Dem Schweizer Bildungssystem sei Dank, ist ein Hochschulabschluss auch dann noch möglich, wenn ein junger Mensch seine berufliche Laufbahn mit einer Lehre startet. Ich bin das beste Beispiel dafür. Meine Schulmotivation als 15-Jährige war mehr als bescheiden, und ich entschied mich für eine kaufmännische Lehre – heute bin ich Professorin an der ETH.
Ein solcher Wechsel zwischen verschiedenen Bildungspfaden ist heute sogar noch einfacher als damals, weil das Schweizer Bildungssystem mittlerweile so durchlässig ist wie in keinem anderen Land. Sekundarschule, Berufslehre, Berufsmatura, Fachhochschule, Universität: Dieser Bildungsweg ist möglich und hat sogar Vorteile.
Die überfachlichen Kompetenzen zum Beispiel werden je länger je wichtiger. Ein Unternehmen will Arbeitnehmende einstellen, die flexibel einsetzbar sind, um jederzeit und schnell auf Veränderungen reagieren zu können. Die Soft Skills, die es dazu braucht, erwerben junge Menschen vor allem dann, wenn sie während ihrer Ausbildung Berufserfahrung sammeln können – und nicht unbedingt im Hörsaal. Dies ist eine Erkenntnis einer kürzlich publizierten Studie meiner Forschungsgruppe.
Bereicherung für alle
Ich und meine Kolleg:innen machen diese Erfahrung auch mit ETH-Studierenden. Haben sie nicht den gymnasialen Weg gewählt, sondern jenen über die Berufsbildung, stehen sie zu Beginn des Studiums an einem anderen Punkt, haben einen anderen Erfahrungsschatz, stellen andere Fragen. Die verschiedenen Bildungswege der Studierenden sind sehr bereichernd für alle.
Auch eine funktionierende Wirtschaft braucht eine Vielzahl an unterschiedlichen Arbeitnehmenden. Der Schweizer Arbeitsmarkt ist geprägt von mittleren und kleinen Unternehmen, und in diesen KMUs, insbesondere in der Industrie, ist der Bedarf an Personen mit Hochschulabschluss sehr gering. Ein Hochschulabschluss ist – zumindest in der Schweiz – schon lange keine Versicherung für ein erfolgreiches Berufsleben mehr.
Ich sehe aber auch junge Menschen, die von ihrem Umfeld mit Nachhilfebatterien bestückt werden, um die Gymi-Prüfung zu bestehen.
Anderseits sind Akademikerinnen und Akademiker ein wichtiger Treiber von Forschung und Innovation. Neues Wissen zu schaffen, ist ein zentraler Rohstoff der Schweiz. Und es gibt durchaus Jugendliche, die gerne zur Schule gehen, wissenshungrig und am Gymnasium am richtigen Ort sind.
Ich sehe aber auch junge Menschen, die von ihrem Umfeld mit Nachhilfebatterien bestückt werden, um die Gymi-Prüfung zu bestehen. Doch damit ist es nicht getan: Es folgt ein harter, langer Weg bis zum Hochschulabschluss, der geprägt sein kann von Misserfolgen und Minderwertigkeitsgefühl. Das hindert diese jungen Menschen daran, einen gesunden Selbstwert zu entwickeln, der für die Entfaltung – auch des intellektuellen Potenzials – der Heranwachsenden so wichtig wäre.

Um in ihrer Entwicklung gestärkt zu werden, brauchen Jugendliche Freiräume und die Möglichkeit, selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können. Druck haben sie schon genug. Nicht alle Heranwachsenden haben beispielsweise die Pandemie gut verkraftet. Die sozialen Medien sind eine weitere Herausforderung. Kommt ein kaum erfüllbarer Leistungsdruck vom Umfeld dazu, kann dies junge Menschen überfordern.
Eltern, die selber den gymnasialen Weg durchlaufen haben oder aus einem Land stammen, wo die Berufsbildung in eine Sackgasse führt, fehlt vielleicht das Wissen über die Vorzüge des Schweizer Bildungssystems. Ich aber bin überzeugt: Wenn Eltern ihr Kind nicht auf das Gymnasium schicken, verbauen sie ihm nicht die Zukunft, sondern ermöglichen ihm womöglich erst dadurch eine zufriedene, selbstbestimmte und erfolgreiche Laufbahn. In meinen Augen ist das der Kern einer erfolgreichen Karriere.
