3. Dezember 2024

Weiterentwicklung der gymnasialen Matur (WEGM): Stellungnahme aus Sicht des GBL

Die «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» ist im Wesentlichen eine bildungspolitische Reform. Der GBL fungiert in erster Linie als gewerkschaftliches Organ der Gymnasiallehrkräfte des Kantons. Spielt er also in diesem Prozess überhaupt eine Rolle? – Ja, das tut er. Maja Ruef und Andrea Seehuber hoffen in ihrem Gastbeitrag, dass nach den überfrachteten Vorlagen im letzten Jahr die neuen nun so schlank und übersichtlich gestaltet sind, dass die Kantone und die einzelnen Schulen genügend Spielraum für eine machbare und zielführende Umsetzung haben.

Andrea Seehuber, Verein Basellandschaftlicher Gymnasiallehrerinnen und -lehrer (GBL)
Maja Ruef, Verein Basellandschaftlicher Gymnasiallehrerinnen und -lehrer (GBL)

Worum geht es?

Das Projekt einer gesamtschweizerischen «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» wurde 2018 von der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) in Auftrag gegeben. Dies vor dem Hintergrund einer sich rasant wandelnden Gesellschaft und der Tatsache, dass die rechtlichen Grundlangen für die gymnasiale Maturität aus dem Jahr 1995 stammen[1]. Eine Anpassung derselben an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts ist daher unbestritten vonnöten.

Ebenso nachvollziehbar sind die grundlegenden Entwicklungsziele: «Die anerkannte Qualität der gymnasialen Maturität weiterhin schweizweit und auf lange Sicht zu sichern und den prüfungsfreien Zugang zur Universität mit gymnasialer Matur langfristig sicherzustellen»[2]. Dazu soll die schweizweite Vergleichbarkeit der Maturitätslehrgänge in ihren Inhalten und Anforderungen erhöht werden, damit alle Maturand:innen in der Schweiz die «Allgemeine Studierfähigkeit» sowie eine «vertiefte Gesellschaftsreife» erlangen können. Im Zentrum der aktuellen Reform stehen deshalb zum einen die gesetzlichen Grundlagen, das Maturitätsanerkennungsreglement (MAR) und die Maturitätsanerkennungsverordnung (MAV), zum anderen die schweizerischen Rahmenlehrpläne (RLP). Eine handverlesene Koordinationsgruppe erhielt von EDK und WBF den Auftrag, eine Standortbestimmung der gymnasialen Maturität vorzunehmen, auf dieser Grundlage den Reformbedarf zu analysieren und konkrete Reformvorschläge auszuarbeiten.

Die Vorlage fordert keine Ausweitung der Fächeranzahl auf 17-19 im Grundlagenbereich ein und auch keine völlige Beliebigkeit bei der Wahl der Schwerpunktfächer.

Nachdem im Frühling 2021 die Vorschläge der Projektgruppe für die beiden Vorlagen (MAR/MAV und RLP) erstmals zur internen Konsultation freigegeben wurden und teilweise äusserst kontroverse Reaktionen bei betroffenen Lehrpersonen und Verbänden auslöste, liegt nun seit Mai 2022 der revidierte Entwurf des neuen MAR/MAV vor – deutlich vereinfacht im Vergleich zu den ersten Vorschlägen, und entschieden weniger kühn.[3] Einige der grössten Befürchtungen, die viele nach dem Entwurf von 2021 gehegt hatten, sind nicht eingetroffen: Die Vorlage fordert keine Ausweitung der Fächeranzahl auf 17-19 im Grundlagenbereich ein und auch keine völlige Beliebigkeit bei der Wahl der Schwerpunktfächer. Auch das von vielen äusserst skeptisch betrachtete «2+2-Modell», nach dem der Maturlehrgang in eine breit gefächerte Grundlagenstufe und eine Vertiefungsstufe mit engerer Fächerauswahl aufgeteilt werden soll, wird nicht schweizweit umgesetzt.[4]

Die Vorlage enthält im Gegenteil etliches, das von vielen Seiten begrüsst wird – zum Beispiel

  • neue mögliche Schwerpunktfächer wie Sport, Geschichte und Geografie oder Informatik;
  • verstärkte Anbindungen an Sek I und Universitäten (abgebende bzw. aufnehmende Institutionen);
  • die gesetzliche Verankerung von Interdisziplinarität und transversalen Themen wie Politische Bildung und Bildung für Nachhaltige Entwicklung; sowie
  • die potenzielle Aufwertung der Maturarbeit als wissenschaftlicher Lernprozess durch die stärkere Gewichtung von Arbeitsprozess und wissenschaftspropädeutischen Anteilen in der Bewertung.

