen Prinzen und Prinzessinnen. Diese Prinzess:innen haben die Erfahrung gemacht, dass sie an allen Ecken und Enden individuell gefördert werden. Dass man ihnen für jede Ausnahme und jedes Problem jemanden zur Seite stellt, der ihnen zeigt, wie speziell sie sind und dass man an den Spezialitäten arbeiten muss – und man tut es dann auch. Aus der ganzen Individualisierungswelle, die über sie schwappt, resultiert, dass sie den Klassenverband nicht mehr als Gemeinschaft erleben. Ein Wir-Gefühl zu erzeugen, ist heute ein enormer Kraftakt. Die Eltern laufen super mit auf dem Individualisierungstripp. Kinder werden beschützt, umgarnt, umrahmt mit Goldrahmen. Kein Kind darf mehr ohne Helm auf dem Spielplatz spielen, weil etwas geschehen könnte. Kinder werden immer öfter auf dem Pausenhof von den Eltern mit Gipfeli gefüttert. 3.- oder 4.-Klässler:innen dürfen den Schulweg nicht alleine bewältigen. Die Kinder empfinden das nicht als Einschränkung, sondern als Lobpreisung ihrer Individualität.
Ich glaube, wir kommen nicht darum herum, von der Individualisierung wieder ein Stück wegzukommen.
Und: Wenn wir ihnen in der Schule nicht persönlich «chüderlen», kommt auch nicht viel zurück, weil sie das jetzt gar nicht mehr verstehen.
Es ploppen immer neue Ideen und Modelle auf, mit Vorschlägen, wie die Schule auf diese Entwicklung reagieren könnte. Es sind auch gute Geschäftsmodelle. Was hältst du davon?

Ich glaube, wir kommen nicht darum herum, von der Individualisierung wieder ein Stück wegzukommen, zugunsten eines Wir-Gefühls, damit Kinder sich wieder als Klasse, als Gruppe verstehen, um zusammenarbeiten zu können. Gruppenarbeiten laufen heute häufig so, dass man Gruppen bildet, danach sitzen die Schüler:innen zu dritt an ein Pult und jede:r arbeitet für sich. Kein Vorwurf an die Kinder. Sie lernen es nicht mehr anders.
Wie kommen wir vom Zuviel an Individualismus weg?
Wir müssen ganz, ganz unten beginnen. Vor dem Kindergarten. Im Frühbereich. Und wir müssen etwas tun, das man nicht gerne hört. Nämlich: Dort, wo wir merken, dass die Defizite aufploppen, handeln und sagen, über welche Skills Kinder für den Eintritt in den Kindergarten verfügen müssen – und sie ausbilden.
Das heisst, wir müssen Standards definieren. Das können einfache Standards sein.Beispiel: Wir erwarten von einem Kind, dass es grüssen, danken, Bitte sagen kann, dass es einen Purzelbaum machen kann, dass es Grundkenntnisse einer Sprache hat, die ermöglichen, dass es sich mit anderen austauschen kann. Und: Wir erwarten, dass es einen Grundknigge an Verhaltensweisen mitbringt.
Kinder erhalten heute, was sie wollen. Sofortige Bedürfnisbefriedigung wird von vielen Eltern mit Liebe gleichgesetzt, was grundfalsch ist. Denn, wenn du dein Kind liebst, forderst du es heraus, erzeugst du Widerstand, an dem es sich reiben und wachsen kann. Heute fehlt die Widerstandserzeugung. Wir müssen dann als «böse» Institution Schule Widerstand bieten, an dem Kinder sich reiben und wachsen können.
Dies müssen wir möglichst früh klarmachen. Wir können nicht den Lehrpersonen im Kindergarten den Auftrag geben, die Grundskills mit den Kindern zu üben. Das wäre eine Überforderung, weil sie diese 1:1 mit einer Mehrheit der Kinder üben müssten.
Also gibt man die Verantwortung an die Eltern zurück?
Nein, wir brauchen mehr frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Es gibt bereits Initiativen, die funktionieren und Erfolge erzielen. In der Stadt Bern z. B. Primano. Nachteil: Primano ist freiwillig. Diejenigen, die es am nötigsten hätten, erreichen wir nicht. Früher oder später kommen wir daher nicht um Zwangselemente herum. Wir müssen schauen, wo die Kinder stehen, bevor sie den Kindergarten besuchen, und dann Defizite verpflichtend aufarbeiten.
Angenommen, du würdest vom Kanton als Minister zur Rettung der Schule angestellt. Was würdest du tun? Ressourcen spielen keine Rolle.

