Im Rahmen des HarmoS-Konkordats wurde festgelegt, nationale Bildungsziele für die obligatorische Schule zu entwickeln, einzuführen und regelmässig zu überprüfen. Diese Bildungsziele sind als Mindeststandards (Grundkompetenzen) formuliert und beschreiben, welche Kompetenzen praktisch alle Schülerinnen und Schüler in der Schulsprache, in den Fremdsprachen, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften bis zu einer bestimmten Schulstufe erreicht haben sollen. Die Zielerreichung jedoch, so zeigt es die zweite Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK), liegt in weiter Ferne – mit fatalen Folgen.


Die ÜGK 2023
Im Frühjahr 2023 wurde im 11. Schuljahr (Zählweise inkl. Kindergarten, d.h. in der 3. Sekundarklasse) mittels tabletbasierter Tests überprüft, inwieweit diese Grundkompetenzen erreicht werden. Getestet wurden in der Schulsprache die Bereiche Lesen und Orthografie, in den Fremdsprachen Lese- und Hörverstehen. Für das Lesen gelten nationale, für die Orthografie sprachregionale Ziele.
Die Relevanz des Lesens
Schulsprachliche Fähigkeiten sind eine zentrale Grundlage für erfolgreiches Lernen: Nur wer Texte versteht, kann sich lesend fachliches Wissen aneignen. Nur wer Fragen mit einem kohärenten, verständlichen und sprachlich passenden Text beantworten kann, macht sein Verstehen für andere sichtbar und beurteilbar.
Darüber hinaus ermöglicht sprachliche Bildung nicht nur die schulisch-berufliche Teilhabe, sondern auch die staatsbürgerliche und gesellschaftlich-kulturelle Mitwirkung. Ausreichend entwickelte literale Kompetenzen befähigen dazu, bewusst gestaltete Partei- und Abstimmungsinformationen zu verstehen, Nachrichten zu verfassen, sich über Freizeitangebote zu informieren, Anmeldeformulare auszufüllen etc.
Auch wenn der Erwerb dieser Fähigkeiten über die obligatorische Schulzeit hinausgeht, bildet das Erreichen der Grundkompetenzen am Ende der Volksschule die Grundlage für Ausbildung, Weiterbildung und Beruf sowie die Partizipation in der Gesellschaft und an demokratischen Prozessen.
Lesekompetenz und Aufgabenbeispiele
Grundkompetenzen im Lesen beruhen auf einem Modell, das verschiedene kognitive Prozesse berücksichtigt: Auf tiefer Ebene werden Buchstaben und Wörter erkannt, auf höherer Ebene Inhalte verdichtet, mit Vorwissen und Lesezielen verknüpft und zu einem Gesamtverständnis zusammengeführt. Dieses mündet in ein Situationsmodell – eine mentale Repräsentation des Textinhalts. Schülerinnen und Schüler, welche diese Grundkompetenzen erreichen, können Aufgaben wie die folgenden [1] in der Regel richtig lösen.