Die «WEGM» – ein Geschäft für den GBL?

Die «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» ist im Wesentlichen eine bildungspolitische Reform. Im Kanton Basel-Landschaft werden die Anliegen der «Basis», also der gymnasialen Lehrerkollegien, hauptsächlich durch die «Konferenz der Gymnasiallehrer:innen» (GLK) vertreten und über die Dienststellenleitung an die Kantonsregierung herangetragen. Der GBL dagegen nimmt sich vor allem der gewerkschaftspolitischen Anliegen der Gymnasiallehrer:innen an. Spielt er in diesem Prozess überhaupt eine Rolle? Und wenn ja: welche?

Die Antwort: Ja, das tut er, in zweifacher Hinsicht, weshalb wir hier gerne zur aktuellen Maturitätsrevision Stellung nehmen wollen:

  1. Neue Bildungsziele, Neuausrichtungen von Fächern und Veränderungen von deren Inhalten können sich direkt auf die Stundendotation einzelner Fächer oder gar die Durchführbarkeit von Kursen und Unterrichtsprojekten, auf die Organisationsstrukturen oder die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Schulen auswirken – und somit auf die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen der betroffenen Lehrpersonen.
  2. In der Koordinationsgruppe des Projekts werden die Interessen der Lehrpersonen durch das Präsidium des VSG (Verein schweizerischer Gymnasiallehrpersonen) vertreten. Der Kanton Basel-Landschaft wird im VSG durch den GBL vertreten: Wir können also die Positionen des VSG zur WEGM – in bescheidenem Mass – mitgestalten.
    Nun hat sich der VSG Ende Mai 2022 mit einer ersten provisorischen Stellungnahme zur Vernehmlassungsvorlage der WEGM geäussert[5]. Diese weicht jedoch in einigen Punkten deutlich von der Haltung der Lehrerschaft in unserem Kanton ab. Es ist uns daher auch wichtig, sichtbar zu machen, wo und warum wir mit dem VSG nicht einer Meinung sind.

Wo Bildungspolitik und gewerkschaftliche Interessen ineinandergreifen

In der überarbeiteten Vorlage zur WEGM gibt es immer noch etliche offene Fragen und Tendenzen, welche Skepsis auslösen. Explizit noch nicht entschieden sind zwei Fragen: die Anzahl und Auswahl der Maturitätsprüfungsfächer (Art. 26 im MAR/MAV) und die mögliche Verschärfung der Bestehensnormen für die Abschlussprüfungen (Art. 28).

Die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Verschärfung lässt sich nicht mit objektiv bewertbaren Kriterien messen.

Während es in Bezug auf die Maturitätsprüfungsfächer für verschiedene Spielarten gute Argumente und Praxisbeispiele gibt, wird eine geringere Anzahl Prüfungsfächer tendenziell bevorzugt (jeder Kanton darf mehr Fächer prüfen, muss aber nicht). Eine deutlichere Mehrheit im Kanton Basel-Landschaft wehrt sich gegen eine Verschärfung der Bestehensnormen: Die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Verschärfung lässt sich nicht mit objektiv bewertbaren Kriterien messen: Der organisatorische Mehraufwand, den eine Revision zwangsläufig mit sich bringen würde, steht also nicht im Verhältnis zu ihrem allfälligen Nutzen.

Ziel der aktuellen Weiterentwicklung ist auch, dass Lernende eine «vertiefte Gesellschaftsreife» entwickeln.

Zudem: Die Aufwertung eines Faches, der Abschlussprüfungen oder des Gymnasiums an sich wird nicht erreicht durch erhöhten Leistungsdruck und potentielle Angstmacherei bei den Abschlussprüfungen, sondern durch guten Unterricht und adäquate Prüfungen in den Jahren zuvor. So können Lernende, die die nötigen Leistungen nicht erbringen oder für die das Gymnasium nicht der richtige Weg ist, dies schon in den Jahren vor den Abschlussprüfungen erkennen und alternative Bildungs- und Ausbildungswege einschlagen.

