3. Dezember 2024

Die «falschen» Flüchtlinge

Eine SMS aus einer Integrationsklasse inspirierte unseren Condorcet-Autor Alain Pichard zu diesem Beitrag. Er berichtet über die erfolgreichste Migrantengruppe in der Schweiz.

Alain Pichard

Vor kurzem schickte mir ein Kollege aus einer Integrationsklasse in der Stadt Bern die Prüfungsergebnisse einer vietnamesischen Schülerin. Sie ist erst ein Jahr in der Schweiz, erreicht aber bereits das Sprachniveau B1++ und wird in Kürze zu einem Bwerbungsgespräch für eine Informatiklehre eingeladen. Damit überragt sie alle Lernenden dieses Kurses im nachobligatorischen Schulbereich bei weitem.

Mich hat diese Nachricht nicht überrascht. Aber sie liess mich kurz auf die Ereignisse im Jahr 1979 zurückblicken. Vier Jahre nach der Machtübernahme der nordvietnamesischen Kommunisten (1975) flohen Hunderttausende Südvietnamesen in Booten über das Meer.

Die neuen Machthaber hatten in Südvietnam Zwangsarbeit, Folter und Umerziehungslager eingeführt. Das führte zu einer gewaltigen Flüchtlingswelle aus diesem Land. Schätzungen gehen von bis zu einer Millionen Boatpeople (dt. Bootsmenschen) aus, von denen etwa ein Viertel ertrank.

Anders als bei den aktuellen Bootsflüchtlingen im Mittelmeer gab es damals nur bescheidene Ansätze von Mitleid oder Hilfe. Immerhin erzielte die Glückskette ihr erstes Rekordergebnis. Uns Linke hingegen, die in Europa gegen die USA demonstriert hatten, brachten die Boatpeople in Verlegenheit. Natürlich entsprach diese Flüchtlingswelle überhaupt nicht unseren Erwartungen nach dem grossen Sieg der Kommunisten nach einem jahrelangen mörderischen Krieg. Und wir waren heimlich froh um den ARD-Korrespondenten, der 470 Boatpeople in Singapur interviewte um schliesslich festzustellen, dass bei fast allen ausschliesslich wirtschaftliche und keine politischen Motive zur Flucht geführt hatten. Heute bemühen sich die Medien, diese Differenzierung tunlichst auszuklammern. Damals forderte der Theologe Helmut Gollwitzer, «lieber etwas in Vietnam zu tun», als die Boatpeople zu retten. Jane Fonda, die Antikriegs-Ikone kritisierte den Entscheid von Jimmy Carter, eine Flotte zu schicken, um die Boatpeople zu retten. Die linke Zeitschrift «Konkret» sprach gar von «Zuhältern und Schwarzhändlern».

Peter Weiss: Wenn es 50 Millionen Menschen nützt, darf man Zehntausende drangsalieren!

Jane Fonda, amerik. Schauspielerin: forderte Jimmy Carter auf, die Flüchtlinge nicht zu retten.

Als dann aber der Schriftsteller Peter Weiss, wie einst schon Mao, argumentierte: «Wenn es 50 Millionen Menschen nützt, darf man Zehntausende drangsalieren», war für mich und andere Linke das Ende der Fahnenstange erreicht. Diese skandalöse Äusserung eines hochverehrten Dramatikers fiel gleichzeitig mit der Niederschlagung der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc und führte bei mir zum Austritt aus der kommunistischen PdA.

1980 kamen dann die ersten Vietnamflüchtlinge nach Biel, in die Stadt, in der ich unterrichtete. Sie wurden zu einer der erfolgreichsten Einwanderergruppe in unserer Stadt. Viele von ihnen sind heute Unternehmer wie Phoc oder Besitzer toller Eigentumswohnungen wie die Finanzberaterin Hao oder haben erfolgreiche berufliche Karrieren absolviert wie Thien (was auf Deutsch «sanft» bedeutet). Ich hatte die Ehre sie zu unterrichten. Alle hatten sie bzw. ihre Familien eines gemeinsam: Sie haben sich weniger auf staatliche Hilfen verlassen als auf ihre eigene Initiative und ihren Willen, in der neuen Heimat Erfolg zu haben. Eine Würdigung ist in einer beeindruckenden Reportage von Martin Beglinger in der NZZ nachzulesen (https://www.nzz.ch/gesellschaft/vietnamesen-integrationswunder-ld.1311265).

Vietnamesische Schülerinnen in der Schweiz: eine Erfolgsgeschichte sondergleichen.

Die Familie von Catherine zum Beispiel betreibt an den diversen Stadtfesten immer noch ihren Stand mit vietnamesischen Spezialitäten, unterstützt von ihrer Tochter, die als Realschülerin bei mir begann, in das Sekundarniveau wechselte, eine Lehre als Hochbauzeichnerin absolvierte und anschliessend ein Architekturstudium begann. Ich erhalte dann jeweils meine obligate Frühlingsrolle geschenkt. Es ist eine Dankbarkeit gegenüber dem Lehrer, die mich beschämt. Denn ich hatte damals nicht den Mut und die Unbestechlichkeit einer Joan Baez, welche sich angesichts des Elends uneingeschränkt für die Rettung dieser Boatpeople einsetzte und sich heftigster Kritik von Jane Fonda ausgesetzt sah.

Als mein Kollege an der Integrationsklasse seine vietnamesische Schülerin fragte, was sie am meisten in der Schweiz vermisse, meinte sie: «Das Schulsystem in Vietnam!»

Lesen Sie den nachfolgenden Bericht von Tobias Straumann über den Bildungserfolg von Vietnam

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Ähnlich wie die Forderung, doch jetzt endlich die Noten in der Schule abzuschaffen, gelingt es dem Begehren nach Abschaffung der Hausaufgaben regelmässig, in die Medienlandschaft zu gelangen. Auffallend dabei, mit wie wenig Kenntnis über dieses Thema gestritten wird. Condorcet-Autor Alain Pichard über ein Ritual, das an Öde kaum zu überbieten ist.

Ein Kommentar

  1. Vietnamesen sind speziell bekannt für ihre Tüchtigkeit. Insbesondere im Vergleich zu anderen Nationen/Kulturen im ASEAN-Raum.

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