Ergebnisse ÜGK 2023 betreffend Baselland
83 % der Baselbieter Schülerinnen und Schüler erreichten die Grundkompetenz im Lesen in der Schulsprache Deutsch [2]. Was auf den ersten Blick womöglich nach einer soliden Quote klingen mag, ist bei genauerem Hinsehen besorgniserregend. Denn es sei wiederholt: Diese Kompetenzen sollten von praktisch allen Schülerinnen und Schülern erreicht werden. Wie die Aufgabenbeispiele verdeutlichen, wird dabei wahrlich nichts sprachlich Anspruchsvolles von den Jugendlichen verlangt.
Anders gesagt: In einer Klasse mit 24 Schülerinnen und Schülern sitzen vier Jugendliche, die am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht über die notwendigen basalen Grundlagen im Lesen verfügen. Ihnen fehlt das sprachliche Fundament für ein erfolgreiches Vorankommen resp. die Möglichkeit der Teilhabe in beruflicher wie gesellschaftlicher Hinsicht.
Die Ergebnisse nach Leistungszügen
Aufgeschlüsselt nach Leistungszügen wird das wahre Ausmass der Problematik noch deutlicher. Ganze 15 % der Jugendlichen im Leistungszug E erreichen die Grundkompetenzen im Lesen nicht. Das darf nicht sein.
Geradezu erschütternd ist die Lage im Leistungszug A: Dort verfehlt fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler die geforderten Mindeststandards. Das politische Ziel, dass bis zum 25. Lebensjahr 95 % aller jungen Menschen im Land einen Abschluss auf der Sekundarstufe II erlangen sollen, wirkt vor diesem Hintergrund Lichtjahre entfernt.
Gesellschaft und schulische Reformen
Das ausserschulische Lesen hat einen schweren Stand. Die «Konkurrenz» in der Freizeit von Kindern und Jugendlichen ist durch Smartphones, Social Media und eine boomende, höchst innovative Gaming-Industrie immer stärker und verlockender geworden. Auch viele Erziehungsberechtigte hängen vor den Augen ihrer Kinder permanent am Handy; in zahlreichen Familien wird nicht mehr vorgelesen, sondern der Nachwuchs von klein auf mit Tablets ruhiggestellt. Hinzu kommt eine konstant wachsende Population von Schülerinnen und Schülern fremder Muttersprache.
In dieser gesamtgesellschaftlich prekärer werdenden Situation wurde die Volksschule in den vergangenen 15 Jahren durch Reformen umgepflügt. Zu den einschneidendsten gehören die Integrative Schule, die Frühfremdsprachen und der Lehrplan 21.
Die Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts und der überfrachtete Lehrplan 21 haben dazu geführt, dass gerade auf der Primarstufe die Zeit fehlt, um sich vorrangig der Kompetenzentwicklung in der Schulsprache Deutsch widmen zu können. Dass die laufende Debatte über eine allfällige (Rück-)Verschiebung des Startzeitpunkts des Fremdsprachenunterrichts selbst von einer Bundesrätin mit dystopischen Abgesängen auf die nationale Identität garniert wird, ist Ausdruck einer irrlichternden Bildungspolitik, wie sie sich seit der Jahrtausendwende präsentiert.
Wäre dies der Fall, müssten wir seit der Einführung der Integrativen Schule eigentlich ein beständiges Anwachsen des durchschnittlichen schulischen Könnens und der Abschlussquote auf der Sekundarstufe II erleben.
Die Apolegeten der Integrativen Schule ihrerseits hatten vor deren Implementierung dahingehend argumentiert, ihr Modell käme restlos allen Beteiligten zugute: den schwächeren, den mittelmässigen und den starken Schülerinnen und Schülern. Wäre dies der Fall, müssten wir seit der Einführung der Integrativen Schule eigentlich ein beständiges Anwachsen des durchschnittlichen schulischen Könnens und der Abschlussquote auf der Sekundarstufe II erleben.
Leider ist das Gegenteil der Fall. Ob PISA, Checks oder ÜGK – die Leistungen sinken oder stagnieren auf unbefriedigendem Niveau. Was die Frage nach sich zieht: Wann und wie soll eigentlich jemals die Zielerreichung der Integrativen Schule systematisch erhoben werden?


ÜGK Orthografie – Ist das alles?
Obwohl die Erhebung den klingenden Titel «Überprüfung der Grundkompetenzen» trägt, werden im Bereich Orthografie lediglich drei Dimensionen des expliziten Regelwissens überprüft: Gross- und Kleinschreibung, regelorientierte Wortschreibung und Kommasetzung. Doch was wird in den entsprechenden Aufgaben dabei überhaupt konkret untersucht?
Im Bereich der Gross- und Kleinschreibung umfassen die Aufgaben konkrete und abstrakte Nomen, Nomen mit typischen Suffixen wie «-heit» oder «-keit» sowie Nominalisierungen von Verben und Adjektiven. Originalbeispiel: Gross oder klein? Dieser Streich/streich hat uns in eine Schwierige/schwierige Lage gebracht.
Bei der «regelorientierten Wortschreibung» stehen die ie-Schreibung, die e-/ä-Schreibung sowie die Doppelkonsonantenschreibung im Fokus. Originalbeispiel: e oder ä? Ziemlich blauäugig/blaueugig haben wir uns der Gefahr ausgesetzt/ausgesätzt.
Die Kommasetzung wird in Reihungen mit und ohne «und» bzw. «oder» sowie zwischen Haupt- und Nebensätzen getestet. Auf Fälle fakultativer Kommasetzung wird bewusst verzichtet. Originalbeispiel: Wir müssen _ uns ziemlich beeilen _ wenn wir den Anschlusszug _ nicht verpassen wollen.
Wenn von den Jugendlichen derart wenig verlangt wird, gibt es keinen Grund, auf die Quote von 87 % stolz zu sein.
Die Leserinnen und Leser erkennen schnell: Selbst geschrieben werden muss dabei nichts. Und bei den ersten beiden Originalbeispielen liegt die Trefferquote dank binärem Ausschlussverfahren stets bei 50 % – selbst bei Menschen, die noch überhaupt nie mit der deutschen Sprache in Berührung gekommen sind.
Wenn von den Jugendlichen derart wenig verlangt wird, gibt es keinen Grund, auf die Quote von 87 % stolz zu sein. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob diese «Überprüfung» überhaupt einen validen Rückschluss auf die tatsächlichen Rechtschreibfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler am Ende der Sekundarstufe I zulässt. Der Blick auf die drei Leistungszüge lässt auch hier aufschrecken:
Während in den Leistungszügen E und P davon gesprochen werden kann, dass die meisten Schülerinnen und Schüler die «Grundkompetenzen» in der Orthografie erreichen (mit Verlaub: wenn nicht bei diesem Schwierigkeitsgrad, wann dann?), zeigt sich im Leistungszug A erneut ein alarmierendes Bild: Den erhobenen Daten gemäss erreichen dort fast 40 % die orthografischen Grundkompetenzen nicht.