Grundlegende Skepsis lösen nach wie vor die Listen von zu unterrichtenden Grundlagenfächern und von möglichen Schwerpunktfächern aus.

Darin unterscheidet sich die Tendenz im Kanton Basel-Landschaft deutlich von den Positionen des VSG, der eine höhere Anzahl Prüfungsfächer sowie eine moderate Verschärfung der Bestehensnormen befürwortet. Weitestgehend konform gehen die Meinungen im Kanton in diesem Punkt jedoch mit einer kürzlich als Medienmitteilung veröffentlichen Stellungnahme der Konferenz Schweizerischer Gymnasialrektorinnen und Gymnasialrektoren (KSGR)[6]. Darin heisst es: «Die KSGR anerkennt die Wichtigkeit neuer Inhalte am Gymnasium, lehnt aber ohne eine Gesamtschau eine weitere Zunahme von Maturitätsfächern ebenso ab, wie die im Reglement aufgeführten Varianten mit zusätzlichen Maturitätsprüfungsfächern oder eine Verschärfung der Bestehensnormen.» Auch die KSGR bemängelt also eine weitestgehend fehlende objektiv bewertbare Argumentation für die diesbezüglich eingebrachten Vorschläge.

Grundlegende Skepsis lösen nach wie vor die Listen von zu unterrichtenden Grundlagenfächern und von möglichen Schwerpunktfächern aus. Zwar haben sich beide auf ein realisierbares Mass reduziert, wenn man die teilweise abenteuerlichen Fächerkataloge aus dem Entwurf von 2021 zum Vergleich heranzieht. Dennoch wird das neue MAR/MAV mehr Grundlagenfächer und mehr mögliche Schwerpunktfächer beinhalten als das bisherige. Ob und wie dies zu realisieren ist, steht derzeit offen und ist von verschiedenen Faktoren abhängig:

  • Werden Gesamtdauer des Gymnasiums (4 Jahre) und totale Lektionszahl pro Woche gleichbleiben? Dann werden notgedrungen weniger Stunden pro Fach zur Verfügung stehen. Insbesondere neue Grundlagenfächer wie «Informatik» und «Wirtschaft und Recht», die zu zählenden Maturnoten führen, müssten deshalb wohl zwangsläufig eine höhere Stundendotation erhalten. Gerade hier stellt sich die Frage, ob und wo in anderen Fächern die Stundendotation reduziert werden soll.
  • Wie werden die Rahmenstundentafeln aussehen? Wie viele Fächer werden Stunden gewinnen, wo werden Stunden verloren gehen – und was bedeutet dies für die betroffenen Lehrpersonen?
  • Wie werden die eidgenössischen Rahmenlehrpläne aussehen? Die letztjährigen Entwürfe waren – hier sind sich GLK, GBL, VSG und KSGR einig – als Vorlagen zur kantonalen Umsetzung viel zu überladen und wären mit den Rahmenbedingungen und den Anforderungen des neuen MAR/MAV nicht umsetzbar. Letztlich würde eine derartige Überfrachtung die Forderung nach einer besseren schweizweiten Vergleichbarkeit der Abschlüsse sogar konterkarieren.
  • Wo und wie sollen zusätzliche interdisziplinäre und transversale Inhalte und Kompetenzen in die bestehenden Fächer integriert werden? Wo, wie und wann sollen diese vermittelt – und erlernt, geübt, vertieft – werden?
  • Wenn der Auswahlkatalog der Schwerpunktfächer breiter wird, wie wird sich dies auswirken …
  • … auf die Organisation in den Schulen: Wird dies zu einem «Kurssystem» führen, in dem Lernende sich vorwiegend nach Lerninhalten und Interessen zusammenschliessen und der Klassenverband aufgelöst wird? In einem Kurssystem würde die erzieherische Begleitung der Schüler:innen[7] viel stärker individualisiert und der Verantwortung der Fachlehrkräfte übertragen werden, was zu einem nicht leistbaren Mehraufwand führen würde respektive die Bereitstellung entsprechender Ressourcen verlangt.
  • … auf den Wettbewerb zwischen Schulen: Werden Schwerpunktfächer stärker nach «Nachfrage» angeboten werden müssen? Welche Herausforderungen birgt dies für kleinere Schulen mit limitierten Ressourcen und einem kleineren Einzugsgebiet? Wenn zum Beispiel aus insgesamt 60 Schüler:innen Klassen gebildet werden müssen, werden die Klassen bei einer grösseren Auswahl an Schwerpunktfächern kleiner werden – bzw. die Auswahl an SPF wird aus Kostengründen verringert und an andere Schulen ausgelagert.

