21. November 2024
Wolfgang Kühnels Sonntagseinspruch

Trotz “Outputorientierung” – keine Wirkung

In seinem achten Sonntagseinspruch für den Condorcet-Blog beschäftigt sich Professor Wolfgang Kühnel mit den Mathematik-Kenntnissen der angehenden Studentinnen und Studenten in den Mint-Fächern. Kein neues Thema, aber die kursierenden Vorschläge, wie man aus dieser Misere herauskommt, werden von Professor Kuehnel in bekannter Manier seziert.

Liebe Condorcet-Leserinnen und –Leser,

Heute geht es mal um die Mathematik, dieses Thema liegt mir besonders am Herzen. Schon länger wurde an Hochschulen übereinstimmend  festgestellt, dass die Erstsemestler in den MINT-Fächern weniger werden und dann auch noch massive Defizite bei ihren Kenntnissen der sogenannten “Schulmathematik” zeigen. Was Schulmathematik genau ist, steht in Deutschland heutzutage in den KMK-Bildungsstandards (die auch vielfach kritisiert werden).

Prof. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Wie bekommt man mit massiven Wissenslücken ein Abitur?

Aber wenn nur alle Abiturienten diese beherrschten, dann wäre die Situation immerhin weniger schlecht. So aber ist schon die Bruchrechnung (üblicherweise im 6. Schuljahr zu behandeln) ein Problem, der Dreisatz und Termumformungen auch und etliches mehr.

Die drei Fachkollegen V.Bach, A.Krieg (Prorektor Lehre an der RWTH Aachen) und R. Seiler haben nun in der F.A.Z einen radikalen Vorschlag unterbreitet, wie man dieses Problem angehen sollte:

https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/vorbereitende-mathe-kurse-gegen-fallende-mint-studentenzahlen-18980428.html

Ich werde die entscheidenden Passagen wörtlich zitieren. Am Anfang gibt man sich einsichtig und stellt fest: “Wissenslücken, die sich in der Schule über viele Jahre zu Lerndefiziten aufbauen, sind schwer aufzuholen. Mathematikdozenten identifizieren insbesondere einen Mangel an Grundfertigkeiten, wie Bruchrechnung oder Termumformungen, als zentrales Problem.”

Das klingt eigentlich danach, als müssten die Schulen dem gegensteuern. Schließlich hat man ja offiziell eine “Outputorientierung”, also müsste der “Output” bei den Schülern verbessert werden, eben damit sich die Wissenslücken nicht über Jahre aufbauen. Unbeantwortet bleibt die Frage:

Wie bekommt man mit massiven Wissenslücken ein Abitur?

Abiturientenquote: In den letzten 50 Jahren von 15 Prozent auf 40 Prozent gestiegen.

Aber weiter heißt es: “die angewachsene Abiturientenquote, die in den letzten 50 Jahren von 15 Prozent auf 40 Prozent der Schülerschaft gestiegen ist, hat zu einer geringeren Selektion geführt. Sie ist eine wesentliche Ursache der Probleme.”

Tja, aber wann wurden denn die “outputorientierten  KMK-Bildungsstandards” eingeführt? Doch nicht vor 50, sondern vor 20 Jahren, die KMK-Abiturstandards für Mathematik erst am 18.10.2012, die waren doch auf die Abiturquote von 2012 ausgelegt, und in 10 Jahren stieg die nicht so gewaltig.

Das ist schon der erste Punkt an Unlogik, weitere werden folgen.

Kurz darauf heißt es: “Kultusministerien und Lehrkräfte an Schulen bestehen darauf, dass Hochschulen nicht mehr Vorkenntnisse von Studienanfängern fordern dürften, als in den KMK-Bildungsstandards vorgesehen ist.”

Seit wann bestimmen denn Kultusministerien und “Lehrkräfte an Schulen” darüber, was Hochschulen verlangen dürfen? Das ist der zweite Punkt an Unlogik. Und selbst wenn man dies akzeptierte, dann dürften die Hochschulen doch wenigstens die offiziellen Bildungsziele verlangen. Die aber kommen nicht in den Köpfen der Abiturienten an, ohne dass das je von den schulischen Autoritäten zugegeben wird, ein dritter Punkt an Unlogik.