Beitragsbild: Adobe Stock / Montage ETH Zürich
Ursula Renold ist Professorin für Bildungssysteme am Departement für Management, Technologie und Ökonomie an der ETH Zürich. Sie hat ihre berufliche Laufbahn mit einer kaufmännischen Lehre gestartet, weil sie als 15-Jährige keinen Bock auf Schule hatte.


“Anderseits sind Akademikerinnen und Akademiker ein wichtiger Treiber von Forschung und Innovation.”
Falsches Tempus.
Wer das Haar in der Suppe sucht verpasst die Suppe.
Liebe Ursula, ein guter und wichtiger Beitrag. Das “Hineinprügeln” ins Gymi durch die Eltern findet insbesondere in denjenigen Kantonen statt – allem voran in Zürich – wo eine Aufnahmeprüfung gemacht werden muss. Namhafte Bildungsfachleute ermahnen immer wieder, dass rund ein Drittel der Mittelschüler/innen überfordert ist und die Studierfähigkeit – um diese geht es ja bei der Matur – nicht erlangen wird. Die Folgen kennen wir. Der Alternativweg über die Berufsbildung mit all seinen Möglichkeiten ist hier der viel bessere und sinnvollere. Deine Stimme ist deshalb wichtig und müsste von den Erziehungsberechtigen gehört, aber auch verstanden werden.
Die Aussagen von Frau Renold sind weitsichtigen und kompetenten Personen schon länger klar. Trotzdem ein Danke für diesen Text, denn es gibt noch viele die das nicht ganz begriffen haben, leider auch noch einige Lehrpersonen. Dazu im wesentlichen vier Punkte:
1. Die universitäre Spitzenforschung der Schweiz ist Weltklasse. Dieser Weg muss für Jugendliche selbstverständlich offen stehen. Denn das heute in Forschung investierte Geld wird in 10 Jahren Arbeitsplätze schaffen. Zudem darf der universitäre Weg nicht gegen den über eine berufliche Grundbildung (Berufslehre) und umgekehrt ausgespielt werden.
2. Der Trend an weiterführende Schulen hält an. Auch weil Immigrant:innen, auch diese aus EU- und Schwellenländern, unser Bildungssystem ungenügend kennen. Und diese Bevölkerungsgruppe ist gewachsen. Und sie wollen, dass ihre Kinder studieren, weil aus ihrer Sicht die Lehre einen schlechten Ruf hat. Es müssen also auch alle Eltern über die Vorteile der Berufslehre besser informiert werden.
Die Chance des Jahrzehnts bietet sich dazu im kommenden Dezember: Der Nationalrat wird das Geschäft bezüglich der Titelzusätze ‚Professionell Bachelor‘ und ‚Professional Master‘ für die höheren Berufsbildungen BP (Berufsprüfung), HF (Höhere Fachschule) und HFP (Höhere Fachprüfung) behandeln. Diese Titelzusätze würden die berufliche Bildung aufwerten, weil diese damit international kompatibler und sichtbarer würden. Auch für die internationaler gewordenen CEO und HR-Fachleute, die eher Bachelors und Masters statt BP-, HF- und HFP-Mitarbeiter:innen anstellen, wäre das, zu Gunsten des berufsbildenden Weges, eine gute Sache.
Ich verstehe nicht, warum dieses Thema aktuell in den Medien nicht behandelt wird.
3. Jugendliche möchten letztlich einen Berufsweg, der gute Zukunftschancen hat. Das ist nachvollziehbar. Social Media gaukelt ihnen zudem schnellen Erfolg und Wohlstand vor. Dieser Wohlstand wird immer noch eher mit einem Hochschulstudium verbunden. Umso wichtiger sich zuverlässige Informationen für Eltern und Jugendliche bezüglich der Berufsbildung und deren Potenzial.
4. Und zu guter Letzt: Ob Studium oder Berufslehre plus qualifizierte Weiterbildung: Ohne Engagement geht es nicht.