Charlotte Weber kennt das Problem von sich selbst. Immer wieder greift die Grafikerin zum Handy, obwohl sie doch am Computer sitzt, um endlich eine Präsentation fertigzustellen. Genauso geht es ihren Söhnen Kasper, 11, und Friedo, 15, bei den Hausaufgaben. “Der Kleine hat sich ganz gut im Griff”, sagt Weber, “aber der Große ist richtig abhängig vom Handy, ständig piepst es, wenn auf TikTok ein neues Video angepriesen wird oder auf Snapchat wieder jemand eine Nachricht geschickt hat.”
Weber spricht mit ihrem älteren Sohn auf Augenhöhe, sie ist keine Freundin von Verboten. Aber das Handy nimmt sie ihm während der Hausaufgaben nun doch ab, schließlich macht Kasper dieses Jahr seinen mittleren Schulabschluss – hoffentlich.
Das Phänomen, das Weber beobachtet hat, ist wissenschaftlich belegt: Je näher das Handy dem Menschen ist, egal ob ein- oder ausgeschaltet, desto mehr nehmen Konzentration und Leistungsfähigkeit ab.
Erforscht hat das 2017 der Psychologe Adrian Ward von der University of Texas in Austin. Er führte Studien mit Erwachsenen in drei verschiedenen Settings durch: eine Gruppe mit stumm geschaltetem und umgedrehten Smartphone auf dem Tisch, die zweite hatte das Handy in der Tasche, und eine dritte musste das Gerät abgeben. Dann sollten die Teilnehmer Aufgaben erledigen: zur Aufmerksamkeit (Fragen zu einem zuvor angesehenen Video beantworten), zum Erinnerungsvermögen (sich an fünf Wörter erinnern, die drei Minuten zuvor genannt wurden) und zur kognitiven Leistung.
Gruppe ohne Handy schneidet in Studien deutlich besser ab
Bei leichten Übungen wie Buchstabieren konnte keine große Abweichung zwischen den drei Gruppen festgestellt werden. Anders sah es bei komplexeren Tests aus wie der Lösung einer mathematischen Gleichung oder dem Lesen eines Textes, den die Probanden zusammenfassen sollten. Hierbei schnitt Gruppe drei ohne Handy deutlich besser ab. Je weiter das Handy entfernt lag, desto besser wurden die Leistungen. In einem zweiten Durchgang wurden die Handys ausgeschaltet. Dennoch schnitten die Teilnehmer mit dem Smartphone neben sich am schlechtesten ab.
“Die Studie von Ward ist eine der meistzitierten zum Thema Digitalisierung”, sagt Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, der mit seinem Team jetzt die Ergebnisse dieser Untersuchung überprüft und mit 22 anderen verglichen hat: “Das Ergebnis bleibt klar: Alleine die Anwesenheit des Smartphones reduziert sowohl Aufmerksamkeit als auch Gedächtnisleistung.” Bei Zierers Metastudie hat sich vor allem folgender Zusammenhang erhärtet: je komplexer die Aufgabe, desto größer die Ablenkung durch das Handy.
“Das Ergebnis bleibt klar: Alleine die Anwesenheit des Smartphones reduziert sowohl Aufmerksamkeit als auch Gedächtnisleistung.”
Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg
Ein problematisches Zusammenspiel vor allem für Heranwachsende, zumal laut einer gerade veröffentlichten repräsentativen Umfrage der Krankenkasse Pronova BKK Kinder ab zehn Jahren mehr Zeit an elektronischen Geräten verbringen als mit analogen Freizeitaktivitäten. Teenager zwischen 14 und 17 Jahren sitzen wöchentlich 15 Stunden vor Bildschirmen, schon Kleinkinder konsumieren mehr als vier Stunden digitale Medien pro Woche.
CDU plädiert jetzt für Handyverbote
Daher gelten in vielen europäischen Ländern restriktive Regeln. In Frankreich haben Schüler unter 15 Jahren in der Schule Handyverbot. Auch in den Niederlanden soll es vom kommenden Jahr an keine Handys mehr im Klassenzimmer geben. Schweden gehörte einst zu den ersten Ländern, die digitalen Unterricht schon in der Grundschule einführten. Nun gibt es eine Kurskorrektur: Digitales Lernen ist für die Kleinsten wieder gestrichen, noch in diesem Jahr sollen für 60 Millionen Euro zusätzlich Schulbücher angeschafft werden. Eine Studie hatte ergeben, dass die Lesekompetenz der Viertklässler seit der Einführung von Tablets gesunken war.