Parteipolitiker verkünden eine “exzellente Bildung”, die unsere Schulen in der “Bildungsrepublik” vermitteln sollen. Aber man  kapituliert offenbar schon davor, dass die “verbindlich” gelehrte Bruchrechnung einfach nicht in den Köpfen ankommt.

Dabei wurden diese KMK-Bildungsstandards von ihren Befürwortern hoch gelobt, endlich sei das mal bundeseinheitlich formuliert und zudem auch verbindlich” und eben “outputorientiert” statt — wie vorher — “inputorientiert”.

Parteipolitiker verkünden eine “exzellente Bildung”, die unsere Schulen in der “Bildungsrepublik” vermitteln sollen. Aber man  kapituliert offenbar schon davor, dass die “verbindlich” gelehrte Bruchrechnung einfach nicht in den Köpfen ankommt.

Weil die Misere sich ja schon vor Jahrzehnten als “schwarze Wolke am Horizont” abzeichnete, hat man allerorten sogenannte “Vor- und Brückenkurse” eingerichtet, die früher mal die Inhalte vermittelten, die im Schulunterricht oft nichtvorkamen, aber z.B. im Mathematik- oder Physikstudium erwartet wurden. Heute versuchen diese Kurse — salopp gesagt — im Durchlauferhitzerverfahren den Studienanfängern das einzutrichtern, was die eigentlich in 12-13 Jahren in der Schule hätten lernen sollen. Dass es ohne diese Kurse nicht mehr geht, ist schon länger allgemeine Überzeugung, es gibt schon dicke Bücher dazu, siehe:

https://www.mathematik.de/dmv-blog/376-ein-buch-zum-uebergang-schule-hochschule-versuch-einer-rezension

Mathematik-Defizite an den Unis machen Vorkurse nötig

Aber die Wirkung dieser Kurse scheint auch begrenzt zu sein. “Sofern kein Mangel an Studienplätzen einen Numerus Clausus erfordert, dürften folglich weder Eignungsprüfungen noch andere Auswahlverfahren vor Studienbeginn stattfinden. Außerdem dürfen keine Vorleistungen wie das Absolvieren von Vorkursen verpflichtend sein.”

Das ist der vierte Punkt an Unlogik: Die KMK-Bildungsstandards dürfte man ja ohne “wenn und aber” voraussetzen, und wenn man dann so freundlich ist, deren Wiederholung in Vorkursen gesondert anzubieten, dann kann es dennoch den armen Studenten nicht zugemutet werden, das auch wahrzunehmen, falls nötig?

Das setzt dem dann noch die Krone auf, die Mathematik in den MINT-Studiengängen soll entfachlicht werden, nur weil die Schulen wegen der dortigen Entfachlichung es nicht schaffen, die “neue” Schulmathematik nach TIMSS und PISA auch zu vermitteln.

Das verstehe wer will. Heute liegen in Deutschland zwischen Abitur und Vorlesungsbeginn meist etwa vier Monate (Juni bis Oktober).

Ich bin damals ohne jeden Vorkurs an die Universität gegangen, aber in dem Bewusstsein, dass das kein bequemer Spaziergang wird. Jeder darf sich ja jederzeit auch auf eigene Faust vorbereiten und sich das ansehen, was ihm vielleicht fehlen könnte.

Der Lehrplan wird de facto ausgehebelt.

Und in Zeiten des Internets gilt das natürlich erst recht, also gibt’s jetzt auch Online-Brückenkurse, aber auch deren Inhalt darf offenbar nicht verpflichtend verlangt werden. Im Gegenteil, es folgt eine Feststellung der drei Autoren, die den Spruch “Ich glaub’, mich tritt ein Pferd” rechtfertigen könnte:

“Vor- und Orientierungskurse an Hochschulen sollten fest im regulären Studium integriert werden, einschließlich Noten und Kreditpunkten, selbst wenn sie bereits im Lehrplan vorgesehene Schulinhalte wiederholen.”

Das ist der fünfte Punkt an Unlogik. Der Lehrplan wird de facto ausgehebelt, und noch mehr: Dieser Satz dokumentiert das ultimative Scheitern einer Schulmathematik, die doch nach TIMSS und PISA im großen Stil verändert und “modernisiert” wurde, um die “Herausforderungen des 21. Jahrhundertes meistern zu können”.