Wegrennen (lacht). Ich würde schauen, welche Konzepte von nicht ganz freiwilliger Frühförderung es bereits gibt, mit denen man arbeiten könnte. Ein verpflichtendes Moment wäre nötig. Wir haben immer Angst vor Verpflichtung, weil sie scheinbar einschränkt. Aber noch einmal: Der Mensch entwickelt sich nicht, wenn wir nur sagen: «Ja, es ist halt seine Eigenheit, wir müssen sie akzeptieren.» Wir müssen schauen, welchen Konsens an Grundfähigkeiten wir finden, die alle Kinder mitbringen müssten und wie wir dorthin kommen. Folgende Frage müssten wir beantworten: «Welche Form von Druck können wir erzeugen, damit wir den Kindern die Chance geben, die Veranstaltung Schule als positiv zu erleben, und sie am Schluss mit einem guten Rucksack fürs Leben rauskommen?»
Die Bewältigung vieler Herausforderungen delegiert die Gesellschaft an die Schule …
Ja, was sie nicht auf die Reihe bringt, soll die Schule machen. Klar, wir machen das gerne. Im Gegenzug möchte ich als Profi gesehen und verstanden werden. Das ist wieder so eine Diskrepanz: Man erwartet wahnsinnig viel von uns. Die Eltern sehen mich zwar als Lehrer, aber nicht als Profi für das, was ich tue. Das spürt man nirgends besser als während der Übertritts-gespräche. Ich wünsche mir, dass das Professionalitätsverständnis, das man einem Pilot entgegenbringt, auch für Lehrpersonen gilt. Wir geben uns, wenn wir fliegen, in die Hände der Pilotin. Ich würde gerne erfahren, dass man Kinder in unsere Hände gibt, mit dem Verständnis, dass es Profihände sind. Wir Fachpersonen der Bildung kümmern uns bestmöglich um das Kind. Das bedeutet, die Eltern müssten auch ein wenig loslassen und nicht mit Helikopter oder U-Boot dauernd um die Schule kreisen und eingreifen, wenn etwas grad nicht passt. Fixfertige Lösungen habe ich nicht. Es gibt aber mögliche Wege, die man gemeinsam beschreiten könnte, um funktionierende Lösungen zu entwickeln. Ohne Zwang geht es nicht.
Apropos Zwang: Du kannst dir vorstellen, die Handys aus der Schule zu verbannen?
Wenn wir davon ausgehen, dass viele Defizite im Zusammenhang mit dem unkontrollierten Konsum von nicht altersgerechtem Digitalem entstehen und man ihnen entgegenwirken will, müssen wir uns überlegen, wie wir damit umgehen, dass die Kinder schon ganz früh mit Digitalität konfrontiert sind. Wir müssten Lösungen suchen, wie wir die Digitalität in gesunde Bahnen kanalisieren könnten. Wohlverstanden: Ich bin überhaupt nicht der Typ, der die Digitalisierung ablehnt. Im Gegenteil. Aber ich möchte gerne Regeln aufstellen, die den Kindern wieder eine Chance geben, damit nicht das Handy auf sie aufpasst und ihr dauernder Begleiter ist, sondern damit jemand da ist, der Konsum und Produktivität auf den Geräten steuert und sagt, wohin man damit gehen will.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es hilfreich wäre, zu sagen: Die Geräte haben in der Schule – ausser sie werden im Unterricht gebraucht und die Lehrpersonen setzen sie pädagogisch sinnvoll ein – nichtS zu suchen. Kinder müssen lernen, auszuhalten, ohne diese Sauger und Spreader auszukommen. Man kann es mit einer Form von kaltem Entzug vergleichen, den die Schule begleitet und sagt: Bei uns findet das nicht statt. Schüler:innen können unter Anleitung das iPad brauchen, sie lernen in Medien und Informatik, wie sie mit der Informationsflut umgehen können, aber das Handy bleibt daheim und nicht ausgeschaltet in der Hosentasche.
Das Interview führt Franziska Schwab,
Dazu passt, was Paul Collier in seinem Buch „Sozialer Kapitalismus!“ (2019) für’s Gesellschaftliche insgesamt festgestellt hat: „Das Narrativ des Individualismus,des persönlichen Vorankommens, hat uns enorm geschadet.“
Interessant: “In der Ausgabe 4 der Berner Schule im Jahr 2022 schrieb Franziska Schwab folgenden Satz: Individuelle Förderung, Entscheidungsspielräume, Partizipation und kooperative Lernformen wirken sich positiv auf die Motivation und das Wohlbefinden aller Lernenden aus.”
Drei Jahre später ist sie sich mit Herrn Widmer offensichtlich einig, dass man mit dem Individualisieren zurückfahren müsse. Eine Entwicklung, die ich auch bei der PH-Bern beachte.