In Deutschland können die Schulen bislang selbst über den Umgang mit Handys entscheiden. Nun plädiert die CDU für ein Verbot, der Bundesvorstand hat dazu jüngst ein Positionspapier verabschiedet. Darin wird gefordert, in Grundschulen “ein privates Handynutzungsverbot umzusetzen”. An weiterführenden Schulen seien “Maßnahmen zu ergreifen, um eine private Handynutzung im Unterricht auszuschließen”.
Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer begrüßt die Pläne. “Ein Smartphone hat in der Grundschule nichts verloren”, sagt der Professor von der Universität Augsburg. “Was soll ein Grundschüler mit einem Smartphone anstellen, was er nicht anders besser erledigen könnte?”
“Wenn 25 Prozent der Erstklässler in Stuttgart nicht mehr hüpfen können, 25 Prozent der Viertklässler am Schuljahresende nicht lesen können, und die Konzentrations- und Empathiefähigkeit von Jugendlichen mit zunehmendem Medienkonsum abnehmen – all das sind publizierte Fakten – dann wird es höchste Zeit, etwas zu ändern.”
Neurowissenschaftler Manfred Spitzer
Wenn es darum gehe, in Kontakt zu bleiben, reiche ein Tastentelefon völlig aus. Zierer rät: “Ich würde sogar ein Verbot für die erste Sekundarstufe, also bis Klasse zehn, für sinnvoll halten.” Danach könne man schrittweise den Gebrauch von Smartphones öffnen, aber nur reguliert und begleitet. “Das Ziel ist ja, den Jugendlichen Reflexion beizubringen: Was macht der Gebrauch mit meinem Kommunikationsverhalten? Kann ich allen Informationen hier vertrauen? Entscheide ich mich, bestimmte Inhalte nicht anzuklicken oder zu blockieren?”
Kinder drohen, Impulskontrolle nicht zu erlernen
Nötig ist dafür die Fähigkeit zur Impulskontrolle. Diese jedoch entstehe durch das Zusammenspiel vieler Gehirnregionen und entwickele sich bis ins dritte Lebensjahrzehnt, sagt Neurowissenschaftler Manfred Spitzer. “Impulskontrolle und Emotionskontrolle sind grundlegende Funktionen, die in tausendfachen kleinen Begegnungen und Handlungen gelernt werden müssen und können, wofür ‘dank’ Smartphone weniger Gelegenheit ist”, erklärt der Psychiater.
Gerade bei Kindern und Jugendlichen dürften daher reale Kontakte nicht durch Onlinezeit ersetzt werden, weil genau diese Lernprozesse sonst weniger stattfänden. “Wenn 25 Prozent der Erstklässler in Stuttgart nicht mehr hüpfen können, 25 Prozent der Viertklässler am Schuljahresende nicht lesen können, und die Konzentrations- und Empathiefähigkeit von Jugendlichen mit zunehmendem Medienkonsum abnehmen – all das sind publizierte Fakten – dann wird es höchste Zeit, etwas zu ändern”, sagt Spitzer, der das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen an der Universitätsklinik Ulm leitet.
Gerade die Verwendung von Bildschirmmedien in der frühen Kindheit beeinträchtige die Entwicklung des Vorstellungsvermögens. “Damit werden Kreativität und eigenständige Willensbildung auf lange Sicht beeinträchtigt”, warnt Spitzer. “Nimmt man alles zusammen, lässt sich kaum etwas Schädlicheres für die kindliche Entwicklung denken als die Digitalisierung der Kindheit.”
Die meisten Landesbildungsminister scheinen anderer Meinung zu sein. Bayern etwa kündigte jüngst an, bis 2028 jeden Schüler mit einem Tablet auszustatten. “Wenn es unser Ziel ist, dass Schreiben und Sprechen irgendwann Computer für uns übernehmen, ist das eine sinnvolle Maßnahme”, sagt Pädagoge Zierer. “Wenn das aber nicht unser Ziel ist, müssen wir naturgemäß in andere Dinge investieren.”