Im Kanton Basel-Stadt, dieser vermeintlichen Insel der Glückseligkeit, wo alle Probleme scheinbar störungsfrei gelöst werden können, dank des schier unendlichen Ideenreichtums unserer Politiker – oder, etwas weniger romantisch, mit immer noch viel mehr Steuergeld –, gibt man sich gern Illusionen hin.
Wohin das führen kann, lässt sich am Zustand der Basler Schulen, leider, ganz hervorragend aufzeigen. Obschon sie sich so rühmen für ihren integrativen Charakter, den man unbedingt beibehalten will, egal, wie gross die Kritik ist, wie miserabel das Ergebnis.
Die Basler Schüler sind gemäss Bundesamt für Statistik pro Kopf die teuersten im kantonalen Vergleich – und, quasi als Dank dafür, auch die schlechtesten schweizweit. Der Stadtkanton leistet sich dennoch eine Mega-Maturitätsquote (2023: 35,5 Prozent); mit dem Ergebnis, dass die meisten Studienabbrecher – Überraschung, Überraschung – in Basler Gymnasien ausgebildet worden sind.
Und die Misere beginnt schon viel früher: Fast die Hälfte der Dreijährigen muss in die Frühförderung, weil sie kaum (oder kein) Deutsch sprechen. Dass gefühlt jedem Kind noch die eine oder andere Verhaltensauffälligkeit, eine Lernschwäche, eine kognitive Störung diagnostiziert wird: Es passt zum pitoyablen Zustand der Basler Bildungsinstitutionen.
Grenzen des Systems
Ein Vergleich: Während heute die meisten Kinder ein Sondersetting haben, konnten gemäss Bildungsbericht 2010 noch 93 Prozent in einer Regelklasse unterrichtet werden. Nur 7 Prozent wurden in eine Kleinklasse, Sonderschule oder Einführungsklasse eingeteilt.
Gewiss, dieses Malaise ist nicht die alleinige Schuld des Erziehungsdepartements (ED) und dessen Vorstehers Conradin Cramer, aber wie darauf zu reagieren ist: Das liegt durchaus in der Verantwortung des LDP-Regierungsrats.
Und Cramer hat es ja in der BaZ im September selbst gesagt: “Wir müssen handeln. Und zwar schnell.”
Darum hat er diese Woche ein grosses «Massnahmenpaket zur Verbesserung der integrativen Schule» präsentiert. Für 13,7 Millionen zusätzliche Franken im Jahr will das ED für die Primarschulen “teilseparative” Angebote schaffen und auch bisherige Instrumente weiter ausbauen. Weil auch er zugibt, dass das jetzige System «an Grenzen gestossen» ist.
Pflästerlipolitik
Fördergruppen sollen etwa neu dazukommen, mit einer maximalen Anzahl von 12 Schülerinnen und Schülern, die bei Lernschwierigkeiten partiell aus der Klasse herausgenommen werden – den Rest der Zeit jedoch in ihrem angestammten Verbund verbleiben können. Zudem soll es Lerninseln geben, also kürzere Time-outs von der Klasse, und die Förderung von Psychomotorik, Logopädie und des Zentrums für Frühförderung sollen ausgebaut werden.
Das ist jedoch nur Pflästerlipolitik, eine kostspielige noch dazu. Weil sich das ED offensichtlich keine Systemabkehr vorstellen kann. Und obschon mit der Förderklasseninitiative, die mehr Separation fordert, eine Volksabstimmung zustande gekommen ist, die Cramer gern zurückgezogen sähe. Die wichtigste Forderung der Initianten – eben: die Förderklassen – kommt in seinem Massnahmenpaket nicht vor.
Das ist ein Versäumnis, weil es so ein Paket bleibt, das mehr vom Immergleichen bietet für immer noch mehr Geld.
“Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische. Das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.”
Christine Staehelin, Lehrerin
Das Chaos wird bestehen bleiben, wenn viele Schüler ständig die Klasse verlassen, in Fördergruppen gehen müssen und auf Lerninseln verteilt werden, in die Logopädie, in die Psychomotorik. Es entsteht eine Unruhe, Lärm, Stress – und wohl auch bei den Kindern das Gefühl, dass sie den Ansprüchen in einer “normalen” Klasse nicht genügen. Ist ihnen damit wirklich geholfen? (Wer diese Settings braucht, soll sie selbstverständlich erhalten, aber nicht während des regulären Unterrichts.)
Das Gegenteil der Absicht bewirkt
Die erfahrene Lehrerin Christine Staehelin, seit 36 Jahren im Beruf, hat es in der BaZ zuletzt auf den Punkt gebracht: “Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische. Das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.”
Damit hat die sogenannte integrative Schule das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt, wie Staehelin schlussfolgert, sie ist nicht für alle da, sondern für immer weniger, denn immer mehr Kinder brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.
Es ist ein Gang in die Individualisierung, in die Isolierung auch. Staehelin, die Frontfrau, nennt diesen Zustand mittlerweile “tragisch”, die “oberflächlichen Reformen”, die die heutige Lage verursacht hätten, hätten “das Selbstverständnis der Schule erschüttert”.
Christine Staehelin hat recht
Wie kann ein Primarschüler, gerade ein schulisch schwacher, nicht verzweifeln, wenn er ständig das Klassenzimmer wechseln muss, immer andere Fächer unterrichtet bekommt als seine Gspänli? Soll er sich mit acht Jahren schon selbst organisieren?
Und wie sollen die Lehrpersonen das managen? Mit einer voluminösen HR-Abteilung wie in einem Grossunternehmen? Das System wankt schon jetzt, mit einer weiteren Verästelung wird es kollabieren.
Es ist deshalb entscheidend, dass das Komitee der Förderklasseninitiative standhaft bleibt und nicht von der Hauptforderung – separative Förderklassen – abweicht. Vor allem noch nicht jetzt, bevor überhaupt die politische Debatte im Grossen Rat stattgefunden hat. Da ist insbesondere die Freiwillige Schulsynode, die Basler Lehrergewerkschaft, gefordert. Auch das Parlament muss genau hinsehen. Es ist begrüssenswert, dass die FDP bereits öffentlich den Vorschlag Cramers kritisiert hat.
Neuerliches Schreibtischwerk
Das ist die nötige Aussensicht, aber man müsste den Technokraten im ED noch viel mehr auf die Finger schauen. Das Massnahmenpaket ist ein neuerliches Schreibtischwerk, auch wenn Cramer das Gegenteil behauptet.
Ein passendes Beispiel dafür hat in dieser Woche Gaby Hintermann, Leiterin Primarschulen im ED, vor der Presse geliefert. Sie nennt die Lerninseln ein “heil- und sozialpädagogisches Angebot”, wo Kinder eine “Auszeit” erhalten, um “eine Krise lösen zu können”, ein “Ventil” also, bevor sie wieder in die Stammklasse zurückkehren können. Diese Inseln seien weiter “keine Bedrohung für Eltern und Kinder”, sondern ein “Rückzugsort”.
Muss man sich da wundern, wenn Kritiker nicht mehr von einer Schule als Hort des Lehrens und Lernens sprechen, sondern von einer Therapieanstalt?
Es braucht deswegen fixe Schulklassen, mit einer Lehrerin als Chefin. Für eine Mehrheit wird das noch immer die Regelklasse sein. Wer jedoch in einer solchen überfordert ist, soll künftig – wie von der Initiative gefordert – in eine Förderklasse gehen, wo man dem Potenzial entsprechend gefördert und gefordert wird. Aber eben nicht überfordert.