Orthografie und Lesekompetenz hängen zusammen
Es erstaunt nicht, dass die «Verfehl-Quoten» im Leistungszug A betreffend Lesen (44 %) und Orthografie (38 %) ähnlich gross sind. Schliesslich hat das Beherrschen der Orthografie einen direkten Einfluss auf das Lesetempo und dieses wiederum auf das Leseverständnis (und auch die Freude am Lesen).
Oder wie es Afra Sturm von «Zentrum Lesen» an der FHNW formuliert: «Wer Mühe hat mit dem Entziffern und sich oft verliest, kann sich nicht auf den Sinn des Geschriebenen konzentrieren. […] Man kann sich nicht mehr an den Anfang des Satzes erinnern, weil das Lesen zu lange gedauert hat.» [3] Und wer bei jedem dritten Wort das Schriftbild (den Signifikanten) nicht mit der damit verbundenen Vorstellung (dem Signifikat) in Einklang zu bringen vermag, kann das erforderliche Lesetempo unmöglich aufbauen.


Der grosse Sprachzerfall
Wessen orthografische Kenntnisse und Lesefähigkeiten am Ende der obligatorischen Schulzeit noch immer unterhalb der ÜGK-Anforderungen liegen, ist von funktionalem Analphabetismus betroffen oder zumindest davon bedroht. Sieht man sich die erschreckenden Prozentzahlen an, müsste eine verantwortungsbewusste Bildungspolitik der Abhilfe dieses Zustandes alles andere unterordnen.
Die Lehr- und Lernforscherin Esther Ziegler, die an der ETH Zürich doktoriert hat, bringt es im Interview auf den Punkt: «Es ist […] eine Tatsache, dass das Leistungsniveau in den Schulen in den letzten dreissig Jahren gesunken ist. Damals konnte ein durchschnittliches Kind am Ende der Primarschule [4] fliessend lesen und schreiben. […] Ich treffe […] oft auf Viertklässler, die wie Zweitklässler schreiben. Sie machen die grundlegendsten Fehler. […] Es wird zu wenig geübt, vieles bleibt an der Oberfläche. Dazu kommt, dass sich die Schule mit der Integration aller zu sehr an den Schwachen orientiert. Die ganz Starken brauchen weniger Wiederholung, da ist es weniger problematisch – aber das breite Mittelfeld geht so vergessen.» [5]
Und weiter sagt sie: «Das Problem ist der Geist, der an den pädagogischen Hochschulen vorherrscht: Man soll […] weniger vorzeigen und erklären. Auch korrigieren ist ein Stück weit verpönt. Stattdessen sollten die Kinder selbstorganisiert arbeiten, in ihrem Tempo. Das führt dazu, dass sie ihre Aufgaben mit ihren Banknachbarn lösen. Vieles läuft über Abschreiben. Kinder wollen nicht unbedingt lernen, sondern ihre Aufgaben schnell erledigen. Aus der Hirnforschung aber weiss man, dass Lernen systematisch aufgebaut und repetitiv erfolgen muss. Kinder brauchen Anleitung, Üben, Korrektur.»
Amen.
[1] Die Beispiele sind entnommen: Domenico Angelone (Hrsg.), Testentwicklung und Skalierung ÜGK/COFO/VECOF 2023, Sprachen 11. Schuljahr, Technischer Bericht
[2] Die dazugehörige Grafik auf S. 28 wie auch die nachfolgenden sind entnommen aus: Andrea B. Erzinger, Domenico Angelone, Franziska M. Locher, Oliver Prosperi, Miriam Salvisberg, Martin J. Tomasik (Hrsg.), Nationaler Bericht zu der Überprüfung des Erreichens der Grundkompetenzen (ÜGK) 2023, Sprachen 11. Schuljahr: ein Beitrag zum Schweizer Bildungsmonitoring
[3] Raphael Brunner: Wer lesen will, braucht Tempo, Beobachter 7/2020
[4] Man beachte: am Ende der Primarschule, nicht am Ende der Sekundarschule!
[6] René Donzé: «Das Leistungsniveau ist gesunken», NZZ am Sonntag, 25.08.2024
Dieser Artikel erschien zuerst in der Septemberausgabe des «lvb inform», der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB:
Septemberausgabe 2025: https://lvb.ch/lvbinform/ausgabe/2025-2026-01/


Seinerzeit wurde immer wieder betont, dass man Korrekturen am Fremdsprachenkonzept nach erfolgten Evaluationen nötigenfalls tätigen werde. Immer wieder wurde auf die nächste Testserie vertröstet. In der Zwischenzeit liegen so viele Daten vor, dass eigentlich dringend gehandelt werden müsste. Doch Fehlanzeige: Die Politiker wollen das Konzept unter gar keinen Umständen ändern. Früher gemachte Versprechen sind längst vergessen.