Für das Beherrschen der Schulmathematik bekommt man Schulnoten und schließlich ein Abitur, und für dieselben Inhalte gibt’s dann an den Hochschulen weitere Noten und ECTS-Leistungspunkte. Und zusätzlich ist das gegenüber den Inhalten von Schulbüchern der Zeit vor 50 Jahren ohnehin stark abgespeckt.

“Um dies in das Studium einzubinden, könnte es erforderlich sein, einige fortgeschrittene Lehrveranstaltungen zu streichen.”

Das setzt dem dann noch die Krone auf, die Mathematik in den MINT-Studiengängen soll entfachlicht werden, nur weil die Schulen wegen der dortigen Entfachlichung es nicht schaffen, die “neue” Schulmathematik nach TIMSS und PISA auch zu vermitteln.

Den von den drei Autoren als “hochwertig” empfohlenen (und wohl sogar verfassten) Online-Brückenkurs OMB+ kann jeder ohne Anmeldung komplett ansehen, siehe:

https://www.ombplus.de/ombplus/public/index.html

Das ist Niveaulimbo

Dann oben auf “Direkt zum Kurs” klicken, da kann man alle Kapitel einzeln anklicken und auch herunterladen, zusammen sind das über 1000 Seiten.Es werden auch Themen behandelt, die üblicherweise kurz nach der Grundschule drankommen, etwa “wie verwandelt man einen Bruch in einen Dezimalbruch oder umgekehrt”. Die Multiplikation und Division zweier reeller Zahlen dagegen wird nicht erklärt, sie ist wohl zu schwierig und in Zeiten des Taschenrechners auch entbehrlich. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung ist auf das Niveau von Schulbüchern reduziert, und die Ableitung der Sinusfunktion wird nur mit einem Bildchen begründet, so wie heute in Schulbüchern üblich. Das fachliche Niveau von OMB+ ist ausgesprochen niedrig, viele Rechenaufgaben, “Mathematik für Dummies” mit dem “Niveaulimbo” (neudeutsch) jetzt auch an der Universität.

Aber es kommen ja noch allzu-menschliche Probleme hinzu.

Tatsächlich beklagen auch die Autoren: “Der Übergang von der Schule in die Hochschule verlangt von Studenten einen Sprung in die Eigenverantwortlichkeit, die viele überfordert.”

Da kommen einem ja die Tränen, andererseits war genau dies schon immer so, seit es Universitäten gibt. Spott über die Bummelstudenten, die eigentlich gar nicht studieren, sondern sich amüsieren, gab es in den letzten 200 Jahren schon reichlich.

Hier ein Witz aus einem Satireblättchen der Zeit um 1900:

“Jemand sucht in einer fremden Stadt die Universität und hat sich verlaufen. Er spricht zwei junge Leute an, die wie Studenten aussehen und das auch sind. Er fragt: “Wo finde ich die Universität?” Der erste ist etwas verlegen und meint ‘ja wissen Sie, ich bin erst im 3. Semester, und da habe ich das noch gar nicht mitbekommen’, dann zeigt er auf den anderen. Aber der andere kommt ebenfalls in Verlegenheit und sagt ‘ich bin schon im 30. Semester, und da habe ich das schon wieder vergessen’.”

Resigniert stellen sie dann fest: “Hilfsmaßnahmen für Schule und Studium bewirken jedoch nichts, wenn sie nicht genutzt werden.”

Also neu ist das Problem einer übermäßig überdehnten akademischen Freiheit gewiss nicht. Warum soll das gerade heute in Zeiten vom “Hamster im Laufrad” in Bachelor-Studiengängen so gravierend sein? Haben wir nicht schon genug “Verschulung” im Studium, auch ohne formelle Anwesenheitspflicht (die es früher übrigens auch nicht gab) ?

Soll man die Studenten betreuen wie Kleinkinder oder neben jeden noch einen Sozialpädagogen setzen?