Die Aussicht auf sich erweiternde Fächerkanons hat schon anlässlich der internen Konsultation 2021 breites Unbehagen ausgelöst und eine Grundtendenz unter den Lehrpersonen im Kanton provoziert, die sich nun in den Rückmeldungen zur Vernehmlassung verstärkt: Ziel der aktuellen Weiterentwicklung ist auch, dass Lernende eine «vertiefte Gesellschaftsreife» entwickeln. Dazu gehört die Aneignung von Wissen, mehr noch aber die Vertiefung und Vernetzung desselben. Zu viele Fächer verzetteln Lernende wie Lehrende und können allzu schnell in fachspezifischen «teaching to the test»-Unterricht münden, weil anders Stoffvermittlung und Leistungsabruf kaum mehr möglich ist. Doch «zum Erreichen einer breiten Allgemeinbildung», brachte es die GLK in ihrer Stellungnahme zum letztjährigen Entwurf auf den Punkt, «genügt der heute bestehende Fächerkanon im Wesentlichen» – wenn auch aus fachspezifischer Sicht das eine oder andere zusätzliche Grundlagenfach natürlich sehr zu begrüssen wäre.

Der organisatorische Aufwand einer so grundsätzlichen Neuorganisation des Unterrichts scheint daher wiederum aus gewerkschaftlicher Sicht unverhältnismässig in Bezug auf den zu erwartenden Gewinn. Auch darin setzt sich die Grundtendenz in unserem Kanton klar von der Haltung des VSG ab, der eine breite Palette an Grundlagenfächern für eine solide Allgemeinbildung bejaht und für die Schwerpunktfächer ein offenes Feld der Möglichkeiten ermutigen möchte.

Wohin sich die aktuelle «Weiterentwicklung der gymnasialen Matur» (WEGM) im Hinblick auf diese konkreten Fragen und Befürchtungen bewegen wird, werden die neuen Rahmenlehrpläne und eine dann hoffentlich auch vorliegende Rahmenstundentafel zeigen. Nach den überfrachteten Vorlagen im letzten Jahr ist zu hoffen, dass die neuen Vorlagen nun so schlank und übersichtlich gestaltet sind, dass die Kantone und die einzelnen Schulen genügend Spielraum für eine machbare und zielführende Umsetzung haben. Gerade in diesem Prozess, wo Debatten um Stundenverteilungen, Fächergewichtungen und die Arbeitsbelastung der Lehrpersonen konkret werden, wird der GBL gefordert sein, seinen Einfluss geltend zu machen. Wir bleiben dran!

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (September-Ausgabe 2022).

 

[1] https://www.sbfi.admin.ch/sbfi/de/home/aktuell/medienmitteilungen.msg-id-88863.html (05.08.2022)

[2] https://matu2023.ch/de/ (05.08.2022)

[3] https://www.fedlex.admin.ch/de/consultation-procedures/ongoing#https://fedlex.data.admin.ch/eli/dl/proj/2022/11/cons_1
(05.08.2022) – Die überarbeiteten schweizerischen Rahmenlehrpläne gelangen voraussichtlich im Winter 2022/23 in die Vernehmlassung.

[4] In manchen Kantonen ist dieses Modell heute schon Usus und kann weiterhin praktiziert werden.

[5] https://www.vsg-sspes.ch/aktuelles/wegm

[6] https://www.ksgr-cdgs.ch/de/

[7] Siehe «Bereich D» aus dem derzeit geltenden Berufsauftrag für Lehrpersonen (§ 2): Eltern- und Schülerberatung, Aufgaben der Klassenlehrpersonen: https://bl.clex.ch/app/de/texts_of_law/646.40

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Sorgenkind Mathematik

Matheunterricht, der in der Schule scheitert, hat schwerwiegende Folgen für Studiengänge in den Mint-Fächern. Diese werden oft abgebrochen. Olaf Köller, geschäftsführender wissenschaftlicher Direktor des Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel, zweifelt an der Analyse der 300 Mathematiklehrer, welche jene in ihrem Brandbrief darlegten (siehe Astrid Baumann). Sein Beitrag erschien erstmals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.3.20).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert