23. November 2024

Rousseau – Naturevangelium der Pädagogik

Nichts ist wichtiger als die Kunst, Menschen zu bilden. Und doch fehlt es überall an Einsicht und an Methoden, die einer naturgemässen Menschenbildung entsprechend wären. Dem Gang der Natur zu folgen, muss die erste Sorge des echten Erziehers sein – wenn man die Natur des Kindes nicht kennt, werden sich Irrwege nie vermeiden lassen. Dies waren die Überzeugungen von Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778). Unser Haushistoriker Peter Aebersold erinnert an das pädagogische Vermächtnis dieses Aufklärers. Dies ist sicher angebracht, auch wenn Rousseau in Condorcet-Kreisen durchaus auch umstritten ist.

Sein preisgekröntes Werk «Discours» («Abhandlung über die Wissenschaften und Künste») hatte 1750 zu einer kulturellen Erschütterung geführt und der zweite «Discours» («Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen») sprengte zusammen mit dem «Gesellschaftsvertrag» das absolutistische Prinzip und das monarchische Regime in die Luft und bereitete den Boden für die Französische Revolution. Er hatte den Mut, gemäss seinem Grundsatz «Das Leben der Wahrheit weihen!», gegen seine ganze Epoche anzukämpfen.

Bibel der modernen Pädagogik

Zwischen dem zweiten Discours und dem Gesellschaftsvertrag erschien «Julie ou la nouvelle Héloise», die die Aufnahme des epochemachenden «Emile oder über die Erziehung» von 1762 vorbereitete. Mit «Emile» schuf Rousseau in achtjähriger Arbeit die «Bibel» der modernen Pädagogik, die seinen Ruf als pädagogischer Reformator in Windeseile durch ganz Europa verbreitete.

Erziehung als Problem

«Emile» ist das Idealbild, das Rousseau einer entnervten und verweichlichten Kultur entgegenhielt. Menschliche Entgleisungen schrieb er, im Sinne der «Westschweizer Naturrechtsschule», gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und nicht der Natur des Menschen zu. Die «naturgemässe Erziehung» sollte mit der bisherigen Tradition brechen und die Erziehung als Problem in das Bewusstsein der Zeitgenossen rücken: «Mein Thema war trotz Lockes Buch völlig neu und ich befürchte sehr, dass dasselbe es auch noch nach dem meinigen bleiben wird».

Achtjährige Arbeit

Emil gab den Anstoss für den bewunderungswürdigen Erziehungseifer des 18. Jahrhunderts, dem die moderne Pädagogik unendlich viel zu verdanken hat: Basedow, Wolke, Campe, Salzmann und Pestalozzi traten in die Fusstapfen des «Citoyen de Genève». Im 20. Jahrhundert hat die moderne Anthropologie Rousseaus naturrechtlichen Ansatz weitgehend bestätigt.

Rousseau

Jean-Jacques wurde 1712 als Sohn eines Uhrenmachers in Genf geboren. Seine Mutter starb bei der Geburt und oft weinten Vater und Sohn zusammen über den gemeinsamen Verlust. Mit seinem Vater, der die Werke Plutarchs und Tacitus liebte, las er abends Romane und wissenschaftliche Schriften, «bis die Vögel am Morgen zwitscherten». Als Achtjähriger wurde er zu einem Pfarrer in Pension gegeben, wo er «neben Latein den ganzen Plunder lernte, den man dranhängt, als sogenannte Erziehung». In Genf lernte er Schreiber und Graveur und ging auf Wanderschaft. 1728 nahm Madame de Warens in Savoyen den 15jährigen in ihre Obhut. Sie unterstützte ihn bei seiner autodidaktischen Bildung und er las Werke von Locke, Leibniz, Malebranche, Descartes, Bayle, La Bruyère, Larochefoucauld usw.

Er verlangte die volle Autorität über die Kinder, versicherte aber, diese niemals für körperliche Züchtigung zu verwenden, da man «keinen entehrenderen Gebrauch von seiner Hand machen könne, als wenn man sie zur Misshandlung eines Kindes verwendet.»

Rousseau als Erzieher

Später wurde er Erzieher (Hofmeister) in Lyon, wo er einen «Erziehungsplan» mit seinen pädagogischen Grundsätzen vorlegte, der den künftigen Verfasser des Emil ahnen liess: Er verlangte die volle Autorität über die Kinder, versicherte aber, diese niemals für körperliche Züchtigung zu verwenden, da man «keinen entehrenderen Gebrauch von seiner Hand machen könne, als wenn man sie zur Misshandlung eines Kindes verwendet.» Nicht die Furcht sollte die Kinder leiten, sondern die Liebe. Wichtiger als die Verstandesbildung sei die Bildung des Herzens, weil diese die Grundlage für jene abgibt. Die eigentliche Erkenntnis sollte immer von der lebendigen Anschauung ausgehen. Der Zögling muss die Welt kennen lernen, wobei Natur, Kunst und Handwerk ein reiches Feld der Beobachtung bieten würden, dass schon dem Kind erschlossen werden soll.

Paris der Aufklärung

Rousseau war nicht der Mann der erzieherischen Praxis und so zog er 1742 nach Paris, wo er in den Salons die Repräsentanten der Aufklärung Voltaire, Montesquieu, Diderot, Holbach und Grimm kennen lernte und sich den «Enzyklopädisten» anschloss. In Montmorency entstanden die Werke, die seinen Ruhm begründeten.

Staat und Kirche in Paris und Genf sahen in «Emil» jedoch ein revolutionäres Pamphlet, das das «Reich der Irreligion» errichten würde und liessen das Buch durch den Henker öffentlich zerreissen und verbrennen. Gegen den Verfasser wurde ein Haftbefehl erlassen, dem er sich 1762 nur durch die Flucht in die Schweiz entziehen konnte, wo er sich in Neuchâtel und auf der Petersinsel in Sicherheit bringen musste. In seinem «Briefe vom Berge» verteidigte er sich gegen den Vorwurf der Irreligiosität und trat für religiöse Toleranz ein.

Emile

Im Emile nimmt Rousseau den Kampf gegen die herrschende Erziehung und für eine naturgemässe Erziehung auf, die dem Gang der Natur folgt. Die Grundlage jeglicher Erziehung wird nach Rousseau durch die Natur vorgegeben. Die Kräfte und Organe des Körpers müssen ausgebildet werden, weil hierauf alle spätere seelische und geistige Entwicklung beruhe. Die Kinder müssen zu «Naturmenschen» erzogen werden und nicht zu einem bestimmten Beruf oder einer gesellschaftlichen Funktion, sondern zu nichts anderem als zum Menschen. Indem das Kind zum Menschen wird, ist es in der Lage, sich in jeder Lebenslage zu behaupten.

Ohne mütterliche Pflege stirbt das Herz des Kindes, bevor es noch zum Leben erwacht ist.

Erziehung im Elternhaus

Für ihn war die Mutter am besten geeignet, sich in die natürlichen Gegebenheiten der kindlichen Entwicklung einzufühlen, darum sei sie die erste und hauptsächliche Erzieherin der Kinder: Es sei eine Unsitte, die Kinder in den ersten Monaten ihres Lebens einer Amme zu übergeben. Ohne mütterliche Pflege stirbt das Herz des Kindes, bevor es noch zum Leben erwacht ist. Die Mütterlichkeit bestehe nicht darin, dass die Mutter das Kind zu ihrem Abgott mache. Jede Verwöhnung und Verweichlichung bedeute für das Kind nichts Gutes, weil es dadurch später zahlreichen Gefahren ausgesetzt wird, die es nicht bewältigen werden könne. Verzärtelte Kinder üben ihre Widerstandskraft nicht, die Verwöhnung macht sie zum Tyrannen, der eher an sich als an seine Mitmenschen denkt. Die Schlechtigkeit der Menschen liegt nicht in der Natur, sie ist nur ein Produkt der verfehlten Erziehung.

Die Aufgabe des Vaters ist es, seinen Kindern der eigentliche Lehrer zu sein. Beruf und Pflichten sind nicht so wichtig wie die Erziehung des Kindes. Ein bezahlter Erzieher wird selten die Erziehung mit jener restlosen Hingabe betreiben, die zur wahren Menschenbildung notwendig ist. Wenn ein Vater diese Aufgabe nicht übernehmen kann, soll er sie einem befreundeten Hofmeister überlassen. «Emil» ist demnach ein Lehrbuch der «Hofmeister-Erziehung».

Frühe Kindheit

Die Eindrücke der ersten Lebensjahre bedingen die ganze spätere Entwicklung des Kindes. In der frühen Kindheit müssen in wenigen Jahren unzählige Erfahrungen gesammelt und verarbeitet werden. Das Kind muss sich in der Welt zurechtfinden und die menschliche Sprache erlernen. Man muss sich auf den Standpunkt des Kindes stellen, um es zu verstehen und ihm ein Ausleben seiner Kräfte zu ermöglichen. Wo die Natur den Zeitpunkt für gekommen erachtet, wird sich das Kind von selbst auf seine Füsse stellen und sich auch der Sprache bedienen: «Unsere pedantische Unterrichtswut verleitet uns stehts, den Kindern das beizubringen, was sie von selbst viel besser lernen würden, und das zu übersehen, was sie allein durch uns erfahren können.»

Eine Erziehung durch Strenge, Befehl, Härte und Strafe bringe nur unterwürfige Sklaven, nicht aber freie Menschen hervor.

Obwohl der Heranwachsende seiner spielerischen Kindlichkeit überlassen wird, ist er bereits als Persönlichkeit zu achten. Eine Erziehung durch Strenge, Befehl, Härte und Strafe bringe nur unterwürfige Sklaven, nicht aber freie Menschen hervor. Nicht Gehorsam sondern Einsicht ist die Losung des guten Erziehers. Weder Gewalt noch Drohungen, weder Schmeichelei noch Versprechungen erziehen zur menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit. Es gibt kaum einen Fehler am Menschen, von dem man nicht zeigen könnte, wie er in das Menschenherz hineingekommen ist, und immer wieder werden wir dabei auf die Erziehung hingewiesen.

Einführung in die intellektuelle Welt

Der spätere Unterricht soll mit geschärften Sinnen rechnen können. Wenn Emil das Alter von zwölf Jahren erreicht hat, so ist er «auf dem Wege der Natur durch das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung bis an die Grenze der kindlichen Vernunft geführt.» Die eigentliche Periode des Lernens und Studierens dauert bei Rousseau vom 12. bis zum 15. Jahre, wenn er über die grosse Fassungskraft verfügt, damit er in die intellektuelle Welt eingeführt werden kann. Ein vielfältiges Anschauungsmaterial liefern Industrie und Handwerk.

Der Jugendliche soll nicht in einer Religion erzogen werden, sondern «wir wollen ihn nur in den Stand setzen, die zu wählen, zu welcher ihn der beste Gebrauch der Vernunft führen muss.»

Pubertät

Die Pubertät ist eine «zweite Geburt oder zweite Kindheit» und die Umsicht und Sorgsamkeit muss auf dieser Stufe wiederholt werden. Die Erziehung darf hier nicht aufhören, weil erst jetzt die entscheidende Aufgabe beginnt, ihn mit den gesellschaftlichen Verhältnissen vertraut zu machen: Erst in diesem Alter darf man ihn in der Religion unterweisen, weil sich die religiösen Begriffe dem kindlichen Verständnis noch entziehen und es deshalb sinnlos ist, ihm von «Gott» und «Geist» zu erzählen. Der Jugendliche soll nicht in einer Religion erzogen werden, sondern «wir wollen ihn nur in den Stand setzen, die zu wählen, zu welcher ihn der beste Gebrauch der Vernunft führen muss.» Auf die Fragen nach den geschlechtlichen Verhältnissen ist Emil seit seiner Kindheit entsprechend seinem Fassungsvermögen offen und rückhaltlos geantwortet worden. Darum hat er Vertrauen zu seinem Erzieher und wird ihm nichts verheimlichen.

Petersinsel: Hier entstand sein epochales Werk “Emile”

Der Mensch Rousseau

Der Lebenslauf Rousseaus zeigt, dass auch ein Mensch unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen zu einem überaus wertvollen Mitglied der Gemeinschaft werden und ihr mehr Positives bieten kann, als viele gekrönte Häupter zusammen. Wie war es möglich, dass jemand der ohne Mutter aufwachsen musste, aus einfachem Haushalt kommend, zeit seines Lebens in Armut lebte, so dass er nicht einmal seine eigenen Kinder ernähren konnte und von Kirche und Staat verfolgt wurde, einen derart positiven Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit haben konnte? Seine Resilienzfaktoren waren Menschen, die an ihn glaubten: sein bemühter Vater, der mit ihm schon früh wertvolle Bücher las, eine gebildete Frau, die ihn in ihrem Hause aufnahm und seine autodidaktischen Studien unterstützte und eine offene Gelehrtengesellschaft, der es nicht auf die Herkunft, sondern auf den innovativen Beitrag zur Aufklärung ankam. Für Goethe hat das Buch «Emile» einen aussergewöhnlich positiven Einfluss zur Entwicklung der modernen Erziehungsidee ausgeübt, das er ein «Naturevangelium der Pädagogik» nannte.

Quellen:

https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/rousseau.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Westschweizer_Naturrechtsschule

 

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Der Condorcet-Blog möchte einen Meinungsaustausch zu Bildungsfragen ermöglichen, wobei konträre Ansichten ausdrücklich erwünscht sind. Dies ist nicht selbstverständlich, da sich Interessierte zunehmend solchen Diskursen entziehen, wenn sie Beiträge lesen, die ihren Ansichten widersprechen. Dass dies auch in einem Land geschieht, das mit der Magna Charta und der Glorious Revolution den Weg für die westlichen Demokratien geebnet hat, lässt aufhorchen. Folgender Artikel von Anna Fazackerley im Guardian vom 01.Oktober 2023 schildert Beunruhigendes aus England. Condorcet-Autor Felix Schmutz hat ihn übersetzt.

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