26. Juli 2025
in Gedenken an Peter Bichsel, 1935-2025 [1]

Ein Test ist ein Test

Peter Bichsels Tod veranlasste Roger von Wartburg dazu, Bichsels Kurzgeschichten wieder einmal zu lesen. Resultat: «Ein Test ist ein Test» – statt «Ein Tisch ist ein Tisch». Wir präsentieren Ihnen eine geniale Adaption einer unerhört aktuellen Kurzgeschichte des Altmeisters.

Ich will von einem alten Lehrer erzählen, von einem Lehrer, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen Stadt, am Ende der Strasse oder nahe der Kreuzung. 

Im obersten Stock des Hauses hat er seine Wohnung. In seinem Arbeitszimmer sind zwei Stühle, ein Pult, ein Teppich, ein Sessel und ein Bücherregal. Auf einem Stuhl liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen eine Uhr und ein Bild.

Roger Von Wartburg, Sekundarlehrer, Vorstandsmitglied des lvb.

Der alte Lehrer machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends sass er an seinem Pult. 

Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Pult sass, hörte er die Uhr ticken, immer die Uhr ticken.

Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiss, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielten – und das Besondere war, dass das alles dem Lehrer plötzlich gefiel.

Er lächelte.

«Jetzt wird sich alles ändern», dachte er.

Er öffnete den obersten Hemdknopf, beschleunigte seinen Gang, wippte sogar beim Gehen in den Knien und freute sich. Er kam in seine Strasse, nickte den Kindern zu, ging vor sein Haus, stieg die Treppe hoch, nahm die Schlüssel aus der Tasche und schloss seine Wohnung auf.

Aber in dem Arbeitszimmer war alles gleich, ein Pult, zwei Stühle, ein Sessel. Und wie er sich hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert.

Peter Bichsel, Schriftsteller, 1935 – 2025.

Und den Lehrer überkam eine grosse Wut. 

Er sah im Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die Augen zukniff; dann verkrampfte er seine Hände zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die Pultplatte, erst nur einen Schlag, dann noch einen, und dann begann er auf dem Pult zu trommeln und schrie dazu immer wieder:

«Es muss sich ändern, es muss sich ändern!»

Und er hörte die Uhr nicht mehr. Dann begannen seine Hände zu schmerzen, seine Stimme versagte, dann hörte er die Uhr wieder, und nichts änderte sich.

«Immer dasselbe Pult», sagte der Lehrer, «dieselben Stühle, der Sessel, das Bild. Und dem Pult sage ich Pult, dem Bild sage ich Bild, der Sessel heisst Sessel, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich? Die Franzosen sagen dem Sessel «fotöi», dem Pult «püpitr», nennen das Bild «tablo» und den Stuhl «schäs», und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch.

«Weshalb heisst der Sessel nicht Bild?», dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und «Ruhe» riefen.

«Jetzt ändert es sich», rief er und sagte von nun an dem Sessel «Bild». 

«Ich möchte mich hinsetzen, ich will auf das Bild», sagte er, und blieb oft lange im Bild sitzen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl «Uhr».

Eine höchst aktuelle Parabel.

Er stand also auf und setzte sich auf die Uhr und stütze die Arme auf das Pult. Aber das Pult hiess jetzt nicht mehr Pult, es hiess jetzt Teppich.

Er überlegte, wem er wie sagen könnte.

Dem Sessel sagte er Bild.
Dem Stuhl sagte er Uhr.
Dem Pult sagte er Teppich.
Der Zeitung sagte er Sessel.
Der Uhr sagte er Bücherregal.
Dem Bild sagte er Zeitung.
Dem Bücherregal sagte er Fotoalbum.
Dem Teppich sagte er Stuhl.
Und dem Fotoalbum sagte er Pult.

Der Lehrer fand es lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Lehrer mehr, sondern ein Fuss, und der Fuss war ein Morgen und der Abend ein Lehrer.

Also: Abends blieb der alte Lehrer lange im Bild sitzen, er hörte das Bücherregal ticken, er stellte sich auf den Stuhl, damit er nicht an die Füsse fror, setzte sich dann auf die Uhr an den Teppich und blätterte den Sessel durch. 

