5. Dezember 2025
Jokertage im Parlament - eine Lesereaktion

Jokertage – wieso nicht in der Berufslehre?

Der Leser Hans-Peter Köhli aus Zürich wollte eine Gleichstellung von Gymnasiasten und Lehrlingen in der Frage der Jokertage. Er versuchte es mit einer Einzelinitiative und unterlag. Nun macht er seinem Ärger in einem Schreiben Luft.

Sehr eindrücklich finde ich den kürzlich erschienenen Blog-Beitrag über den Preis der endlosen Bildungsexpansion in Deutschland. Zwei von drei Schulabgängern wollen studieren? Eine unglaubliche Konstellation, und man fragt sich, ob so etwas auch in der Schweiz möglich werden könnte.

Das ist nicht eine leere Behauptung; von meinen sieben Enkelkindern besuchten drei das Gymnasium und vier absolvierten eine Berufslehre, was die Ausbildungen und deren Drum und Dran gut vergleichen liess.

Meine Antwort: leider ja. Diese Begründung stützt sich auf folgendes Erlebnis: Im Kanton Zürich besteht für Stimmberechtigte die Möglichkeit, eine Einzelinitiative zu irgendeinem Thema einzureichen. Diese muss vom Rat innert sechs Monaten auf die Traktandenliste gesetzt werden, und dann wird darüber abgestimmt, ob man sie vorläufig unterstützen wolle zwecks späterer weiterer Behandlung durch Rat und Regierung. Erforderlich für das Überwinden dieser ersten Hürde sind 60 Stimmen von Kantonsratsmitgliedern. Weil vor rund zehn Jahren an der Volksschule Jokertage eingeführt worden waren, forderte eine Einzelinititative aus Gymnasialkreisen, man möge auch an den Mittelschulen diese zwei Tage pro Jahr gewähren. Prompt genehmigte das der Kantonsrat, was ich jedoch gegenüber den Lernenden in Berufslehren als höchst ungerecht empfand, denn die Mittelschüler sind sonst schon punkto Ferien und anderen Vorteilen bestens bedient. Das ist nicht eine leere Behauptung; von meinen sieben Enkelkindern besuchten drei das Gymnasium und vier absolvierten eine Berufslehre, was die Ausbildungen und deren Drum und Dran gut vergleichen liess.

Ich reichte deshalb meinerseits 2018 eine Einzelinitiative ein mit dem Begehren, die zwei Tage auch den Lernenden in Berufslehren zu bewilligen (Mit der Einzelinitiative hat eine einzelne stimmberechtigte Person die Möglichkeit, ein Anliegen in den Kantonsrat zu bringen. Findet die Initiative keine 60 Unterstützenden im Kantonsrat, ist sie gescheitert. Anm. der Redaktion). Die Eingabe scheiterte; sie kam nicht auf die erforderlichen 60 Stimmen und stiess nur auf der linken Ratsseite auf Verständnis. Offenbar war die Zeit für eine Gleichbehandlung aller Jugendlichen noch nicht reif.

In den folgenden Jahren gab es jedoch immer mehr Stimmen, welche langsam einsahen, dass die Berufslehren attraktiver gemacht werden müssen. Es erschienen zum Teil flammende Appelle, welche Wirtschaft und Bildungsinstitutionen dringend aufforderten, mehr für die Lernenden in Berufen zu tun. Ich startete deshalb anfangs des laufenden Jahres 2025 eine Wiedererwägung und benützte zum zweiten Mal das Instrument der EI, um den Jokertagen in Berufslehren doch noch zur Einführung zu verhelfen mit der Begründung, wenigstens dieses kleine Zeichen der Wertschätzung wäre nun wirklich  überfällig.

So setzte ich mich mit den Fraktionspräsidenten von SVP und FDP in Verbindung und stiess dort auf grosses Wohlwollen – entscheiden werde man allerdings in den Fraktionssitzungen.

Ich blieb vor der Abstimmung im Kantonsrat diesmal allerdings nicht untätig. Es galt, auch die rechte Seite ins Boot zu holen. So setzte ich mich mit den Fraktionspräsidenten von SVP und FDP in Verbindung und stiess dort auf grosses Wohlwollen – entscheiden werde man allerdings in den Fraktionssitzungen. Ebenso wusste ich von einzelnen bürgerlichen Ratsmitgliedern, dass sie die Dinge sahen wie ich, und ein Trumpf war noch der Zürcher Stadtrat Leutenegger. Er sicherte mir Unterstützung zu, sei absolut meiner Meinung und werde versuchen, die FDP-Kantonsräte ebenfalls von der Richtigkeit der EI zu überzeugen.

Bei der Abstimmung gab es 52 Pro-Stimmen, sämtliche von links, und damit war der Vorstoss knapp gescheitert.

Ich wohnte der Behandlung des Traktandums im Kantonsrat bei. Zu Wort meldeten sich lediglich zwei Mitglieder von GP und AL, sie befürworteten die Initiative. Rechts blieb alles stumm. Bei der Abstimmung gab es 52 Pro-Stimmen, sämtliche von links, und damit war der Vorstoss knapp gescheitert. Mein Fazit besteht aus drei Teilen:

Was ist mit der Attraktivität der Berufslehre?

Erstens: ich war natürlich verärgert und stocksauer. Es ist und bleibt eine riesengrosse Ungerechtigkeit, dass die Jugendlichen an Mittelschulen gegenüber den Lernenden in Berufen bevorzugt behandelt werden. Es ist mir ebenso unverständlich, dass man in Volk und Rat die drohende Gefahr nicht einsieht: wie im Nachbarland werden bald kaum mehr Handwerker zu finden sein, welche nur schon die einfachsten Arbeiten ausführen können. Scheinheilig wurde allenthalben von Förderung der Berufslehre gesprochen, und nun, als es draufan kam, ist von den grossartigen Bekenntnissen nur noch Schall und Rauch übrig geblieben.

Zweitens: gut möglich, dass sich die zustimmenden Linkskreise jetzt mit Recht die Lancierung einer entsprechenden Volksinitiative überlegen. Eine solche hätte garantiert allergrösste Chancen, angenommen zu werden – und wäre eine saftige Schlappe für die bürgerliche Ratsseite.

Drittens: Pfui! Jawohl pfui! Es ist zutiefst beschämend, dass in den übrigen Fraktionen nicht ein einziges Mitglied den Mut hatte, nach seinem Gewissen zu stimmen. Sicher: bei Anliegen, bei denen es um die Fundamente der entsprechenden Parteiausrichtung geht, kann ich begreifen, dass man geschlossen einer gefassten Parole folgt. Bei anderen Geschäften jedoch, wie eben zum Beispiel der Frage dieser Jokertage, sollte jedes Mitglied frei sein und entsprechend seiner Überzeugung handeln. Ich weiss genau, dass an diesem Montag eine Reihe Leute sozusagen gegen sich selber agierten und ihr Gewissen im Schliessfach deponierten. Bleibt mir nur noch, am Schluss die unangenehme Frage zu stellen, wie ich mich selber wohl als Kantonsratsmitglied verhalten hätte. Wäre ich tatsächlich auch bei diesen Feiglingen gewesen? Ich hoffe nicht, und trotzdem macht es mich nachdenklich, dass Leuten, denen ich dies nie zugemutet hätte, ebenfalls das Rückgrat fehlte. Was meint wohl bei denen der Spiegel, in den sie jeden Morgen schauen?

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