Auch die Autoren geben zu, das es viele Unterstützungsmaßnahmen an Hochschulen gibt, dass die aber nicht wahrgenommen werden. Sie schreiben: “Die Freiheiten, die sich aus diesen Regelungen ergeben, werden ausgerechnet von denjenigen genutzt, für die die Anwesenheit in Lehrveranstaltungen und kontinuierliche Mitarbeit besonders wichtig wäre.”

Resigniert stellen sie dann fest: “Hilfsmaßnahmen für Schule und Studium bewirken jedoch nichts, wenn sie nicht genutzt werden.”

Und was ist die logische Konsequenz? Soll man die Studenten betreuen wie Kleinkinder oder neben jeden noch einen Sozialpädagogen setzen?

Auch wenn dieser Vorkurs Teil des Studiums wird, dann kann dieser Teil natürlich auch geschwänzt werden. Auf den Mensatischen liegen dann Angebote für “klausurorientierte Paukkurse ohne Theorie”, natürlich gebührenpflichtig.

Andererseits: Streben nicht gerade die neuen Bildungsziele das selbständige Lernen schon in der Schule an?

An Rhetorik dazu fehlt es jedenfalls nicht. Anwesenheitspflicht ist doch ohnehin entbehrlich in Zeiten der totalen Digitalisierung: Jeder sitzt vor einem Bildschirm und beschäftigt sich mit der Lernsoftware, um seine Kompetenzen zu steigern und die automatisierte Online-Prüfung zu bestehen. Alles wird dabei überwacht von IT-geschulten Lernbegleitern. Schöne neue Welt.

Fassen wir zusammen:

Die “verbindlichen” Bildungsstandards im Fach Mathematik kommen in den Köpfen der Schüler nicht an, und um dem abzuhelfen, wird erst ein Vorkurs konzipiert, der praktisch alles wiederholt und ein paar Themen noch ergänzt, und schließlich wird von etablierten Mathematik-Professoren dieser Vorkurs komplett als Teil des regulären Studiums empfohlen. Die frühere Schulmathematik wurde erst reduziert, und der Rest wird Sache der Hochschulen und rückt damit in die Nähe der sog. “Höheren Mathematik”.

Wenn dann Kritiker ein sinkendes Niveau beklagen, werden sie als “ewig  gestrig” abgekanzelt, und die schulischen Autoritäten werden von jeder Pflicht freigesprochen, Abiturienten mit Mathematikkenntnissen ins Leben zu entlassen. Wie konnte das nur so passieren? Wer hat rechtzeitig protestiert?

Mit dieser Frage wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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Ein Kommentar

  1. Als die Ergebnisse des Matheabis in Mecklenburg-Vorpommern bekannt wurden, wollte ich einen Kommentar (s.u.) dazu schreiben, aber ich habe nur Meinungen gehört oder gelesen, die sich über den einen Zusatzpunkt aufregten. Nicht eine Zeile des Bedauerns darüber, dass die Lernzeit dieser Jugendlichen verschwendet wurde. Vielleicht gibt es auf condorcet mehr Mitgefühl:

    Schock in Mecklenburg-Vorpommern: In 20% der mathemathischen Abiklausuren wurden null Punkte erreicht! Vielleicht rehabiliert das die absichtlich verschüttete Einsicht, dass begründend unterrichtete Mathematik leichter behalten wird als eine unzusammenhängende Liste von “Anwendungs”-Rezepten.
    Die Analysis in modernen Schulbüchern ist keine Vorbereitung auf ein MINT-Studium und zur Allgemeinbildung trägt sie auch nicht bei. Sie ist das Endprodukt eines traurigen Abstiegs:
    Kein auswendig gelerntes 1×1, daher kein Verständnis für die schriftliche Multiplikation, also keine Vorerfahrung für das systematische Ausmultiplizieren von Klammern. Bruchrechnung von den Dezimalzahlen des Taschenrechners überrollt, so dass die Voraussetzung zum Verständnis von Bruchtermen fehlt und diese daher aus den Lehrplänen gestrichen wurden. Das ist zu wenig, um Newtons erkenntnistheoretische Revolution zu verstehen. Um deren Folgen zu ermessen, vergleiche man die Jahrhunderte vorher und hinterher. Und dazu die moderne Rettungsstrategie: Kurse für Mittelstufenstoff an die Universitäten!

    Prof. emer. Dr. Hermann Karcher

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