Der Lehrer fand es lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Lehrer mehr, sondern ein Fuss, und der Fuss war ein Morgen und der Abend ein Lehrer.

Jetzt könnt ihr die Geschichte selbst weiterschreiben. Und dann könnt ihr, so wie es der Mann auch machte, auch die anderen Wörter austauschen:
ticken heisst stellen,
frieren heisst schauen,
sitzen heisst ticken,
stehen heisst frieren,
stellen heisst blättern.

So dass es dann heisst:
Am Lehrer blieb der alte Fuss lange im Bild ticken, er fror auf und blätterte sich auf den Stuhl, damit er nicht an die Morgen schaute.

Der alte Lehrer besass noch blaue Schulhefte aus früheren Zeiten und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Strasse.

Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergass dabei die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz alleine gehörte.

Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin.

Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast vergessen, und er musste die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er musste lange nachdenken, wie die Leute zu den Dingen sagen. 

Seinem Test hatten sie summative Lernstandserhebung gesagt.
Seiner Korrektur hatten sie Defizitorientierung gesagt.

Und plötzlich fiel ihm ein, dass die Leute schon viel früher als er damit angefangen hatten, die Dinge umzubenennen. Er erinnerte sich wieder an die letzten Jahre seines Berufslebens.

Seinem Test hatten sie summative Lernstandserhebung gesagt.
Seiner Korrektur hatten sie Defizitorientierung gesagt.
Seiner Übung hatten sie Drill gesagt.
Seiner Stoffvermittlung hatten sie Kompetenzentwicklung gesagt.
Seiner Manipulation hatten sie Change Management gesagt.
Seinem Elterngespräch hatten sie Austausch auf Augenhöhe gesagt.
Seinem Unterrichtsaufbau hatten sie Lernarrangement gesagt.
Seinen Noten hatten sie Fremdevaluationsergebnisse gesagt.
Seinem leistungsschwach hatten sie bildungsfern gesagt.
Seiner Strukturierung hatten sie Rezepthaftigkeit gesagt.
Seinen Schreibtischtätern hatten sie Bildungsexperten gesagt.
Seiner Leistungsdifferenzierung hatten sie Inklusionsverweigerung gesagt.
Seiner Ordnung hatten sie Classroom Management gesagt.
Seiner Unterweisung hatten sie Lehrerzentriertheit gesagt.
Seinem Seminar hatten sie Hochschule gesagt.
Seinem unanständig hatten sie verhaltensoriginell gesagt.
Seinem Arbeitsblatt hatten sie Lernangebot gesagt.
Seiner Disziplin hatten sie Autoritarismus gesagt.
Seiner Rückmeldung hatten sie Feedback gesagt.
Seiner Reformindustrie hatten sie evidenzbasierte Forschung gesagt.
Seiner Fortbildung hatten sie individuelle Potenzialentfaltung gesagt.
Seinem Lehrer hatten sie Lehrperson gesagt.
Seiner Lehrerin hatten sie auch Lehrperson gesagt.

Dem Lehrer fiel ein, wie er hatte lachen müssen, wenn er die Leute über Schule hatte reden hören. Wenn er hörte, wie jemand sagte: «Die evidenzbasierte Forschung der Bildungsexperten besagt, dass Lehrerzentriertheit und Drill eine nachteilige Wirkung erzeugen, deshalb solltest du eine umfangreiche individuelle Potenzialentfaltung an einer Hochschule absolvieren, um den Ansprüchen des Change Managements zu genügen.»

Doch nun, mit seiner vollkommen neuen Sprache, ging es so weit, dass er lachen musste, wann immer er die Leute reden hörte, ganz egal, worüber sie sprachen. Er musste lachen, weil er all das nicht verstand.

Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf.

Der alte Lehrer konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm.

Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen.

Und deshalb sagte er nichts mehr.

Er schwieg,
sprach nur noch mit sich selbst,
grüsste nicht einmal mehr.

 

[1] Peter Bichsel, Ein Tisch ist ein Tisch, in: Kindergeschichten, Neuwied und Berlin, 1969

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3 Kommentare

  1. Lieber Roger
    “Geniale Adaption” ist die perfekte Umschreibung deines Werks. Halte die Ohren steif, wir schaffen das! 🙂
    LG
    Felix

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